LYCANTHROPIE
auch du ein Fellchen
auch du ein Hündchen
auch du ein Mörderlein
auch du ein Krallchen
auch du ein Zähnchen
auch du ein Fresserlein
auch du ein Quellchen
auch du ein Kügelchen
auch du ein Silberling
auch du ein Wolf
Anderes verfolgt uns seit Jahren und hat doch keine rechte Form. Manchmal wundern wir uns, wie sie uns gefunden haben: unsere Ängste (auch die Monster, Ghule, Mitmenschen darin). Die Monster Poems sind ein Besuch im Zelt der Freak Show, in dem sie alle versammelt sind: alte Filmstars, neue Sternchen, die Besucher, manches seltsame Gefühl, einige Verfolger und (beinahe) liebenswerte Wesen.
Das Unbeschreibliche beschreibt Nora Gomringer mit Texten, zu denen Reimar Limmer Illustrationen gestaltet hat. Es sind also zwei am Werk gewesen, die auszogen, das Fürchten zu lernen. Das Schweigen bricht Nora Gomringer auf der beigelegten CD.
Voland & Quist, Klappentext, 2013
Hier der Link zur offiziellen Website der Monster Poems mit Leseproben und Videos.
Nora Gomringer mit ein paar Hintergrundinformationen zu ihrem illustrierten Gedichtband Monster Poems.
– Auch Du ein Zähnchen: Die Lyrikerin Nora Gomringer lässt in ihrem neuen Gedichtband allerlei Drachen, Vampire, Riesenameisen, Haie und Mumien zu einer Monsterparade auflaufen. –
Wenn Außerirdische uns einst besuchen, „voller Neugier auf den kleinen Geist, / der auch im Weltall ein lautes Tonband von sich reden lässt“, dann könnten diese Gäste sehr verwundert sein. Darüber nämlich, dass die Sender der Tonbotschaft, die vor Friedensappellen und guten Absichten geradezu dröhnt, „dort, wo sie denn wohnen, / ganz das Gegenteil betreiben“.
Den Blick des staunenden Aliens auf die zerstörerische Menschheit, der zu einem Topos der Science-Fiction-Literatur geworden ist, eignet sich auch die Lyrikerin Nora Gomringer in ihrem Gedicht „Sandmänner“ an, welches „die Spezies Mensch als Blender aller Welten“ entlarvt. Man kann dieses Gedicht als Schlüssel zu dem Band mit dem Titel Monster Poems verstehen, in dem es nur vordergründig um die großen Ungetüme aus Literatur, Film und Populärkultur geht, die unser kollektives Bewusstsein bevölkern: All die Drachen und Vampire, Riesenameisen und Riesenaffen, Haie und Mumien, laufen darin zu einer regelrechten Monsterparade auf.
Ein sehr klug gewähltes Motto aus Shakespeares Sturm gibt allerdings schon ein Indiz für das, worauf die Dichterin eigentlich hinaus will:
Hell is empty, and all the devils are here
Nora Gomringer sucht das Monster im Menschen, und sie wird schnell fündig. „Auch Du ein Krallchen / Auch Du ein Zähnchen / Auch Du ein Wolf“, heißt es in dem Gedicht „Lycanthropie“. Folgerichtig wird dann in einer kühnen Aktualisierung des Rotkäppchen-Stoffes der Wolf zum bösen Mann, der vor jungen Mädchen die Hose öffnet und sagt: „Fass hinein“. Zur Überraschung des Lesers erhält aber auch die Großmutter hier eine ganz neue Rolle: Sie bringt dem Rotkäppchen auf einem Schießstand im Wald das Nötige bei, um das Biest abzuknallen.
Gomringers zentrale ästhetische Technik ist die Überblendung von realen und fiktiven Menschenmonstern, etwa des „Todesarztes“ Josef Mengele und der Horrorfilmfigur Freddy Krueger. Dazu liefert der Band mit den Illustrationen von Reimar Limmer auch gespenstische Bebilderung, die in diesem Fall Mengele im blutbefleckten Kittel und Kruegers Eisenklaue über eine schlafende Schöne collagiert.
