Norbert Hummelt: singtrieb

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Norbert Hummelt: singtrieb

Hummelt/Winterschmidt/ Schöllenbachs-singtrieb

KREUZREIM

extrem wie sich die blätter rasch verfärben
muß fegen gleich u. wind kommt u. so fort
so kann auch was sich reimt sehr rasch verderben
weswegen auch egal hier welches wort
der sinn liegt auf der straße, wird vermittelt
es schimmert violett aus manchem blick
so ähnlich ist mein kopf halbiert (gedrittelt?)
was aufgeschrieben wird kommt nicht zurück
der neigungswinkel zählt, so geht es allen
september ist ein stichwort unter vielen
der vers erhebt sich fünfmal um zu fallen
so sucht wohl auch der wind nach neuen zielen
nordwest/nordost u. wieder nichts zu reißen
thematisch läßt sich wenig daran ändern
die nähmaschine läuft: was soll das heißen?
der winter kommt, es schneit schon an den rändern
es ließe sich nach manchen dingen fragen
zum beispiel was die dunkelheit betrifft
die ampeln haben neues nicht zu sagen
am ende geht es nur noch um die schrift
u. weiter mit der schere: kann nicht lesen
die nerven machen langsam nicht mehr mit
ich glaube es ist hölderlin gewesen
statistisch jeder dritte hat die / schnitt
am morgen bleibt das licht der zigarette
das klingt sehr metaphorisch (ist es nicht)
im grunde nur ein glied in einer kette
der schatten deiner stimme hat gewicht
im fenster ist die stadt nicht mehr zu sehen
im text ist das ein schönes element
wahrscheinlich wird ein blatt vorüberwehen
semantisch ist da niemand so mich kennt
der winter wird das opfer einer blende
ich zähle schon die lampen (es sind acht)
vielleicht nun kommt die zeit der weißen wände
der dichter geht zur ruhe: gute nacht.

 

 

 

Norbert Hummelts Gedichte

halten eine fein austarierte Balance

zwischen Sentiment und Ironie, berauschend schön im einen und nüchtern beobachtend im nächsten Moment. Christoph Clöser spielt dazu Saxophonfiguren von schlicht genialer Einfachheit, frisch, frech, direkt und [laut], wie es der Name der Band sagt, in der er und Norbert Hummelt ihre Nummern spielen, die zu hören sind auf der CD zu diesem Compact-Buch.

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 1997

 

Über Norbert Hummelts singtrieb

Norbert Hummelt lebt, wie viele junge Autoren heutzutage, in Köln. Seine Gedichte haben einen ganz eigenen Ton und sind über ein Probierstadium längst hinaus. Schön, daß Urs Engeler ihm einen Band in seiner Compact-Buch-Reihe eingeräumt hat: Der O-Ton, das eigene Sprechen, verhilft den Texten zu einer ganz anderen Präsenz als die Buchstaben. Trotzdem behauptet auch hier das Selberlesen sein Recht, möchte man sich nicht alle Texte vom Autor entwenden lassen.
Das Buch ist sehr schön gestaltet, mit allerlei Abbildungen, interessantem Format und Satz (Gestaltung Marcel Schmid, Basel) – die CD denunziert nicht das Medium Buch, sondern ergänzt es. Die Texte werden auf ihr fast im Singsang vorgetragen, jedenfalls höchst gekonnt mit Musik verschränkt. Dafür zeichnet Christoph Clöser verantwortlich, der u.a. als Gründungsmitglied von Ugly Culture bekannt geworden ist: mit Bariton-, Tenor- und Sopransaxophon, mit Schlagzeug und Stimme; Hummelt selbst gibt noch die Triangel dazu. Vor allem seine eigenen Texte, die, wie gesagt, diese Aufmachung nicht nötig haben, sie aber gut vertragen.
Die Untertitel verbeugen sich weitgehend vor dem Eichendorffschen Motto aus dem Taugenichts: aus der ferne / in der fremde / diskontinuum / in der stille / die aussieht. Die Texte geben dieser Romantikanspielung kaum nach. „in der stillen Pracht / … Flüstert’s wie Träumen / Die ganze Nacht“, heißt es bei Eichendorff. Bei Hummelt erscheint „die stille“ eher als Bedrohung; sie macht Gefahren beziehungsweise Ängste hörbar, die sonst verdeckt sind:

was sind auf einmal für verdünnte stimmen
langgezogen in dem innenhof
was schrilles (panisches) kommt
in die abendstunde so nah herangeweht

