Norbert Hummelt: Knackige Codes

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Norbert Hummelt: Knackige Codes

Hummelt/John-Knackige Codes

POLARE TASTATUR

die dinge zeigen neigung zu verschwinden
kann es sein daß eine elster dort
fortflog als ich fortsah zu verschwinden
und verschnitten und war fort
und mit dem weißen blütenblatt
im schnabel, zu erblinden
mitten in die magnolien flog?

ich fürchte daß die magnolien blühen
linkes auge, sieh dir das an
im märz ein anblick der tötet, im frühen
april als reiz, es handelt sich
um künstliches verstehen, ein glühen
im rechten auge bleibt
ich hätte als die elster selbst gesehen.

 

 

 

dichtmaschin / („Hölderlin?“)

Pro forma ist „Knackige Codes“ der fünfte Lyrikband von Norbert Hummelt, aber de facto, nach den Gepflogenheiten des Literaturbetriebs sein Debüt. Bislang trat er mit wenig umfangreichen Textzusammenstellungen in Kleinstverlagen an die Öffentlichkeit, nun kann man erstmals ein breiteres Spektrum seiner lyrischen Arbeit wahrnehmen.

Innerhalb Kölns ist Hummelt seit Jahren präsent, als Leiter der „Autorenwerkstatt“ und des „Literatur-Ateliers“, als Herausgeber, Kritiker,  Autor von Texten, die zumeist auf den Vortrag hin konzipiert sind – „Sprechkonzerte“ nennt er seine Lesungen, die er gerne zusammen mit anderen jungen Dichtern veranstaltet, beispielsweise mit Marcel Beyer. Insbesondere Texte im „Luchterhand-Jahrbuch der Lyrik 1990/91“ und der KiWi-Anthologie „Die Zeit danach“ führten dazu, dass er unter dem Feuilleton-Etikett „Neue Kölner Schule“ auswärts rezipiert wird. Mit „Knackige Codes“ wird sich die Beachtung wohl vertiefen, denn seine Gedichte wirken in dieser facettenreichen Anordnung vorteilhafter als bei Kleinstzusammenstellungen.

Es ist spannend, Hummelts Spannbreite auf sich wirken zu lassen. Er arbeitet im Spannungsfeld zweier Pole – einerseits integriert er wie kein anderer Dichter O-Ton en masse, Szene-Slang, Kneipenstimmung, Pop- und Heavy-Metal-Töne. Das macht seine Lyrik sehr modern, turbulent, gagig und schrill, voller Anglizismen und Witzigkeiten. Andererseits ist der 1962 geborene Autor aber auch der Tradition offenkundiger verpflichtet als die meisten seiner Kollegen, und nicht nur der des 20. Jahrhunderts (hier hält er es mit den Bingener Dichtern Stefan George und Thomas Kling, dazwischen: Benn, Jandl, Mayröcker, zu deren Werk er seine Magisterarbeit verfasste). In seinem Schreiben klingt immer wieder auch der Ton der alten Dichtung an, die er neu belebt: punkig anmutende Sonette entstehen oder sogenannte Cover-Versionen, immer wieder Hommagen, Zitat- und Klangreste.

Manchmal ist Hummelt ein modischer, klammheimlich womöglich ein gelegentlich altmodischer Dichter, und immer wieder verbindet er seine Vorliebe für das Althergebrachte und das Noch-nie-Dagewesene, und dabei entstehen dann seine stärksten Texte. Wenn sein sprechen ruhiger wird, ein bisschen melancholisch und traurig und beim Ermüden ganz. Wie im Titelgedicht, mit dem der Band beginnt… Ein langsamer Abschied von den „besagten orten / wo heftig gesprochen wird“?

