Nora Iuga: Gefährliche Launen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Nora Iuga: Gefährliche Launen

Iuga-Gefährliche Launen

AB UND ZU WAR DIENSTAG

wie kannst du noch existieren
wenn dir der himmel entzweigeschnitten wird
und seine ränder sich gegenüberstehen
wie verfeindete armeen
schreiben will ich jetzt
solange das hirn noch blutet
dieser kugelschreiber ist gott ebenbürtig
ich will nicht warten
bis sich die schwebstoffe abgesetzt haben
nicht warten
bis ich mich darüber erheben kann
den vorgeschriebenen abstand erreiche
wo man die katastrophe besser überblicken kann
und was übrig geblieben
ich bin eine elende schachtel aus pappkarton
aus der man die schuhe genommen
und deren deckel man wieder geschlossen hat
von irgendwo kommt ein unbekannter
der will mir die messer billiger verkaufen
ich betaste meine halsschlagader
und spüre eine unwiderstehliche neigung
ein mädchen tatsächlich ein mädchen
war jenes weiße gespenst
ein ektoplasma das am telephon sprach
dann schlug mir der tag ins gesicht
als das telephon verschwand
mit den nummern und allem drum und dran
sich im wald versteckte
zwischen den roten pilzen
wie alarmsignale
die wirklichkeit ist mir zerrissen
ein pferdekopf kommt darunter hervor
der allein und ohne jockey rennt
und seine runde zu ende bringt
sei pflichtbewußt
vernachlässige auch deinen schmerz
damit du deine verpflichtungen erfüllen kannst
ab und zu war dienstag
ab und zu war mittwoch
dann stieg das quecksilber im thermometer
gerne hätte ich etwas perverses gemacht
meine worte einem mann ins ohr geträufelt
bis zum orgasmus
aber alles was einmal möglich war
ist nun ein großer verbrannter fleck
auf dem kissenüberzug
nachdem du mit brennender zigarette eingeschlafen warst
wenn ich alleine bleibe
wie jene katze die von niemandem gesehen
ihr blut unter den bäumen verliert
habe ich den vorzug einer ausgezeichneten demütigung
eine zerbrochene fensterscheibe
auf die jemand pergamentpapier geklebt hat
ich rauche rauche wie eine irre
habe meine risiken wiedergefunden
bin jünger als ein weidenzweig
an palmsonntag
sehe die wahrheit sehe die blumenvase
in der das wasser verdunstet ist
ich müßte mir die lider schmücken
die wangen
eine spröde tüte mit ein paar krümeln
paprikapulver auf dem boden
ich müßte mich mit einigen alten herren treffen
meinen durst an ihrem dürren sommer stillen
die schatten kommen wie fremde nachthemden
die schatten kommen wie schwarze züge
rechts und links des gleisbettes
junge tote             ihre gleichgültigkeit
wischt jedes versprechen beiseite
jetzt da es keine alternative mehr gibt
der ring seinen stein verloren hat
greife ich zu keinem gedichtband mehr
reizt es mich nicht einmal mehr
einen vers zu klauen
das ist mein hochmut
mit ihm decke ich mich zu
ich bin der betonmast
steif und kalt
durch den der strom fließt
ohne berührung

 

 

Nora Iuga liest auf der Frankfurter Buchmesse am 18.10.2015 und Ernest Wichner seine deutsche Übersetzung.

 