Die Erfahrungen der Gegenwart sind nicht dem romantischen Zwielicht verbunden, sondern großteils dem künstlichen Licht, das Außen und Innen fließend macht – „indifferente schattierungen“, so daß die Elster aus dem „Parsifal“-Prolog herbeizitiert werden muß, um Schwarz und Weiß wieder zu scheiden, nicht zu „verhuschen“.
Sehr viele Gedichte geben dem klassischen Jambus nach, auch wenn Hummelt das durch Zeilenbruch aufzulösen sucht. Die Reime haben sich oft taktvoll ins Innere der Zeilen zurückgezogen, sie spielen trotzdem eine bedeutende Rolle, teilen den Versen ein Melos mit, das häufig weiter reicht als die bloße Aussage: „hell u. klar“ (Hummelt kürzt das und ab) wird dann zum Leitmotiv für „das noch junge jahr“, auch wenn die Zeilen sich erst durch den Leser zusammenfinden müssen.
Die Bilder sind sparsam gesetzt/benutzt, halten zumeist ein ganzes Gedicht lang vor, ohne verschlissen zu werden. So arbeitet „spät im sommer“ mit dem Eindruck: „mit licht durchschossener maschendrahtzaun“. Daran lagern sich Bilder, die nachvollziehbar gehalten werden: „raster für eine fotografie“, „schuttgelände“. Auge-Gitter-Netzhaut, Vogelnetz.
Die Bildfolgen Hummelts sind so offen gebaut, daß er sich die Musik dazu leisten kann. Zugleich sind sie so intrikat und gebildet, daß sie eine lesende Versenkung gestatten. Der Maschendrahtzaun führt wie von allein auf das emblematische Bild des Vogels im Käfig, der nach mittelalterlicher Tradition die Seele im Körper meint.
Doch der Schluß geht über eine solche Anspielung hinaus, indem er sie in einen Konjunktiv setzt, der (die Belesenen) wiederum auf Eichendorff verweist („Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus“):

wie verletzlich
wäre auch der nur geahnte
vogel, flöge er
hin durch ein solches netz

Doch muß man dem Mißverständnis wehren, es seien Gedichte für Unterrichtete. (Klar – je mehr man kennt, desto mehr Freude hat man beim Lesen, das ist immer so.) Viele Gedichte Hummelts arbeiten eine Geste aus (Schenkeldruck beim Reiten, den Abflug der Spatzen vom Fenstersims, ein verspanntes Liebespaar), mit Bildern und Vergleichen, die neu/unerhört und oft sehr komisch sind. Und auch mit seiner Formkunst (wohltuend präsent) leistet sich Hummelt hübsche Scherze, etwa wenn er den Kreuzreim, die Naturschrift, das Sonett, die „Winterreise“ oder den Benn-Ton („nicht sehr beweglich im gestänge“: turnjunge) hochnimmt.
Das führt hier und da zu kalauerhaften Gesten, ist aber ein wohltuender Untergrund für jene etwas schrägen, ganz starken Texte am Ende des Bandes, die unterm sarkastisch-ironischen Titel „die aussicht“ Innensichten eines zeitgenössischen Jugendlichen entwickeln: „zerstreute ichfigur“, durch nichts als „schwund“ gekennzeichnet, weit weg vom Bennschen Pathos der Selbstpreisgabe.
Auch die Reime geben nicht mehr viel her, sollen nur daran erinnern, daß man das mal konnte. Hummelt geht taktvoll / subtil auf die „Irren-Poesie“ zurück (ohne sie, wie zum Beispiel Kipphardt, durch Nachahmung zu denunzieren): Fragmentarisches Reden, Ambivalenz der Zeilenbrüche / Übergänge, die Vergegenständlichung des Selbst und seine Behauptung im Zeugnis der Vergangenheit, das Stocken beim Wort „Gleise“, das ein Ende der Rede/Person bezeichnet – es ist eine sehr anrührende zeitgenössische Version der „Winterreise“, mit der Hummelts Band schließt.

Alexander von Bormann

 

Norbert Hummelt

Dichtung beginnt manchmal mit einer leisen Drehbewegung. Zum Beispiel mit dem Drehen eines Mühlenrads, das von ferne hertönt, als Echo einer Zeit, die lange versunken ist. In einem Gedicht des Romantikers Joseph von Eichendorff ist mit dem Mühlenrad die Erinnerung an ein Liebesunglück verbunden:

In einem kühlen Grunde,
Da geht ein Mühlenrad,
Mein’ Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat.