Dieter M. Gräf, Basler Zeitung, 24.12.1992

Erstmals bei einem größeren Verlag

gelandet ist Norbert Hummelt, der gebürtige Neusser und Wahl-Nippeser. Im Druckhaus Galrev, bekannt für ansprechend gestaltete Paperbacks zu zivilen Preisen, erschienen soeben „Knackige Codes“, ein Sampler mit Gedichten von 1987 bis heute. Der Band umspannt Hummels gesamten lyrischen Horizont, von Jandl- und Mayröcker-Widmungen über Hölderlin-Benn-und Brinkmann-Zitate bis zu Reinhard Priessnitz- und Thomas Kling-Referenzen. Während sich im Abschnitt „Pick-Ups“ Snap-Shot artige Bierdeckelgedichte zwischen Station und Six Pack versammeln, enthält „Formsachen“ Variationen und Parodien auf ehemals Kanonisiertes, allen voran das legendäre „Bulkolische Sonett“: in klassischer Sonettform angeordnete Blankverse mit durchgehendem Endreim auf ‚-achte’, die letztlich dem „schwarzen schaf das heimlich lachte“ gnadenlos mit Schlachtung drohen.

Der Schritt vom „Schwarzen Schaf“ zum „Schwarzen Vogel“, vom humoresken Formexperiment zum tristen Verfallsgedicht, ist bei Hummelt nicht weit. Jenseits von Pathos oder Larmoyanz trifft er z.B. in „Jugendbildnis“ einen Ton von geradezu brutaler Offenheit: was ein dreck es ist / werden alt, da mir / die säule, der wirbel / halt, / wird bald / ein stab aus bambus sein, / ein besenstiel, damit / den dreck zu kehren. Hummelts in der jüngeren Lyrikergeneration seltene Vorliebe für den Reim zeigt sich hier ebenso wie jene für Inversionen und eine Grammatik, die der deutsche Besserwisser gerne Kindern oder Ausländern in den Mund legt. Und damit wird eine letzte Ebene dieser Gedichte offenbar: Hummelts Codes sind nicht nur „knackig“, sondern vor allem ge-knackte, die in all ihrer Be-Knacktheit präsentiert werden.

Kölner Illustrierte, August 1993

Ein märchenhafter Hinterhof

− Hektisches Hinterhofgeknatter: Großstadtlyrik des Kölner Poeten Norbert Hummelt in der Edition Galrev. −

Knackige Codes heißt Hummelts jüngstes Buch; es lässt sich wie ein Film lesen, für den die Texte einerseits Bilder und Bewegung und andererseits die Geräuschkulisse liefern, und hinreißend zwiespältige Monologe auch. Vorspann: wie eine Ouvertüre steht den vier Kapiteln des Buches das Titelgedicht voran, dessen Text vorwegnimmt, was danach abrollt. Da beschwört Hummelt mitten aus dem Geratter der Großstadt („Message kommt & message geht“) die antiquierte Vorstellung von einem Zauberort herauf.

Eine Idylle am „hinterfenster, wo / stimme des schwarzen vogels vernehmbar, / der hockt gekrümmt in dem da weißen / baum, welcher für ein paar tage / blüht (…).

Vom Hinterhof aus führt die Bewegung mal hektisch, mal strikt rhythmisch, mal schleppend oder schweifend aus dem Hinterhof hinaus in die Winkel der Stadt und aus ihr heraus.

Unterlegt sind diverse Verweise  auf das erste Bild (Vögel und ein magisches Weiß). Die Rückkehr ans Fenster ist Voraussetzung für den Text; die Peripherie wird zum eigentlichen Zentrum, denn hier steht die „dichtmaschin“, die wenn sie tickt, den weißen Baum zum blühen bringt. Andererseits läuft sie immer dann langsamer, wenn der Herr Poet den Vorderausgang nicht mehr benützt und „besagte orte, / wo heftig gesprochen wird“, eigenbrötlerisch meidet: Hummelt konstruiert Welt und Gegenwelt.