Der späte Triumph der Nora Iuga 

ZU NORA ZU GELANGEN, war sehr schwierig. Man nahm einen Trolley-Bus, und der fuhr einen schaukelnd durch die unbeleuchteten Straßen des 80er Jahre Bukarest. Nach einer Reise von etwa einer Stunde durch die eiskalte winterliche Abenddämmerung, die an Geschäften mit leeren Schaufenstern vorbei führte, an verrosteten Blechkiosken und Gruppen hungriger Hunde, wurde man plötzlich an einem hoffnungslosen, fernen und öden Ort ausgespuckt, der von einer aschgrauen Zementfabrik beherrscht wurde. Man war um Ende der Welt. In der Ferne konnte man vor einem schmutzig gelben Himmel die Silhouetten der Arbeiterwohnblocks sehen mit Balkonen voll steif gefrorener Wäsche auf den Leinen. Dann folgte man einem labyrinthischen Weg zwischen identischen, depressiven Gebäuden, die – wie in einer Antiutopie – einer absurden Nummerierung folgten. Angst und Verzweiflung stiegen mit der Gewalt einer Psychose in einem auf; bei jedem Schritt und bei jedem Knurren eines in der Kanalisation hausenden Tieres erschauderte man, und war man endlich angekommen, so packte einen das Gefühl des Florentiner Dichters, der im Chaos des achten Höllenkreises plötzlich die Sterne erblickt.
IN IHRER WOHNUNG war alles anders.Es gab Bücherwände, Kunstgegenstände, Nora und ihr Mann George Almosnino waren da, und es gab Kaffee. Und weitere Freunde und passionierte Literaturliebhaber. Zu unseren Begegnungen kam häufig auch ihre Quartiersnachbarin, die unvergeßliche Mariana Marin, die wie eine wahre Dichterin gelebt hat und so auch gestorben ist. Von einem Augenblick auf den anderen vergaßen wir die unglückseligen Zustände draußen, die Diktatur, Hunger und Kälte, die ewige Bedrohung durch die „Securitate“, und verloren uns in unendlichen kulturellen Diskussionen. Alle lebten wir in der Poesie, in einer Atmosphäre der inneren Freiheit, die man heute, da wir tatsächlich frei sind, nirgends mehr antrifft. Leidenschaftlich diskutierten wir die jeweils zuletzt gelesenen Bücher, oftmals verwandelten sich unsere Begegnungen in Literaturkreise, und man kann wohl sagen, daß wir ein paar Stunden lang vollkommen glücklich waren, befreit von den schrecklichen Zeiten, in denen uns zu leben gegeben war. So haben wir rumänischen Schriftsteller damals überlebt: indem wir unsere Wohnungen in kulturelle Noah-Archen verwandelten und mit unseren Gedichten, mit unseren Ideen und Hoffnungen von einem zum anderen Freund zogen.
NORA WAR DAMALS eine ebenso diskrete wie beeindruckende Erscheinung. Wir jungen Dichter lasen sie leidenschaftlich gerne. Wir wußten, was sie wegen ihrer literarischen Ideen schon zu erleiden gehabt hatte. Ein Jahrzehnt zuvor hatte sie zur Bewegung der Oniriker gehört, die den Versuch unternommen hatte, den Surrealismus in der rumänischen Literatur wiederzubeleben. Als die Gruppe der Oniriker zerschlagen wurde, man hatte sie für subversiv gehalten, sind Nora Iugas Bücher verboten worden, und die Dichterin konnte beinahe ein Jahrzehnt lang nicht mehr veröffentlichen. So daß sie um das Jahr 1980 herum noch einmal debütieren mußte, zu einer Zeit, da eine neue Dichtergeneration, der auch ich angehörte, den Versuch unternahm, das Erscheinungsbild dieser Kunst zu verändern, sie zu modernisieren und vollständig der Kontrolle durch die kommunistische Macht zu entziehen. Nora Iuga war trotz des Generationsunterschieds eine von uns, und hierin liegt das Geheimnis dieser wunderbaren Dichterin: in ihrer Kraft, als Frau und Schriftstellerin immerzu jung zu bleiben, mit den aufeinander folgenden Schüben der rumänischen Poesie stets auf gleicher Wellenlänge zu bleiben. Auch heute wieder betrachten die jüngsten Dichter sie als eine der ihren.
ICH ERINNERE MICH noch sehr gut daran, mit welcher Freude ich die „Achtziger“-Bücher von Nora gelesen habe; sie waren Schulter an Schulter mit den damals jungen Dichtern geschrieben worden und trotzdem ihrer Substanz nach ganz anders: Ansichten über den Schmerz und Das Herz wie eine Boxerfaust. In dieser Dichtung fand ich eine Stütze, sie kam dem geradezu organischen Bedürfnis jeder Generation nach, Vorläufer zu finden und – falls nötig – zu erfinden. Jedes dieser Gedichte war ein kleiner Palast der Angst, eines hellsichtigen und inspirierten Wahns, jedes hatte das Vermögen, die Gesten und die Gegenstände eines lächerlich gewordenen Lebens zu illuminieren. Jedes schrie mit seiner je eigenen Stimme und widersetzte sich verzweifelt der Hoffnungslosigkeit in der uns umgebenden äußeren Welt. Vor dem Hintergrund der primitiven Blödigkeit und der „Direktiven“ offizieller Kunst konnte man sich schwerlich freiere Gedichte vorstellen, Gedichte, die herausfordernder gewesen wären oder ästhetisch raffinierter. Ihr Expressionismus, ihre Redlichkeit und vor allem die Tatsache, daß sie ganz und gar unabhängig waren von irgendwelchen Standards und Moden, machten sie für uns, die wir eben erst begonnen hatten, die strenge und betäubende Luft der Poesie zu atmen, extrem anziehend.
DIES WAR DAS ZWEITE poetische Leben der Nora Iuga, nachdem das erste nach Gefangen im Kreis, ihrem 1970 verbotenen Band, brutal unterbrochen worden war. In den achtziger Jahren war Nora Iuga zweifellos keine sehr sichtbare Dichterin der „mainstream“-Literatur. Wie viele andere Dichter der 70er Jahre, etwa Virgil Mazilescu, Daniel Turcea, Angela Marinescu oder Florin Mugur, befand sie sich im Schatten, was sich als sehr viel fruchtbarer erwies als das Licht des Erfolgs, das alles welken läßt. Sie war eine „Underground“-Poetin, von der nur wenige etwas wußten, und ich bin um so glücklicher, daß wir uns in jener finsteren Epoche als Menschen und Autoren kennengelernt und die reine, interesselose Liebe für die Poesie geteilt haben.
ALLERDINGS HÄTTEN SICH DAMALS nur wenige vorstellen können, daß Nora sehr bald ein drittes Leben in der Literatur erleben würde, von ferne gesehen das mit der größten Strahlkraft, gleich nachdem sich das politische Regime in Rumänien geändert, die Literatur sich befreit hatte, und alle Zensur verschwunden war. Während die Mehrheit der rumänischen Schriftsteller, die sich vor 1989 (dem Jahr der rumänischen Revolution) durchgesetzt hatten, sich vom Verschwinden des „gemeinsamen Feinds“ und angesichts des neuen Kontextes eines wilden, spezifisch osteuropäischen Kapitalismus, als komplett desorientiert erwiesen, viele sogar überhaupt nicht mehr schreiben konnten, hat Nora Iuga bewiesen, daß sie über einen ganz außergewöhnlichen Fundus an vitalen und künstlerischen Ressourcen verfügt. Seit fünfzehn Jahren ist sie eine der aktivsten Personen der literarischen Szene Rumäniens, es ist, als verfügte sie über die Gabe der Ubiquität ebenso wie über die Berufung zum affektiven Mäzenat gegenüber den Jüngeren. Ich habe sie bei verschiedenen Gelegenheiten aus eigenen Texten lesen gehört; eine Stimme mit einer ganz eigenen Tiefe, unverwechselbar. Ich bin ihr häufig im deutschsprachigen Raum begegnet, wo sie in den Genuß einiger Stipendien kam, und traf sie bei den Bukarester Buchmessen. Das letzte Mal begegnete ich ihr im Zug nach Wien in Begleitung der vielversprechendsten jungen rumänischen Dichter, die sie selbst für Lesungen in der großen Hauptstadt Mitteleuropas ausgewählt hatte.
DIE ÜBERSETZERIN NORA IUGA war im neuen Kontext bald eine Institution geworden, eine Werte-Vermittlerin zwischen dem deutschen und dem rumänischen Raum. Ihr verdanken wir es, daß es heute auch in rumänischer Sprache Autoren vom Range des gestorbenen Oskar Pastior gibt, Herta Müller, Aglaja Veteranyi, Rolf Bossert und Ernest Wichner, um nicht von den Nobelpreisträgern Günter Grass und Elfriede Jelinek zu sprechen oder von den Klassikern E.T.A. Hoffmann und Paul Celan.
IN DEN ACHTZIGER JAHREN und bis heute ist die Dichterin Nora Iuga immer deutlicher sichtbar geworden. Sie gehört zu den seltenen und glücklichen Autoren, die von Mal zu Mal besser schreiben, die ihren literarischen Ruf mühsam aber stetig erworben haben. Im Jahre 1993 veröffentlichte sie den kleinen Roman Die Seife des Leopold Bloom, der meine Aufmerksamkeit erregte, weil er all das vorführte, was zu den typischen Eigenschaften der Prosa von Nora Iuga werden sollte: der offene, von frappierender Aufrichtigkeit geprägte Charakter des Textes, die schier Joyce’sche Präzision der minutiösen Beschreibungen, der ungezwungene intuitive Stil, fernab aller Inszeniertheit der stilistischen Effekte. Dieser Frische sollte ich in ihren neueren Texten, dem eindringlichen und zugleich zärtlichen erotischen Roman Die Sechzigjährige und der junge Mann wieder begegnen, der Motiven aus Lieben Sie Brahms? nachgebildet ist, und in der beunruhigenden Prosa Der Schwan mit zwei Eingängen. Nora Iugas Prosa präludiert die immer stärker hervortretende erotische Tendenz der rumänischen Gegenwartsliteratur. Ihr gelingt eine radikale Enttabuisierung der Sexualität; dabei vermeidet sie mit ihrem untrüglichen Instinkt – im Unterschied zu einigen der jungen Autoren – in die Obszönitätsfalle zu tappen.
DIE GEDICHTE DER NORA IUGA, von denen hier nun eine substantielle Auswahl in der Übersetzung von Ernest Wichner erscheint, sind schwer auf einen Begriff zu bringen, denn sie haben ihren Ort am Zusammenfluß mehrerer Richtungen gegenwärtigen Dichtens, ohne letztlich einer dieser Richtungen verpflichtet zu sein. Ihre Formel tritt in den zuletzt erschienenen Bänden Gefährliche Launen, Spital der Mannequins und Der Autobus mit den Buckligen am deutlichsten hervor, da sich die Poesie in eine paradoxale und vollkommen antiklassizistische Klassizität begibt.
SCHON BEI EINER ERSTEN LEKTÜRE läßt sich ihr unsentimentaler, nicht-„femininer“ Charakter erkennen. Keinerlei Süßlichkeiten, keinerlei Krücken zum besseren Verständnis. Jedes Gedicht ist eine rätselhafte Statue auf einem leeren Platz. Aber die Statue einer kruden Göttin, die kompromißlos die ihr zustehenden Opfergaben einfordert:

was für ein abenteuer abends
aus deinem glas zu trinken
und deine gedanken zu erraten 

was für ein abenteuer morgens
mit geschlossenen augen die fingernägel zu schneiden
samt den fingern und mit allem drum und dran

DIE SINNLICHKEIT, die alle ihre Texte durchzieht, ist die des mit heftigster Intensität Gelebten der Sprichwörter aus der Hölle von William Blake; eine masochistische Intensität, die zwischen Genuß und Leiden bei lebendigem Leib nicht mehr unterscheidet:

ich höre die mondsonate der welt
und treibe mir einen nagel durch die handfläche
zu spüren was jesus gespürt hat
so verschwindet aus meinem ohr die schönheit
und kehrt verzehnfacht in mein fleisch zurück

Hier begibt Nora Iugas Dichtung sich in Abgründe und pendelt zwischen Artistik und Körperlichkeit – was sie letztlich in der reinen Geometrie einer minimalen Sprechformel zu verbinden weiß.
EINE WEITERE EIGENHEIT dieser Dichtung ist das Biographisch-Bekenntnishafte, das im Band Spital der Mannequins in Verbitterung umschlägt. Hier kündigt die Dichterin die objektiven Wechselwirkungen auf, von denen Eliot gesprochen hatte, und überläßt sich einer schmerzhaften Subjektivität, die bis in die letzte Konsequenz hinein angenommen wird. Die Texte werden nun – ungewöhnlich für ihre Poesie – lang, dramatisiert, die Sprache wird roh und zerrissen; finstere Hoffnungslosigkeit tritt an die Stelle früherer Hermetik:

ach poesie
schocktherapie
wenn nichts mehr hilft

Die enigmatischen Gegenstände werden hier durch Wörter ersetzt, die nach einem Leib streben und lieben möchten:

gerne hätte ich eine perversität begangen
einem mann meine worte ins ohr gestreut
bis zum orgasmus