Von diesem romantischen Sehnsuchts- und Wehmuts-Ton haben die Gedichte des 1962 geborenen Lyrikers Norbert Hummelt gelernt – aber nicht nur davon. Hummelt hat ja ursprünglich als experimenteller Dichter im Umfeld der heftigen Sprachzertrümmerer Thomas Kling und Marcel Beyer zu schreiben begonnen, mit einer unübersehbaren Lust am parodistischen Demontieren der lyrischen Altvorderen. 1993 erschien sein erstes Gedichtbuch im Ostberliner Galrev Verlag, der Band knackige codes, in dem er sogenannte „Pick-Ups“ aus den Sprachfetzen des Kommunikationsalltags sammelte und zu ironischen Versen mixte. Aber schon in dem folgenden Band singtrieb (1997) besann sich Hummelt auf die romantische Tradition der Dichtung. Die Zauberworte Joseph von Eichendorffs wurden nicht mehr ironisch zitiert, sondern zum Ausgangspunkt eines neuen feierlichen Sehnsuchts-Tons. Die zweite Klangspur, die Hummelt in seine Dichtung aufgenommen und neu belebt hat, sind die Four Quartets des amerikanischen, eigentlich englischen Weltpoeten T.S. Eliot. In einer kongenialen Übertragung, an die er viele Jahre seines Lebens verwendet hat, ist Hummelt den Existenz-Gesängen von Eliots Quartetten nähergekommen, hat er dessen dunkle Lebensmelodie anverwandelt.
Aber wo dreht sich das romantische Mühlenrad seiner Poesie? Es nistet und dreht sich in einem „Mühlenbusch“ im Rheinland. Mit subtil gesetzten Binnenreimen und rhythmisch fein austarierten Versen vergegenwärtigt Hummelt in seinem Gedicht „Der Mensch“ eine Urszene des Vaters. Auch hier geht es um einen Liebesverlust – um den Verlust eines Freundes. Der Mensch als „soziales Wesen“ – das ist in entscheidenden Lebensaugenblicken die schlimmste Illusion:

der mensch ist ein soziales wesen, brachte mein
vater einmal hervor, wahrscheinlich ist es nicht
von ihm gewesen, ich habe es nur so bis heute
im ohr. u. mir fällt ein, wie er als knabe einmal
mit einem freund, als er ihn noch besaß, bis fast
zum mühlenbusch wohl mit den rädern fuhr. doch
dieser drehte plötzlich halben weges um u. war
verabredet mit einem mädchen, da wurde es unter
den freunden stumm. ich glaube nicht, dass er mir
das erzählte, vielleicht im mühlenbusch, als wir
im auto fuhren, trug es mir meine späte mutter zu.

„Dichtung“, hat Norbert Hummelt einmal gesagt, „ist lichttherapie, auch wenn sie dunkel ist.“ Und diese poetischen Illuminationen erhellen bei diesem Dichter vom Niederrhein (der mittlerweile in Berlin lebt) immer wieder Urszenen der Kindheit, Begegnungen mit der Mutter und dem Vater und sogar pränatale Zustände. Hummelt evoziert in seinen sanft fließenden Langzeilen „viele zarte Wunder“, die sich an der Grenze von Schlafen und Wachen einstellen. In seiner Sprache der Vergänglichkeit spricht ein Ich, das sich bevorzugt in den unbefestigten Bezirken zwischen Schlaf, Traum und Wachzustand aufhält – ein Ich in den Zonen des Dämmerns und der Trance.

Michael Braun, aus: Gegenstrophe Nr. 1. Blätter zur Lyrik, Werhahn Verlag, 2009

„Was sich reimt, wird gegessen“

− Einige prinzipielle Überlegungen im Anschluß an Norbert Hummelts (neue) Gedichte. −