Nicht so schnell vergessen wird man auch Limmers Collage zu der so abwegigen wie ulkigen Phantasie des Prosagedichtes mit dem Titel „P“, der sowohl für „Psycho“ als auch für „Plath“ stehen könnte: Darin verwebt Gomringer die traurige Lebensgeschichte der amerikanischen Dichterin Sylvia Plath mit jener des Frauenmörders Norman Bates aus Hitchcocks Horrorfilm und lässt die beiden zusammen wohnen, bis Sylvia die Scheidung einreicht. Das endet wie folgt:
Sylvia weint und schreibt. Norman zieht in ein großes Haus am anderen Ende des Landes.
Während in diesen Gedichten die tierischen Monster mitunter fast mitleidserregend dargestellt werden – der weiße Hai etwa ist ein Sensibelchen, das sich nicht mehr für Menschen auf Luftmatratzen interessiert und es zudem leid ist, für Fotos stets so grimmig dreinzuschauen –, gehen sie mit den Zweibeinern viel schonungsloser ins Gericht. Selbst das vermeintlich noch unschuldigste Menschenkind wird hier, im Geiste des radikalen Empirismus, zum unbekannten Wesen in der Wiege:
Das Baby erhält einen Namen,
wenn es eindeutig blau oder rosa geworden ist.
Dann erst lohnen sich die Verurteilung des Storches, der Griff unters Kohlblatt,
die vollen neun Monate Ungewißheit:
Fisch oder Vogel
Die Kälte solcher Monsterlyrik spürt man umso deutlicher, wenn man ihren Vortrag auf der beigelegten CD aus dem Munde der Dichterin selbst vernimmt.
– Die Hölle ist leer, die Teufel sind hier: Nora Gomringer schreibt Monster Poems über eine ungeheure Gegenwart. –
Niemand unter den jungen Dichterinnen schreibt so gewitzt wie Nora Gomringer über menschliche Abgründe und alltägliche Ängste. Gomringer zelebriert kein Sprachspiel um der Formen willen, wie man es von der Tochter des Urahnen der konkreten Poesie, Eugen Gomringer, vielleicht erwarten könnte. Es geht ihr um nichts Geringeres als die Schöpfung und den Menschen darin, um seine Körperlichkeit und sein Sprechen über Glück und Unglück, Verlust und Sehnsucht. Hell scheint das klare Wort auf dunklem Grund, Shakespeare als Motto:
Hell is empty
and the devils are here.
Da tanzen uralte und neue Teufel zu Michael Jacksons „Thriller“. Oder lugen sie mit W.G. Sebald aus den „Schrecken der Kindheit“? Schaudernd gerät das lesende und hörende Publikum in den Sog des Unheimlichen.
Nora Gomringers fünfter Gedichtband bannt sie alle: Vampir und Werwolf, das Jungfrauen verschlingende Schlangenbiest Evatar, Godzilla und King Kong, den irren Duschkabinenmörder Norman Bates aus Hitchcocks Psycho und den Weißen Hai. Der Grafiker Reimar Limmer hat Wortbilder aus den Versen ins Optische übertragen. Seine Collagen korrespondieren mit den Texten, ergänzen und verstärken deren Magie. Selten bilden Wort und Illustration solch eine perfekte Einheit wie hier. Der Horror kommt als leichtfüßiger Spaß, als Rätsel und mörderischer Hauch. Oder er poltert, dass die Ohren dröhnen. Ein Knall – und schon ist der Mensch ein genmanipuliertes Wesen, riesengroß mutiert wie einst das Insekt Formicula. Die Sandmänner aus dem All jedenfalls markieren die angeblich friedliche Spezies Mensch als Lügner und Blender. Was auf den ersten Blick komisch erscheint, entpuppt sich als tödliche Falle. Lieblich lächelt das japanische Blumenmädchen, während Filmmonster Godzilla es längst ins Auge gefasst hat.