Die aktive und beherrschende Wollust, Poesie zu „ejakulieren“, situiert Nora Iuga unter die „virilen“, die anti-lyrischen Dichterinnen, die seit zwei Jahrzehnten die weibliche Poesie in Rumänien bestimmen.
DOCH JENSEITS ALL DER AKADEMISMEN solcher Klassifizierungen bleibt Nora schlicht Nora, eine Person, ein lebendes Emblem. Wie viele von uns Jüngeren verfügen heute über ihre Energie und ihren Optimismus? Wie viele von uns werden von allen Generationen geliebt und gelesen? Wie viele hatten die Großzügigkeit, gleich jahrgangsweise jungen Leuten zu helfen, Seite an Seite mit ihnen zu leben und zu schreiben – mit den Autoren der achtziger Jahre, der neunziger und der zweitausender ebenso; wie viele konnten das Talent dort suchen und finden, wo es sich gerade aufhielt: in den Sternen oder im Morast? Vor allem aber zu einer Zeit, da die Buchkultur und die damit verbundene Zivilisation aus allen Richtungen von jener des Geldes und der Technologie untergraben zu werden scheint: wie viele gibt es da von uns, die den erhaben-lächerlichen Mythos der Poesie mit dem schlichten und hingebungsvollen Zutrauen Nora Iugas weiterzutragen vermögen?
IN FÜNFUNDZWANZIG DEM SCHREIBEN gewidmeten Jahren habe ich eine lange Strecke aus dem Arbeiterghetto in Bukarest, in dem ich geboren wurde, bis in dieses barocke Wunderding von Schloß Solitude bei Stuttgart zurückgelegt, wo ich nun diese Zeilen schreibe. Eine lange Wegstrecke war Nora Iuga mir eine liebe Freundin und künstlerisches Vorbild. Ihr später Triumph in der Poesie wie im Leben, nach langer kompromißlos zugebrachter Zeit der Finsternis, ist der Triumph ihrer Hingabe an eine Kunst, die immer schon in der Agonie lag, eine Kunst für wenige und stets weniger, die jedoch zu allen Zeiten am Leben gehalten wurde durch Menschen wie Nora Iuga.

Mircea Cărtărescu, Nachwort

 

Zum ersten Mal

versammelt der Band in deutscher Sprache eine von der Autorin zusammengestellte Auswahl aus ihrem lyrischen Lebenswerk.
„Ich schreibe, damit ich nicht denke. Schreibe, um nicht zu weinen. Schreibe, damit es nicht weh tut.“
Nora Iugas Lyrik ist von einer zeitlosen Frische, weil sie sich immer ganz dicht an den Menschen heftet: an seine Körperlichkeit, seine Begierden. Wie kaum eine Autorin stellt sie sich in ihren Texten auch dem eigenen Altern und ihren erotischen Sehnsüchten.
In ihrem umfangreichen Lebenswerk finden sich staccatohaft, fast auf einen Sinnspruch zusammengeschnurrte Kurzgedichte ebenso wie ausgreifende Prosadichtungen. Treu geblieben ist sie sich vom ersten Gedichtband Ist nicht meine Schuld von 1968 in der Unmittelbarkeit ihrer Sprache und der Eindrücklichkeit ihrer Bilder. In aller Klarheit feiert sie das Krumme, das Unangepasste; eine „grande dame“ der europäischen Poesie und gleichzeitig eine verschmitzte Rebellin, in einem Wort: eine Entdeckung, nicht nur für Lyrikleser.

Klett-Cotta Verlag, Ankündigung

 

 

Die schönen und gefährlichen Launen der Poesie 

Wenn eine ältere Dame erklärt, sie habe ein schönes Leben gehabt, müssen wir nicht gleich aufmerken. Es ist aber die große alte Dame der rumänischen Poesie, die das erklärt, und zwar in allen Variationen: 

Mein Leben war sehr schön. Ich hatte ein schönes Leben. Ich hatte ein sehr schönes Leben. Ja, ja, ich hatte ein sehr schönes Leben.

Neunmal erscheint das Motiv in ihrem Selbstporträt – analog zur Neunzahl der Musen. Nora Iuga weiß, daß die Dichter lügen, um die Wahrheit zu sagen. Auch sie beschwört den Gott, der ihr zu sagen gibt, was sie leidet. Doch am meisten schätzt sie die Ironie. Ironie wies ihr den Weg über die halsbrecherischen Hintertreppen der Geschichte.
Natürlich ist Nora Iuga zu wissend, zu kultiviert und genußfähig, um uns mit der bloßen Umkehrung des Bildes vom glücklichen Leben abzuspeisen. 1931 in Bukarest geboren, wuchs sie in eine k.u.k. Melange mit serbischen, ungarischen und deutschen Vorfahren hinein. Die Eltern – der Vater war Musiker, die Mutter Ballerina – nahmen die fünfjährige Nora mit auf eine zweijährige Tournee durch Deutschland, Belgien und die Niederlande. Die Zwölfjährige schrieb ihre ersten Gedichte, und nach dem Germanistikstudium in ihrer Heimatstadt schien sich für Nora eine glänzende literarische Karriere anzubahnen. 1968 debütierte sie mit dem Band Es ist nicht meine Schuld. Doch schon zwei Jahre später, bei Erscheinen ihres zweiten Buches, „ging die Harmonika wieder zu“ – setzte die kulturelle Repression wieder ein. Der Titel Gefangen im Kreis erhielt eine unvorhergesehene bittere Wahrheit. Man warf der Poetin „morbiden Erotismus“ vor, und sie durfte acht Jahre nicht veröffentlichen.
Als die Harmonika sich wieder öffnete, mußte Nora Iuga gleichsam noch einmal debütieren. Für Ansichten über den Schmerz (1980) – immerhin ein provokanter Titel – erhielt sie den Preis des rumänischen Schriftstellerverbandes. Erst spät, mit Sechzig, konnte sie ins westliche Ausland reisen: nach Wien, nach Kärnten und nach Budapest, das ihr als die verheißene Neue Welt erschien. Über all die Jahre freilich mußte die Freiheit zu publizieren oder zu schweigen mit täglicher Brotarbeit erkauft werden: mit Tätigkeiten als Deutschlehrerin, als Redakteurin, Bibliographin und Lektorin, vor allem als Übersetzerin. Nora Iuga übersetzte an die dreißig Bücher aus dem Deutschen, darunter von Ernst Jünger und Günter Grass, Thomas Bernhard und Hans Joachim Schädlich, Elfriede Jelinek und Herta Müller.
Ein schönes Leben, ein sehr schönes gar? Ein normales Leben, befindet sie am Schluß ihres Selbstporträts. Nora Iuga sieht sich als die unauffällige Bewohnerin einer Blockwohnung am Rande von Bukarest: 