Sein Material sind die uralten Klischees, allen voran das vom romantischen Genie: Er transformiert die Motive (inclusive Schäferstündchen und Krankheit-zum-Tod) mit ernsthafter Attitüde, auch mit Hochachtung, formverliebt. Dabei ist aber der Textfluß ständig durch willkürlich hineinmontierte Floskeln unterbrochen, die ironische Distanz herstellen. Nicht zu vergessen auch, unter welcher Überschrift hier gearbeitet wird: „Knackige Codes“ – will sagen, alles ist auflösbar, und alles hat seine Formeln, und die wechseln ständig, womit endlich auch die herbeizitierte Tradition einfach verschluckt, verbraten, eingewickelt wird, was dann freilich Melancholie erzeugt, die erneut nach einem Bruch verlangt: Hummelt parodiert nicht nur (wie in „Basic Hölderlin“ für Ernst Jandl) längst verstorbene Kollegen, sondern gern auch sich selbst. Überhaupt hat er sichtlich Spaß daran, sich in seinen Texten zu stilisieren. Für den Sinn der Angelegenheit ist dann ja die Leserschaft zuständig: „Ich habe das radiert, / was nach bekenntnis klang.“ Um das zu unterstreichen, bemüht Hummelt eloquent die Kunst der Untertreibung: „KEINER DIESER SCHLAMPIGEN / Sätze hier hat irgendwas zu / bedeuten“, verkündet er, auch daß „der Sinn sich munter selbst“ erzeugt: „die Bedeutung kommt von allein“. Was ganz besonders für die Großstadt gilt. Die ist voller Freaks, denen Hummelt die Floskeln klaut, um sie zu einer Szene zusammenzuwerfen, in der munter dahergeplappert wird. Pick-ups nennt er das und baut ein paar böse Katastrophen ein: Die imaginäre Kamera hetzt ziellos die Straße entlang, von Kneipe zu Kneipe, zum nächsten Tanzschuppen und spult ein ganzes Kapitel lang Gelaber auf, dem jeglicher Sinn abhanden gekommen ist: Schnell noch alles sagen, „bis der schmerz den kopf erreicht, / dem die augen ausgehen / nach langem blick.“ – Es folgt das nächste Kapitel: Zurück dorthin, wo die Dichtmaschin rattert und „Formsachen“ macht, bis das Spiel noch Mal von vorn beginnen kann: „winterreise als inventur: meine sprache, mein auge, mein fenster, mein platz, bei tag bei nacht zieht es mich hinaus, wie an den augen zieht es mich hinaus (…)“. Und noch eine Fahrt, strukturierter diesmal, zack-zack hineingedrängt ins letzte Kapitel, bis an dessen Ende in Anspielung auf Rolf-Dieter Brinkmann ein Bild steht (Köln, Blicke“): Aufnahmen, als ob eine unbewegt aufs Stativ montierte Kamera im Raum steht und mitschneidet, bis der Dichter den Strom ausknipst: „wir bleiben auch nicht mehr lange hier, still, bei nacht, am fenster, still. wie es meinem mund entfuhr, wer gab mir dieses muster vor, jemand soll endlich stopp sagen, / stopp“

Frederike Freier, Die Tageszeitung, 8.4.1994


Norbert Hummelt: knackige codes (Galrev Berlin)
1

Sagen Sie, wie kommt man mit Stefan George in die Disko?
Das geht so:

VERDECKUNGSGESTE

komm vor den spiegel hier im bad und schau:
der dimmer schwärzlich glänzender pomade
gepfuschter wimpern tusche, ganz genau:
verdeckt den blick, der augen remoulade

dort nimm das flutende kajal, das paßt zum blau
des linken wie des rechten augs, schau schau
der wangen trauriges gepuder, tanz
den thomas, tanz den reinhard, wenn du kannz

verwisch auch dieses letzte rouge noch nicht
den roten lippenstift, der glänzt beim reden
und was noch übrig ist – das ärgert jeden –
verschwindet im kosmetischen gedicht.