Nora Gomringer hat die unheimlichen Gestalten ihrer Monsterschau aus Literatur, Film, Popkultur, Werbung und Zeitgeschichte gezogen und de-monstriert sie dem schaudernden Publikum, zeigt sie aus ungewohnten Perspektiven. Nein, nicht Josef Fritzl, sondern seine Tochter Elisabeth, die er 24 Jahre lang gefangen hielt und missbrauchte, wird sichtbar in einem seltsam zerbrochen Spiegel. Verraten die Scherben Gleichmut bis zur Versteinerung oder unantastbare menschliche Würde? Elisabeth rettet sich in eine Welt jenseits der Wirklichkeit.
Oft lassen die Gedichte mehre Deutungen zu, darunter die schlimmste wie auch die tröstlichste. Die Verse urteilen oder verdammen nicht, sie beschreiben, was ist oder sein könnte. Während sich der Text entfaltet, geschieht etwas zwischen den Tätern und Opfern. Manchmal verliert das Opfer seine Identität und wird selbst zum Monster. Rotkäppchen, der Gewalt des Wolfs wie der des Jägers ausgeliefert, greift zur Knarre. Manchmal verschmelzen geschichtlich reale Figuren wie der NS-„Arzt“ Josef Mengele und die fiktive Figur des Freddy Krüger aus der amerikanischen Filmreihe A Nightmare on Elm Street. Mörder im Dienste einer pervertierten Wissenschaft.
Werden ungeheuerliche Verbrechen begreifbarer, wenn sie im Motiv des Wiedergängers aufgehoben scheinen? Die Dichterin betreibt ein gewagtes Unternehmen. Was die Vorstellungskraft übersteigt oder der Verstand nicht wahrhaben will, bricht sich als personifiziertes Tabu Bahn. Nora Gomringer befreit die Monster aus dem Käfig der Sprachlosigkeit. Sie leiht ihre Stimme den Ausgelieferten, Verbitterten, den Träumenden. Auf der CD hört man sie Rollenspiele inszenieren. Sie flüstert. Sie klingt empört, zärtlich, entschieden, ironisch, unwirsch, höhnisch. Sie spielt sie mit amerikanischem, mexikanischem und rumänischem Akzent. Rumänisch? Aber ja, der älteste Vampir kommt aus den Karpaten!
Immer fragt die Monsterbändigerin nach dem Verhältnis von Mensch und Natur und nach dem, was den Menschen zum Menschen macht. Jeder lyrische Dressurakt ist auf andere Weise spannend und unterhaltsam. Monster, weiß die Autorin, kommen nicht aus dem Nichts. Sie sind Teil des Menschseins oder werden von Menschen gemacht. So grotesk der aus Körperteilen zusammengesetzte „Sohn“ Frankensteins auch erscheint, das größere Monster ist sein Schöpfer ohne Mitgefühl oder Seele. Das altmodische Wort erwähnt die Autorin nicht, aber es scheint allgegenwärtig.
Die „Geschöpften“ bleiben unvollkommen. Zur Unfertigkeit verdammt ist auch der Golem des Rabbi Löw – nie zu verwirklichende Utopie des Wahren, Reinen und Gerechten. Da kommt Gomringer ganz nachdenklich daher. Besonders turbulent aber wirbelt sie durch ihren schier unerschöpflichen Monstervorrat aus dem Familienalltag. Was zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern unter dem Deckmantel der Norm geschieht, wird als falscher Schein entlarvt. Statt des Neugeborenen liegt ein Krokodil im Kinderwagen. „Fisch oder Vogel Es ist immer / Ein Ding der Unmöglichkeit“, heißt es im Gedicht „Baby“.