Die Nachbarn grüßen mich, weil sie mich mitunter im Fernseher sehn, wo ich Hüte anprobiere und Gedichte lese, die gut klingen, aber leider unverständlich sind.

Apropos Hüte – unter einem überaus eleganten Exemplar blickt uns die Dichterin groß und doch mit leiser Skepsis an. Skepsis jedenfalls gilt dem Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihr macht. „Im Ausland“, sagt sie, „bin ich angesehener als im eigenen Land. Die Rumänen mögen keine Originalität.“
Und die Deutschen? Im deutschen Sprachraum hat Nora Iuga des öfteren gelesen, und ihre Vermittlung deutscher Kultur ist erst kürzlich mit dem Gundolf-Preis ausgezeichnet worden. Doch ihre Lyrik ist bei uns noch nicht wirklich präsent. Zwar liegt in der Edition Solitude ein Bändchen mit tragikomischen Farcen vor, Der Autobus mit den Buckligen. Aber erst die eben erschienene Auswahl aus ihrem Gesamtwerk könnte das Blatt wenden und sollte Nora Iuga die Beachtung sichern, die sie verdient. Gefährliche Launen bringt Gedichte aus fast fünfzig Jahren, den Extrakt eines Lebenswerks. Der Übersetzer Ernest Wichner, selbst Lyriker von Profession, hat Äquivalente geschaffen, die sich als deutsche Gedichte lesen.
Von Anfang an ist Nora Iugas Lyrik unkonventionell und risikofreudig. Sie liebt surreale Märchen. So schickt sie ihr weißes Kamel in die Himmelsdünen, doch sie warnt ihren Herrn Kontrabaß vor dem Mädchen am See, das schon den Stein um den Hals hat. Man schreibt das Jahr 1968, doch Iugas Phantasie will keineswegs leicht und kostenlos an die Macht. Die Repression klopft an die Tür. Die Dichterin weiß: 

Wir können uns morgen
selbst um den Preis eines Dichters
keine Grille mehr leisten.

In der Ceauşescu-Zeit überwintert die subversive Phantasie. Da ist Nora Iuga, mit dem Titel eines ihrer späteren Bände, Die Nachtdaktylographin. Sie nimmt auf, was böse Erinnerung und böse Gegenwart ihr eingeben. Sie spricht von Häusern mit Fenstern, die Übles vorhersagen, von Grammophonen mit Trichtern, „die kilometerlanges Schweigen verschlucken“. Sie schreibt Verse, die auch gewagte Motive nicht scheuen: 

im geöffneten koffer
(den ich verbergen will)
ist mein geschlecht zu sehen
gelb und weich wie eine kamelschnauze.

Das ist erotische Konterbande, unbezähmbare Absage an jegliche Repression.
Nora Iuga steht in der Tradition eines Surrealismus, der – anders als der französische – nicht mit dem Kommunismus flirtete. Sie beschwört den großen Gellu Naum und läßt ihn sagen: 

du, Vergrabene, rief da Gellu Naum
und stopfte mir eine Handvoll Blätter in den Rachen
welch grüne Agonie, stell dir doch vor
ja stell dir vor, welch eine grüne Agonie.

Man muß das Grün in dieser rätselvollen Anrede betonen, das ununterdrückbare Leben.
Von diesem lebensfrischen Elan lebt auch die dritte, die gegenwärtige Phase von Iugas Poesie. Als das Ceauşescu-Regime kollabierte, blieb sie – anders als andere – nicht auf Opposition fixiert. Sie nutzte die neue Freiheit; nutzte sie auch zur Eroberung neuer Formen. Man darf auf die Übersetzung von Erzähltexten wie Die Seife des Leopold Bloom (1993) und Die Sechzigjährige und der junge Mann (1997) gespannt sein. Wie sagt die Dichterin in ihrem Selbstporträt? 

Ich habe zu erwähnen vergessen, daß ich 75 Jahre alt bin und nur über die Liebe schreibe.

Nur über die Liebe? Nehmen wir auch diese Konfession mit einem Körnchen Salz. Die Skala der späten, der reifen Nora Iuga ist größer denn je. Die Ekstasen und Melancholien der Liebe gehören natürlich dazu. Die letzte Abteilung des Bandes heißt „Das Mädchen mit den tausend Falten“, sie handelt im Wechsel von Kurzlyrik und Prosagedicht von der Trauer um einen geliebten Toten, der als Wiedergänger erscheint, aber auch von einem Pan-Erotismus, der „die schnelle Lust des Chlorophylls“ evoziert. Am Schluß – in der Nummer 100 dieses Zyklus – zeigt sich das lyrische Ich, eben das Mädchen mit den tausend Falten, in den Straßen eines Bukarester Wohnviertels, an einer roten Ampel. Wir lesen mit dem letzten Satz eine rätselvolle lyrische Summe.