Der „totgesagte park“ des Herrn George, 1897 publiziert, das prominenteste deutsche Herbstgedicht, findet also in unseren Jahren im Saale statt; vielmehr, gespiegelt, in den 90er-Jahre-Boudoirs von Szenegängern, vorm (vermeintlichen) Bad in der Menge der Hightech-Manegen.
Norbert Hummelt, 31jähriger Dichter in Köln, hat für den Transfer vom kosmischen fin de siècle-Sonett zum kosmetischen Stroboskop-Gesicht gesorgt; es ist unter dem nicht unmokanten Titel „verdeckungsgeste“ im Band knackige codes erschienen, in der Edition Galrev des ebenso renommierten wie kontaminierten Druckhauses in der Lychener Straße, Berlin. Zusammen mit rund 70 anderen Gedichten, verfaßt in den vergangenen 5 Jahren circa.
KNACKIGE CODES; EIN HUMMELTTYPISCHER Titel, dessen Texte zum Teil beachtliche Entertainmentqualitäten offenbaren.Und wer ein Freund des Orchideenfachs Gedicht ist, weiß, daß vor der deutschen Literatur das große Schild steht, Aufschrift: HUMOR. WIR MÜSSEN DRAUSSEN BLEIBEN. LYRIKER-INNEN sind da noch mal ganz besonders gemeint.
Hummelts erste umfangreiche Sammlung verbindet eine avanciert eigene Sprache mit anglo-irischem Unterhaltungsgeist; bis hin zum Kalauer, den er nicht scheut, getreu der Maxime Konrad Bayers „der kalauer ist eine delikatesse“, ohne im Anspielungswust gequält nur unterhaltenden Name-Droppings baden- und unterzugehen.
Hören Sie „kulinarisches sonett I“, ein Speisegedicht, das von konkreter Anämie nichts weiß, um so mehr aber über zeitgeistiges Sprach- und Redeumgehen:

KULINARISCHES SONETT I

ich äße gerne reis mit zimt und zucker
du sagst es fehle wieder mal das salz
du äßest gerne reis mit zimt und salz
ich äße lieber salz mit zimt und zucker
man nehme prise mehl und etwas honig
dann schütte man das ganze in den topf
man rühre hin und wieder durch den topf
und fertig ist dann irgendwas mit honig
was sollen wir mit honig ohne geld
du sagst du wolltest salz und deine ruhe
ich kauf mir etwas reis von deinem geld
du sagst hier hast du zimt gib endlich ruhe
hier hast du deinen zucker und dein geld
du sagst hier hast du mehl laß mich in ruhe

MIT POSTEXPERIMENTELLEM MAINSTREAM hat das nichts zu tun. Die heute zum Standard gehörende Montageausrüstung hat Hummelt drauf. Einer skeptisch-realistischen Schreibrichtung, die das historisch gewordene Experiment der internationalen Klassik der Moderne unseres Jahrhunderts auf gute Art in sich aufgenommen hat, könnte sich der Lyriker zugehörig fühlen.
Zu ihm gehört ebenso schmerzhaft-präzise Chuzpe. Obzwar man weiß, daß so, und was so gesprochen und geredet wird, ist man mitunter erschüttert über die Fill-ins des Norbert Hummelt, die er den gesprochenen, entfremdeten Sprachen absaugt, entfernt und poetisch-runderneuert einbaut.
Der Autor geht da ziemlich weit.
Im mit „pick-ups“, also etwa Tonabnehmern, überschriebenen Kapitel – einem von vieren des 90-Seiten-Buches – das ausschließlich aus O-Ton beziehungsweise aus inszenierten O-Ton-Sequenzen besteht, ist das der Fall. Irritiertes Staunen, Blicke in die toten Trakte, nicht Parks, der Sprach-Leeren könnten beim Leser die Folge sein. Diese monologischen Gedichte in ihren Überlagerungen, in ihrem Fading, Schwund, Wundheit und Rauschen gefallen mir am besten. Das ist nicht bei allen Gedichten so. Manches Mal möchte und kann ich den Verschraubungen des Lyrikers nicht folgen. Da ist dann mir zuviel Tick im Spiel. Aber Hummelt kann sich Pathos erlauben, und das gesteht man ja nicht so vielen Lyrikern zu.
Seine Gedichte haben etwas mit Pastior zu tun, mit Priessnitz, mit Mayröcker, auch mit Jandl. Letztere tauchen auch als Widmungsträger auf. Von Artmann übrigens hat er die Tarnkappe, das Verschmitzte.