Der Bruch zwischen Generationen kommt als tatsächlich zerbrochener Kinderleib ins Bild. Missbrauch, Manipulation, der Mensch als Objekt. Wären die Ungeheuer nicht aus Kunst und Kultur gegriffen, wähnte man sie geradewegs dem Musterbuch psychopathologischer Befunde entsprungen. Die Dichterin holt die Monster aus dem Keller des Unbewussten ans Licht. Ihr Tanz geht – nicht zuletzt wegen der aberwitzigen Effekte – unter die Haut.
– Nora Gomringer ist der Star unter den jungen deutschen Dichtern. Ihr neuester Gedichtband Monster Poems erhielt prompt einen Preis. Auch ihre Art, Gedichte vorzutragen ist anders – und sorgt für Aufsehen. –
Wenn Nora Gomringer Lyrik vorträgt, dann wird aus Literatur Unterhaltung pur: Sie stampft, flüstert, brüllt und haucht die Worte. Die Zuschauer lauschen nicht angestrengt mit krauser Stirn, vielmehr angeregt und belustigt. So auch an diesem Abend: Die junge Dichterin sitzt am Tisch, neben ihr der Komponist Franz Tröger. Zusammen bringen sie Lyrik zu Gehör: mit Spieluhr, Trillerpfeife und Flöte. Zwischendurch verteilen sie Marshmallows ans Publikum.
Es ist ein lyrischer Abend im Arp Museum Bahnhof Rolandseck in Remagen. Hier trägt Nora Gomringer den Vers vor:
Weißt Du, schwarzt Du
Es ist nicht ihr eigenes Gedicht, sondern eines von Hans Arp, der besser bekannt ist als Maler und Bildhauer des Dadaismus. Auch Gomringer kennt Arp bislang eher als bildenden Künstler.
Das ganze lyrische Werk ist ziemlich neu für mich. Ich schaue mir das mit Spannung an und bin ein bisschen irritiert. Aber irritiert zu sein ist immer gut.
Nora Gomringer irritiert selber sehr gern. Ihre Auftritte sind eher Performance als Lesung. Dafür bezieht sie mitunter Schelte.
Dass man einen Text vom Blatt hebt und ihn mündlich macht, das ist für viele schon ein Affront. Wir in Deutschland haben eine bestimmte, sehr starke Rezeptionskultur und bestimmte Vorlieben im Ohr und wir reagieren dann stark auf Abweichungen von Normen, die wir uns überlegt haben.
Dichterin zu werden, das hat sich die 33-Jährige mit deutscher und schweizerischer Staatsangehörigkeit lange und reiflich überlegt. Denn sie tritt in große Fußstapfen: Ihr Vater ist Eugen Gomringer, einer der wichtigsten Vertreter der deutschsprachigen Lyrik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und Mitbegründer der sogenannten Konkreten Poesie.
„Ich habe es mit Töpfern und anderen Ausdrucksformen versucht. Aber ich wusste ziemlich bestimmt, dass Sprache das Arbeitsfeld ist, auf dem ich mich gerne umtun würde“, schildert sie den Prozess der Entscheidungsfindung. Das den Eltern zu gestehen, sei gar nicht so einfach gewesen. Nicht wegen der Eltern, sondern weil es ihr selbst unangenehm war.
Ich hatte gehofft, meinem ersten Wunsch zuzuneigen, nämlich Medizin zu studieren, ,was Richtiges‘ zu machen.
Ihre Eltern hingegen hätten gelassen reagiert.
Das war gut so, denn die Liste der Literaturpreise ist lang, die Nora Gomringer in ihrem noch jungen Dichterleben gewonnen hat. Über die jüngste Auszeichnung, den Poesiepreis des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft, hat sie sich sehr gefreut. Begründung der Jury: Gomringers neuer Zyklus Monster Poems sei das Ergebnis des Suchens und Findens des Menschlichen, das nie ganz beendet und immer auch zum Schmunzeln sei.
Und was sagt Nora Gomringer über Nora Gomringers Werk?