Nur du hast keinen Punkt, bist endlos geworden, mein Nichts.

So wie Glück in Unglück umschlägt, Unglück in Glück, so das Nichts in Sprache, Sprache in Poesie. Dieses Wunder geschieht in Nora Iugas ununterbrochener, ja ununterbrechbarer Poesie. Wie sagt die Dichterin mit einem Wort Oscar Wildes von ihren Launen?

Eine Laune dauert länger als eine Leidenschaft.

So gefährlich, so schön sind die Launen der Poesie. 

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.6.2007

Gefährliche Launen – Gedichtband von Nora Iuga

Fast vier Jahrzehnte umspannt diese Auswahl von Gedichten Nora Iugas, erschienen im Klett-Cotta Verlag unter dem Titel Gefährliche Launen. Sie vermittelt einen Eindruck von der inhaltlichen und formalen Suche der Autorin und deren Vielseitigkeit. Sie sei jetzt 75 und schreibe nur von der Liebe, verrät Nora Iuga im Nachwort, in dem sie die Klippen, die sie im Leben zu umschiffen hatte, mit dem ironischen Fazit abtut:

Ich hatte ein schönes Leben.

Nora Iuga gehörte zu der Bewegung der Oniriker, die den Versuch unternommen hatte, den Surrealismus in der rumänischen Literatur wiederzubeleben, so Mircea Cărtărescu in seinem Nachwort. Er schätzte sie als „diskrete wie beeindruckende Erscheinung“ und las sie „leidenschaftlich gerne“. Doch als die Gruppe der Oniriker zerschlagen wurde, verbot man auch die Bücher von Nora Iuga, die beinahe ein Jahrzehnt nicht mehr veröffentlichen konnten.
Um so interessanter ist diese Werkschau in der Übersetzung von Ernest Wichner, die frühe und späte Gedichte aus den Jahren 1968 bis 2005 vereint: es ist nicht meine Schuld, Himmelsplatz, Die Nachtdaktylograhin, Spital mit Mannequins, Der Autobus mit den Buckligen, so einige der Titel ihrer Bände.
Der Werkschau vorangesetzt ist ein Gedicht, in dem die Lyrikerin ihr Credo preisgibt: Wenn die Gedanken nicht mehr in Worte gefasst werden können „hat Ironie mich stets / beschützt und mir den Weg gewiesen über Hinter- / treppen“. So durchzieht ein schelmisches Schmunzeln die hier versammelten Texte. Formal geht die Suche der Autorin von der Lyrik hin zur lyrischen Prosa beziehungsweise zum Fragment.
Inhaltlich umfasst die Suche ein Spektrum, das breiter ist als „nur die Liebe“. Abschied, Tod und Sprache werden ebenfalls thematisiert. Die Wörter nehmen dabei Gestalt an: „der papagei träumt wörter / rund und weiß / wie tabletten / auf rezept“, die Buchstaben werden zu leeren Muschelschalen oder die Wörter entkleiden sich viel zu schön bei Dunkelheit des Nachts im Bett.
Das Schreiben hat dabei eine erlösende Wirkung:

Ich schreibe, damit ich nicht denke. Schreibe, um nicht zu weinen. Schreibe, damit es nicht weh tut.

Manchmal ist das Schreiben der einzige Ausweg aus der Verzweiflung:

wie kannst du noch existieren
wenn der himmel entzweigeschnitten wird
[…] schreiben will ich jetzt
solange das hirn noch blutet
dieser kugelschreiber ist gott ebenbürtig

Und Nora Iuga schreibt zuweilen auch gegen „das Auge im Hinterkopf“ an, eine Metapher für die Selbstzensur.
Immer wieder schimmern surreale Elemente zwischen den Zeilen auf: „brennt etwa die Zeit?, „nun wächst ihm aus jeder Hand ein feigenbaum“, „die wirklichkeit ist mir zerrissen / ein pferdekopf kommt darunter hervor / der allein und ohne jockey rennt / und seine runde zu ende bringt“. Doch auch der Surrealismus kann die Lyrikerin nicht vor dem, was auf sie einbricht, schützen:

nun schützen mich weder zigaretten
noch der surrealismus

Und das Frivole, das ihr immer schon gefallen hat, wird zum schweren Gepäck.
Immer wieder besticht die Lyrik Nora Iugas mit ungeahnten Bildern „wie die Blätter des Mondes“, das weiße Kamel, das den Tod bedeutet und in den Himmelsdünen herumirrt, oder der weiße Text auf den Lippen, „in dieser taverne / genannt poesie“.
Wehmütig vielleicht, surreal vielleicht, aber nie bitter und meistens mit einem ironischen Unterton, so kommen Nora Iugas Gedichte trotz ihrer Themen mit Leichtigkeit daher. Mircea Cărtărescu bescheinigt ihr vor allem in den letzten Bänden eine „paradoxale und vollkommen antiklassizistische Klassizität“.
Nora Iuga hat sich zudem als Übersetzerin von Autoren wie Herta Müller, Günter Grass und Aglaja Veteranyi, aber auch als Prosaautorin einen Namen gemacht.