Horchen wir ins „auge des tornados“:

AUGE DES TORNADOS

debiler drive –, als dies, was
denen andern für mein phlegma gilt –,
ist das das exempel für
vogel kaputt?
als tät ein strang von muskeln mir
den dienst versagen, so stockt
mit der stimme bald schon der geist,
was nützt mir dann die verschimmelnde
schrift, bedruckt papier, das
zwischen deckeln klebt? / hinaus noch
eilen aber die füß, die manchesmal
mir den defekt kaschieren, und
leichthin mich tragen ins mildere licht
changierender wiesen, des leuchtenden
raps, und dann auch zu ebener erde
zu gehen, bis ich, an einem
umschatteten ort, die sitzbank find
für meines lebens rest,
ich bin
jetzt sicher in dem auge des tornados.

Mit progressiven orthopädischen Dauermalaisen geht Hummelt, Mitglied bei Borussia Mönchengladbach, schwerelos um, locker wie mit seinen Kommunikationsinstrumentarien, den Sprachprothesen und den kontrollierenden elektronischen Medien. Die Musik und das Musikalische interessiert den Dichter, da ist er sehr sicher. Und selbstverständlich tritt er mit anderen Literatur-Performern auf, „Sprechkonzerte“ nennt er seine Sprachinstallationen, seine Konzerte. Ein talkingblueshafter Text, in dem dem Leser eine Lichtenstein’sche Dämmerung auflauert, ein Programm der grotesken Großstadtdichtung im späten Wilhelmismus, soll, als letzter Hirn-Kräcker, Lust auf Lesen und Halblautlesen von Norbert Hummelts knackige codes machen. Das Gedicht heißt „der schlechte hirte“:

DER SCHLECHTE HIRTE

ich bin jetzt zu hören, aber nicht
zu sprechen. („daß man da noch ne seite
auslebt, der gute trash“:) noch eben
am RISPONDO was justiert, daß anrufe
mögen nun kommen. dem tier im pelz
sein schüssel fleisch serviert,
der timer-taste gilt ein letzter
blick; mein mundvorrat tabletten
präpariert, als reisefertig nun
ich mich erachten möge, zum krebs-
gang bereit in die da weite welt,
dann bin ich zu sehen, aber nicht
zu fassen. wohin aber möge es

gehen? phrasen wie STONED AGAIN,
treppab ich flieg auf meines hüft-
schmerz’ schwingen, aber draußen
schneit’s mir die lunte aus, so
ich gewahr werd daß kaum gewiß
die absicht mir scheint von dies
mein haus verlassen, geschweige denn
richtung. zur freundin? zur kur?
oder simpel nur in den abend hinein,
der mühsam sich über mein stadtviertel
senkt, weit draußen womöglich über
straß und feld. ich nenn die dämmerung
als meine feierstunde, doch
wie mögen klarkommen telefon,
video, katz allein?

Thomas Kling, in Thomas Kling: Werke 4. Essays 1974–2005, Suhrkamp Verlag, 2020

 