Es war für mich schon immer kindliche Faszination, aber auch das Bewusstsein: Wir sind doch alle etwas monströs in dem, wie wir handeln und was wir tun, mit welcher Größe wir wirken wollen.
Der Band handelt von 25 Monstern, etliche Gedichte sind auf der beiliegenden CD zu hören, es gibt viele Illustrationen.
Ich habe ein Zitat vorgestellt aus dem Roman Austerlitz von W.G. Sebald: „Genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind.“
Es gebe aber auch eine leichte, eine unterhaltsame Facette der Monster Poems:
Nämlich eine popkulturelle Auseinandersetzung mit dem, was uns umgibt: Wir mögen Monster. Wir vergöttern Monster!
Im Alltagsjargon verwende man ja schließlich die Bezeichnung Monster als Anerkennung.
Monströs ist etwas Großes, Fantastisches, etwas außerhalb der Ordnung.
Auf die Frage nach ihrem liebsten Gedicht nennt sie „Monster und Mädchen“. Ein kleiner Text, ein Wortspiel, das zeige, wie man von einem Wesen zum anderen werde: vom Mädchen zum Monster.
Nora Gomringer dichtet aber nicht nur in deutscher Sprache, sondern auch in Englisch. Zu den USA hat sie ein besonderes Verhältnis: Sie ist dort aufgewachsen, hat die High School abgeschlossen, war am 11. September 2001 in New York. Die Erinnerungen habe sie in zwei Texten verarbeitet. Der eine heißt „Souvenir“.
In der Tat habe ich mir ein seltsames Souvenir mitgebracht aus diesen Wirren. Ich habe eine schwere Autoimmunerkrankung bekommen nach dem Schock und dem zu lange im Blut enthaltenen Adrenalin. Diese Krankheit hat mich lange begleitet, aber jetzt ist sie gebannt.
Doch abhalten konnte sie die Dichterin nicht von den vielen, vielen Lesereisen und Auslandsstipendien. Gerade erst ist sie von einer Reise zum Internationalen Poesiefestival in Argentinien zurückgekehrt.
Seit gut drei Jahren ist Nora Gomringer künstlerische Leiterin der Villa Concordia in Bamberg, sozusagen Dichterin und Herbergsmutter..
Ich nenne mich allerdings lieber ,Gastgeberin‘.
Der Freistaat Bayern lädt in jedem Jahr zwölf Künstler aus den Sparten Musik, bildende Kunst und Literatur zu einem Stipendium ein. Knapp ein Jahr leben und arbeiten sie in Bamberg unter einem Dach, immer mit einem anderen geografischen Schwerpunkt:
Das ist von Jahr zu Jahr unterschiedlich. Es waren schon chinesische, portugiesische, isländische Gäste da.
Vor rund einem Monat sind die mehrheitlich russischen Künstler angereist. Kein Wunder, dass in Bamberg jede Menge Arbeit auf sie wartet. Zudem es gibt eine lange Liste von Terminen: Lesungen, auf denen Nora Gomringer Monströses zum Besten geben wird.