Edith Ottschofski, Siebenbürgische Zeitung, 28.12.2009

Poetisches System aus Komplementärfarben

– Die 76-jährige Rumänin Nora Iuga gilt in ihrer Heimat nicht nur als beste literarische Übersetzerin aus dem Deutschen, sondern vor allem als grande dame der rumänischen Poesie. Aus Nora Iugas lyrischem Werk, das mittlerweile zwölf Gedichtbände umfasst, hat der Klett-Cotta-Verlag in diesem Frühjahr einen Auswahlband unter dem Titel Gefährliche Launen in der Übersetzung von Ernest Wichner vorgelegt. –

Es kann dem Übersetzer Ernest Wichner nicht leicht gefallen sein, eine Auswahl aus dem Gedichtwerk der Nora Iuga zu treffen. Nicht deshalb, weil dieses Werk zu umfangreich wäre, sondern weil jeder Gedichtband Nora Iugas ein neues Register zieht und eine eigene poetische Entität bildet. Während der erste Gedichtband, 1968 erschienen, formal noch konventionelleren Gedichtmustern folgt, hat die Autorin in ihrem 1986 publizierten Himmelsplatz die Form bereits erheblich erweitert und eine poetische Collage aus Prosa und Gedicht, intimem Tagebuch, Träumen, Brieffragmenten und Reflexionen geschaffen, während der darauf folgende Band, Lieder betitelt und im Revolutionsjahr 1989 veröffentlicht, scheinbar naive Reimgedichte enthält und wiederum eine ganz neue lyrische Sprechweise ausprobiert. Beide Bücher sind im deutschen Auswahlband so gut wie nicht berücksichtigt.
Aber der poetischen Originalität Nora Iugas wird der Auswahlband dennoch gerecht, nicht nur, weil er den Registerwechsel der in den 90er Jahren bis 2005 erschienen Bücher umso eindrucksvoller unter Beweis stellt, von den zur aphoristischen Kürze neigenden Texte in Gefährliche Launen (1998), über die sich schmerzhafter Subjektivität überlassenen Langgedichte im Spital der Mannequins aus demselben Jahr, dem Figurenpoem Der Autobus mit den Buckligen (2002) bis zum langen Prosagedicht Das Mädchen mit den tausend Falten von 2005. Sondern vor allem deshalb, weil Ernest Wichner in seinen Übersetzungen der sinnlich-erotischen, subjektiv-bekenntnishaften Gedichtsprache Nora Iugas treu bleibt, die, bei allen Formexperimenten, den authentischen Kern dieser Lyrik bildet.
Zu den poetischen Techniken der Nora Iuga gehört in erster Linie die Verbindung weit auseinander liegenden Wahrnehmungs- und Bildbereiche. Dass diese Technik auch etwas mit den repressiven Bedingungen des Ceaucescu-Regimes zu tun hatte, ist der „unpolitischen“ Dichterin Nora Iuga durchaus bewusst:

Am Anfang wollte ich etwas ausdrücken, das man nicht ausdrücken durfte wegen des Regimes. Und alle haben das gemacht, also es waren die Metaphern da und die Vergleiche und so. Aber das hat mir nicht gefallen, ich habe gespürt, dass das antiquiert ist. Und dann habe ich wie gesagt eine andere poetische Denkweise kultiviert, aber die lag mir sehr nahe.
Mein ganzes Talent als Poetin liegt in dieser Art zu denken, poetisch zu denken, ganz anders, ich sehe einen Hund auf der Straße, und dann gibt es hier einen Bruch, eine Brechung, und dann mache ich einen sehr großen Sprung, und komme, weiß ich, auf eine Terrasse, wo eine Palme ist. Oder so etwas. So irgendwie knüpfen sich die Gedanken in meinem Kopf, so dass ich keine Metaphern mehr brauche oder weiß ich was für Stilfiguren. Aber durch diese Sprünge von einer Wirklichkeit in eine ganz andere Wirklichkeit, aber keine ganz zufällige Wirklichkeit.

Das liest sich dann beispielsweise so:

Mein Zeigefinger dauert mich
er hätte ein paar Schubladen öffnen können

doch das Auge am Hinterkopf ist gewachsen
und im Keller wimmelt es von Rekruten.

Eine andere Technik Nora Iugas bedient sich der Kombination syntaktischer Korrektheit mit alogischen Inhalten, etwa wenn es im Autobus mit den Buckligen heißt: „wenn ich vergesse, die telefonrechnung zu bezahlen / wird das wasser abgestellt“, oder: „die luft im autobus ist eine kuh / ihr euter blickt zurück im zorn.“
Nora Iuga entwickelt in ihrer Poesie ein poetisches System aus Komplementärfarben, die das Auge normalerweise nicht sieht. Das verschafft den Gedichten ihren surrealen, ja bisweilen absurden Charakter, der wiederum der ironischen Grundstimmung seiner Verfasserin entspricht.

Erstens einmal kann ich nicht in einem einzigen Gefühl bleiben längere Zeit, denn es wird mir schrecklich langweilig vor allem im Schmerz oder in Melancholie oder, weiß ich, in Schwermut. Das ist ein Wort, ich muss immer darüber lachen, es ist so deutsch, ich weiß nicht wie, es bringt mich immer zum Lachen.

„Doch rücksichtsvoll… hat Ironie mich stets / beschützt und mir den Weg gewiesen über Hinter- / treppen…“, heißt es in dem Gedicht „Die Reise nach Plovdiv wurde verschoben“. Über die Hintertreppen der Ironie nimmt das lyrische Ich der Nora Iuga Reißaus vor Schmerz und existenziellem Ernst. Es handelt sich um Hintertreppen zu einer Bühne, auf der ein surreales Bildertheater stattfindet. In diesem schwindelerregend leichten Stück fliegt dem Leser die Welt um die Ohren. Nichts bleibt mehr auf seinem Platz. Wirklichkeitsflucht ist das Ziel. Aber die Schwere der Welt können Nora Iugas Verse trotzdem nicht abschütteln. Sie wollen es auch gar nicht. Zutiefst bleiben sie dem Irdischen und Leibhaften verbunden. Iugas Gedichte sind nie geschlechts- oder körperlos, nie süßlich oder sentimental, sondern von bestechender Sinnlichkeit – einer Sinnlichkeit, „die zwischen Genuß und Leiden bei lebendigem Leib nicht mehr unterscheidet“, wie Mircea Cartarescu in seinem Nachwort zum Auswahlband schreibt.