Damals in der Lychener Straße

Mein erstes richtiges Buch, der Gedichtband knackige codes, erschien im Sommer 1993 im Druckhaus Galrev, Berlin. Blättert man darin, so bleibt man zuerst an den Tigerzeichnungen hängen, die Angelika John für diesen Band anfertigte und die mich heute eher ratlos machen. Der Verlag wollte Bilder, ich kannte die Zeichnerin, und ich erinnere mich an den Satz von Sascha Anderson: „Ich habe nichts gegen Tiger.“ Dem Band vorausgegangen waren seit 1986 mehrere kleine, in Kleinstverlagen erschienene Sammlungen, die allenfalls in Köln, wo ich lebte, zur Kenntnis genommen worden waren und aus denen ich für knackige codes eine Auswahl traf. Etwa die Hälfte der Gedichte war einem kleinen Kreis von Lesern, vorwiegend im Kölner Raum, schon bekannt, nicht zuletzt von Lesungen und Gruppenauftritten her, die ich in den Jahren, als die Gedichte entstanden, an Orten wie dem Kunsthaus Rhenania und der „Ruine“ in Köln zusammen mit Marcel Beyer und anderen veranstaltete. Der Auftritt, die Lesung war mir lange die wichtigste Publikationsform, und vergleichsweise spät hatte ich überhaupt erst damit begonnen, nach einem Verlag zu suchen. Der junge Autorenverlag aus dem wilden Osten Berlins war keine etablierte Adresse, aber literarisch hochinteressant. Die Veröffentlichung fiel in eine Zeit, in der das Druckhaus Galrev bereits weniger berühmt als berüchtigt war, das kümmerte mich aber nicht, das anspruchsvolle Programm imponierte mir, und Sascha Anderson war ein guter Lektor. Ich erinnere mich, wie ich an einem sehr heißen Tag im Sommer 1992 mit ihm in der Lychener Straße vor dem Cafe Kiryl saß und wir über das Manuskript sprachen. Es war sehr staubig, Anderson trug Sandalen, und Kiryl bedeutete umgekehrt Lyrik. Ich hätte damals nicht gedacht, daß ich jemals in Berlin leben würde und noch dazu am Prenzlauer Berg. Heute wohne ich dort in der Greifswalder Straße, bin aber seither nicht mehr in der Lychener Straße gewesen, und es hängt ein Vorhang aus Staub und vergangenem Sommer zwischen jenem Tag im Juni und heute. Der Prenzlauer Berg hat sich seitdem verändert, und meine Gedichte haben es auch. Blicke ich zurück, dann scheinen mir meine frühen Gedichte in ihrem Interesse am formalen Experiment, in ihrer Lust an Abbruch und Umbau des Alten und dem spielerischen Aufbruch ins Ungewisse gar nicht schlecht zum Klima im noch unsanierten Berliner Osten der frühen neunziger Jahre zu passen; damals aber hielt ich mich dort eher für einen Fremdkörper.