Sie kam aus der Slam-Szene, fand in einer stimmlich-klanglich orientierten Poesie die Richtung ihrer Dichtung und wurde 2011 als bisher jüngste Preisträgerin mit dem Jacob-Grimm-Preis geehrt: Mit der Magie ihrer Stimme lässt Nora Gomringer aufhorchen, klinge sie nun mädchenhaft hell, fragil oder schnippisch. Nuanciert zitiert sie distinkte Register und lässt in tieferen Lagen einen erdigen Blues erahnen. Wie wenig der Stimmklang wirkungssicherer Selbstzweck ist, sondern beim Schreiben den „Versuch zu klingen“ inspiriert, erweist ihr eben mit CD erschienener sechster Gedichtband. Der 25 Texte umfassende Zyklus von Monster Poems kartografiert allerlei Unwesen, von mythischen Typen wie Dracula bis hin zu Hollywood-Kreaturen wie King Kong oder dem Weissen Hai. Wobei offenbleibt, wer monströser sei, die Homunkuli, Golems und Mutanten oder deren Schöpfer, die Frankensteins, Wagners und Gen-Ingenieure dieser Welt. Die Dichterin verschränkt popkulturelle Meme mit Mythen und Märchen, wobei Hinweise auf menschliche Monster aus den Chroniken der Gewalt rekurrieren. So evoziert Böcklins „Toteninsel“ plötzlich die norwegische Insel Utöya („Versionen“), werden Dorian Gray und Midas („Golden Boy“) ebenso enggeführt wie der irre Killer aus Psycho und das Schicksal der Dichterin Sylvia Plath („P“). Die Texte sind von einem Faden der Reflexion und Exposition von Herrschaft und Gewalt durchwirkt, ohne dass dies pathetisch anmuten würde. Wo die Monster, wie schon Augustinus wusste, mitten unter den Menschen wohnen, kodifiziert der grosse böse Wolf des Märchens bestehende männliche Machtverhältnisse („Jäger“). Vielleicht aber, wird im Eingangsgedicht avisiert, ist alles ganz anders und es sei Weiblichkeit in einer „Man’s Man’s Man’s World“ das eigentlich Monströse („Monster & Mädchen“). In virtuosem Vortrag verschmitzt intoniert, geben die Gedichte erst peu à peu die ihnen eingewobenen Monstermuster zu erkennen: der Hörer darf diese aufspüren, muss aber nicht.
bevölkern Nora Gomringers neue Gedichte, Figuren und Szenerien aus Filmen und Videoclips und aus den dunklen Kammern unserer kollektiven Angstlust. Manchmal lässig, manchmal leidenschaftlich rufen die Texte sie aus ihrem Halbdunkel. Sie tun das wie immer bei dieser Autorin nicht nur im gedruckten, sondern mehr noch im gesprochenen Text: Buch und Audio-CD gehören unbedingt zusammen. Und weil die Monster nicht nur gehört und gelesen, sondern auch gesehen werden müssen, hat Reimar Limmer die Gedichte auch noch mit wilden Collagen illustriert – Lyrik zum Anschauen, Lesen und Hören.
M. Boss: Nora Gomringer: Monster Poems (Buch + CD)
blackmagazin.com
Michael Kurzmeier: Gruselkabinett der Popkultur
literaturkritik.de, Oktober 2013
Dominik Achtermeier: Monster Poems von Nora Gomringer
rezensöhnchen, 15.1.2016
Martin A. Hainz: De-Monstration..?
fixpoetry.com, 21.5.2013
Jamal Tuschick: Lass dich berühren
Frankfurter Rundschau, 25.3.2013
Johannes Lohmaier: Nora Gomringer über reelle und erdachte Monster
Fränkischer Tag, 8.5.2013
Jan Wiele: Die Hölle ist leer und alle Teufel sind hier
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.9.2013
Nora Gomringer liest in der alten schmiede wien aus Monster – Morbus –Moden und Gottesanbieterin. Moderation: Jana Volkmann
Katja Auer und Olaf Przybilla im Gespräch mit Nora Gomringer: „Die Kennedys von Wurlitz“
Nora Gomringer im Gespräch mit Franziska Wotzinger: Ohne Körper keine Stimme
Nora Gomringer im E-Mail-Interview mit Isabel Bogdan
Georg Langenhorst: Quecksilbrig, kraftstrotzend, katholisch: Nora Gomringer, eine Schriftstellerin im Zeitalter der Postmoderne
Jana Wagner spricht mit Nora Gomringer: „Ich habe kein Talent für Alltag“
Literarische Spiele mit Normalität. Mit Nora Gomringer und Holger Schulze, Moderation: Katja Kullmann im Literaturforum im Brecht-Haus am 21.4.2021
Nora Gomringer – One Day – Ein Tag Spurensuche in der Lyrik-Bibliothek
Nora Gomringer slamt ihr „Ursprungsalphabet“.
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