Ich liebe, ich mag die Erde sehr, die Erde ist sehr sinnlich, die Erde ist genau wie Fleisch, wie Haut. Also ich könnte mir sogar vorstellen, um Gotteswillen, was ich da alles sage, dass ein Eremit oder ein Mönch, der irgendwo ganz alleine lebt und keine Frau hat, ich könnte mir eher vorstellen, dass er onaniert mit einem Loch in der Erde als mit seiner eigenen Hand, weil die Erde wie ein Weib ist. Es ist wunderbar, das schätze ich bei der deutschen Sprache sehr, dass die Erde zum Beispiel weiblich ist, dass die Sonne weiblich ist. Ich empfinde Sonne und Erde als weiblich. In der rumänischen Sprache ist Sonne männlich, ist Erde männlich. Ich weiß nicht wieso. Sie sind ja so warm, die Sonne und die Erde, und sehr sehr sinnlich.

Dass Nora Iugas Liebe zur erotischen Un-Ordnung der kommunistischen Staatsmacht suspekt sein musste, versteht sich von selbst. Folglich wurde sie 1971 nach der Veröffentlichung ihres zweiten Gedichtbandes verboten. Ihre Bücher verschwanden aus Buchhandlungen und Bibliotheken, die Autorin durfte keine Zeile mehr publizieren. Begründet wurde dieses Vorgehen nicht. Erst nach der Revolution von 89 erfuhr Nora Iuga, dass sie das Publikationsverbot dem angeblich „pathologischen Erotismus“ ihrer Gedichte verdankte.
Übrigens gehörte die Autorin zum Kreis der jungen „onirischen Dichter“, die drei Jahre zuvor nach dem Ende des Proletkults in der Literatur wie die Pilze aus dem Boden geschossen waren. Diese junge Generation schrieb „Traumgedichte“, eine Literatur in der Nachfolge des Surrealismus, die sich vermeintlich „realistischen“ Schreibweisen verweigerte. Wirklichkeitsflucht war Programm.
Obwohl Nora Iugas Gedichte gar nicht anders als vor dem Hintergrund eines repressiven Systems gelesen werden können und man den Titel Gefährliche Launen auch als Anspielung auf die Willkürherrschaft des kommunistischen Despoten Ceaucescu verstehen könnte, der beispielsweise beim Besuch eines kleinen Ortes an der Schwarzmeerküste entschied, dass er komplett vom Erdboden verschwinden müsse, verweigern sie jede politische Aussage. Oder anders gesagt: Politisch sind diese Verse, in dem sie auf Autonomie beharren. Sei es auf der Autonomie des lyrischen Sprechens, sei es auf der Autonomie des liebenden und leidenden Ichs.
Aber auch mit ihrem Nachwort mag die aus einer Künstlerfamilie stammende Dichterin, die zwischen Geigen und Ballettschuhen aufwuchs und das Wort „Politik“ als letztes lernte, den westlichen Leser verwirren. Es trägt den Titel: „Ich hatte ein schönes Leben.“ Ist das beißende Ironie? Oder Provokation?

Ich habe ein schönes Leben gehabt, weil ich eigentlich nicht wusste, wie ein schönes Leben aussieht. Und deshalb kann ich nicht genau sagen, ob es ironisch gemeint war oder ob ich nicht wirklich auch sehr aufrichtig war.

Jan Koneffke, Deutschlandfunk, 4.6.2007

Ausserordentlich

Nora Iuga, 1931 in Rumänien geboren, ist die grosse, augenzwinkernde Poetin, die trotz Publikationsverbot ihren Humor und die Freude am Leben nicht verloren hatte. Es ist wohl einem Stipendium in Stuttgart zu verdanken, dass wir eine stattliche Anzahl Gedichte aus ihrem Schaffen in Deutscher Übersetzung geniessen dürfen. Der vorliegende Band enthält Lyrik aus acht verschiedenen Bänden, von 1968 bis 2005, allerdings liegt der Fokus auf den neueren Werken (Gefährliche Launen und Spital der Mannequins, beide 1998, Der Autobus mit den Buckligen, 2002 und Das Mädchen mit den tausend Falten, 2005). Iugas Poesie ist reimlos und kommt ohne Wortschöpfungen aus. Trotzdem geht von ihr eine unheimliche Lebendigkeit und Originalität aus, die manchmal etwas Surreales hat und ihresgleichen sucht.

wie leicht ich verzichten kann
auf deinen körper
wenn ich ihn jederzeit erfinden kann
all jene stummen gespräche
ausgebreitet auf papier
wie butter auf der scheibe brot
meine kleine droge
mir ist bewusst dass ich schummele
aber ich merke es nicht
wenn ich beim gehen
einen schwalbenkücken zertrete

Das Buch ist schön gemacht, mit einer autobiographischen Skizze und einem Nachwort des Landsmanns Mircea Cartarescu angereichert. Seit ein paar Jahren konzentriert sich die Autorin auf Prosa und Übersetzungen aus dem Deutschen (u.a. Elfriede Jelinek, Günter Grass, Thomas Bernhard und Herta Müller).

Heiko Bolick, amazon.de, 29.6.2008

 

Dana Ranga: Das Mädchen mit den Tausend Falten

Tobias Wenzel: Nora Iuga

Nora Iuga zu Gast im Müllerhaus Lenzburg

 

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Interview mit Nora Iuga – Die Literatur war nicht mein Lebenstraum; es zog mich zur Bühne.

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