Seit langem habe ich zu diesem ersten Buch und den meisten darin enthaltenen Gedichten ein distanziertes Verhältnis, und das war im Grunde schon so, als das Buch erschien. Zwischen dem Abschluß des Manuskripts und dem Erscheinen von knackige codes lag mehr als ein ganzes Jahr, in dem ich in Gedichten ganz andere, für mich neue Wege suchte; weg vom Aufbrechen überlieferter Formen, hin zu einem Stil, der sich eher mit meinen wirklichen Ansichten von der Welt zu decken begann und ihnen nicht auf den Wegen der Sprache zuvorzukommen oder zu entkommen suchte. Diesen Weg aber hätte ich gar nicht gehen können, wenn ich dieses erste Buch nicht geschrieben hätte. Was mir daran heute am meisten einleuchtet, ist die klare Gliederung in vier Kapitel, die deutlich voneinander geschiedene ästhetische Ansätze zeigen und somit offenlegen, daß es sich bei dieser ersten Sammlung noch nicht um den Versuch handelt, Teile zu einem Ganzen zu fügen wie in den späteren Bänden, sondern um eine Ausdifferenzierung möglicher Sprechweisen. Kaum ein Kritiker hat dies bemerkt, meist reichten die Exegesen nicht über eine Meditation über den Titel hinaus – knackige codes, so würde ich bei Gott heute kein Buch mehr nennen, es klingt so hip und unsympathisch, und der Himmel weiß, wie ich darauf gekommen bin. Freilich stellt schon das vorangestellte Titelgedicht eine Absage an ein möglicherweise mit dem Titel verbundenes Programm dar. Die Teilhabe am Nachtleben wird darin aufgekündigt, zugunsten einer betrachtenden Daseinsweise in Fensternähe. Ich mochte dieses Gedicht einmal, weil es den Blick in einen Kölner Hinterhof, das Auftauchen eines schwarzen Vogels und das kurze Blühen eines Kirschbaums beschreibt. Allerdings auf eine Weise, die ich für gespreizt halte und auf verschrobene Weise plakativ, schade eigentlich. Die erste Abteilung, „ohratohrium“, behagte mir ebenfalls schon bald nicht mehr. Sie enthält vor allem Montagetexte, Fusionen aus literarischem und Alltagsmaterial, geschult an Thomas Kling, den sie nicht erreichen konnten. Von ihm wirklich zu lernen hieß, es anders zu machen. Zu nahe sind mir die Gedichte dieser ersten Abteilung zudem an den gleichzeitigen Versuchen dichtender Kollegen, einen launigen Avantgardismus zu pflegen, der sich um so origineller vorkam, je enger er sich in der Nachbarschaft anhängte. Die zweite Abteilung, „pick-ups“, halte ich für interessanter. Sie besteht ausschließlich aus Originalton-Zitaten, mitgeschrieben in den damals einschlägigen Lokalen des Kölner Nachtlebens, in Supermärkten und auf Zugfahrten und zusammengefügt zu brüchigen Porträts auf- und abtauchender Gestalten. Im einzelnen eher beknackt („ich kann jetzt nicht nochma pommes essen, im grunde bin ich nur gegen die entfremdete welt“), ich könnte es so nicht mehr machen, aber es gab dafür kein Vorbild, und das Ohr fürs Mündliche, das für mich nach wie vor im Gedicht sehr wichtig ist, habe ich auf diese Art gewiß geschult. Im dritten Kapitel „Formsachen“ stehen einige Kontrafakturen, literarische Cover-Versionen auf Gedichte von Benn, George, Hölderlin und anderen, die mir, in der klaren Hinwendung zum Bestehenden und dem Wagnis des parallelen Gangs, gefallen. Und ich gestehe, daß ich auf Texte wie „bukolisches sonett“ (das 14mal den Reim auf „achte“ findet) und „friesisches sonett“ bis heute stolz bin, minimalistische Abarbeitungen an der hohen Kunst der festen tradierten Form, durch die ich hindurch mußte, um freiere Formen der gebundenen Rede entwerfen zu können. Zum Abschluß dann die „winterreise“, mein erster und nicht mein letzter Versuch, den Zyklus von Wilhelm Müller in heutige Verhältnisse zu übersetzen, einiges darin mochte ich noch für eine Weile gern, weil ich mich darin mit der Romantik befaßte, aber die forcierte Künstlichkeit, die Inversionen und Dysgrammatismen, der lose Einbau von Prunkzitaten und beliebigen medialen Schnipseln, wie ich ihn in dieser und in der ersten Abteilung finde, das alles halte ich für selbstgefällig, typisch Ende Zwanzig, und es geht mir längst nicht mehr zum Herzen, und das sollen Gedichte doch, das ist das Schwerste, und dafür hält der Dichter den Kopf hin. Als ich die Arbeit an knackige codes beendet hatte, verspürte ich den Wunsch, mit meinen Gedichten an einen Ort zu gehen, an den mir niemand würde folgen wollen.

Norbert Hummelt, aus: Renatus Deckert (Hrsg.): Das erste Buch, Suhrkamp Verlag, 2007

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Gisela Bartens: Knackige Codes im Textcafé
Kleine Zeitung, 28.1.1994

Gisela Bartens: Präziser Textapparat. Die Texter Beyer und Hummelt
Kleine Zeitung, 29.6.1995

 

Interview mit Norbert Hummelt am 22.5.2008

 

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Norbert Hummelt

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