I.
Wenn man über Norbert Hummelts Gedichte etwas sagen möchte, dann läßt sich von den Diskussionen nicht absehen, die in den letzten Jahren um die neue deutsche Literatur geführt wurden. Seine Gedichte scheinen mit den Auseinandersetzungen untergründig in einer grundsätzlichen Verbindung zu stehen.
Wenn sich Hummelt über andere Autoren äußert, dann fallen die Reizvokabeln, die im Kern den Streit um das Wohl und Wehe der neuen deutschen Literatur ausgelöst haben und noch auslösen, und es wird schnell deutlich, an welche Denkrichtung er zumindest in seinem eigenen Nachdenken über Literatur Anschluß sucht. Ein Zitat: „Jandl zähle zu den Autoren, die die von den Nazis gekappten Fäden der Moderne wieder aufgenommen hätten…“
Nun gehört Hummelt nicht zu den Autoren, die mit einer Trompete am Mund geboren worden sind, sein grundunauffälliger Satz offenbart aber dennoch ein Ethos, das viele Autoren besitzen, die in den achtziger Jahren ihre ersten Schritte als Autoren unternommen haben. Sie suchen, was ihnen Jandl gut eine Generation früher vorgemacht hat, ebenfalls den Anschluß an die Avantgarde, die „Moderne“, um in Hummelts Sprachgebrauch zu bleiben, und damit ist eine wesentliche Entscheidung gefallen, wie ihre Literatur aussehen soll: gebrochen, offen, sich dem schönen (glättenden) Schein entziehend…
Und Hummelt hat Gedichte geschrieben, die durchaus eine Nähe zu dieser wiederauflebenden Avantgardetradition besitzen. 1993 veröffentlichte er den ersten Gedichtband knackige codes bei galrev, einem Verlag, der seinen ganzen Ehrgeiz darin legte, Gedichte zu publizieren, die beschädigt waren und die darin den notwendigen und einzig legitimen Ausdruck für die Beschädigungen sahen, von denen wir alle gezeichnet sind. Ein Beispiel:

Aggressive Rückkopplung, irre versibel
und das ist dann auch, manchmal flatter-
haft in seinen erscheinungen, erratisch?
erraten, Auch Defekt? TÜV fällig? Unfall?

Hier wird die Sprache buchstäblich in Unfälle verwickelt. Die Worte werden aufgesplittert, Orthographie, Grammatik, Syntax werden nach neuen Regeln geordnet, damit sich neue Bedeutungen formieren können. Und diese Verse sind keineswegs das Ergebnis, das sich bei einem einmaligen Ausflug in die Regionen des sprachlich Irregulären einstellt – etwas das jedem jüngeren Lyriker in seinem Übermut einmal zugestanden werden muß. Hummelt hat auch noch eine Reihe anderer Gedichte geschrieben, in denen sein Umgang mit der Sprache keineswegs halt macht vor den Schranken, die vom Duden oder dem, was semantisch als korrekt anzusehen ist Halt machen. Und damit auch das im argumentativen Getümmel nicht verlorengeht: diese Gedichte sind gut.

ich äße gerne reis mit zimt und zucker
du sagst es fehle wieder mal das salz
du äßest gerne reis mit zimt und salz
ich äße lieber salz mit zimt und zucker

In diesem „kulinarischen sonett 1“ verschiebt er die Grenze des semantisch (im realistischen Sinn) möglichen und dringt in die Beziehungszonen eines Paares vor, in denen die Sprache einer ihrer wichtigsten Aufgaben nicht mehr gewachsen ist: Mitteilungen einem Gegenüber zukommen zu lassen.

ich stand der tür im rahmen als ich dachte
wie immer ich es wende u. betrachte
wohin ich auch mein hab u. gut verfrachte
ich weiß nicht wo ich morgen übernachte

der mond ging auf u. ab als ob er schmachte
als ich bei meinen schafen nächtlich wachte
am horizont das weideland verflachte
ich weiß nicht was der schäferhund da machte

In diesem „bukolischen sonett“, das in Hummelts 2. Gedichtband singtrieb (1997) enthalten ist, tritt der Reim in epidemischem Ausmaß auf. Er infiziert jede Zeile, so daß, was immer gesagt werden soll, es auf „achte“ enden muß, gleichgültig, welche Rückwirkungen das auf den Sinn des Verses hat. Der Autor nähert sich damit der messerscharf gezogenen Grenze, hinter der der Irrsinn nicht mehr zu zügeln ist, und von der zu überschreiten er sich, je weiter sich seine Bewußtseinsspirale in entlegene Höhen dreht, immer weniger zurückhalten kann.
So weit so gut, könnte man denken, und in Hummelts Gedichten jene zugegeben moderate Fortsetzung einer Avantgarde sehen, die in August Stramm und Kurt Schwitters ihre Urväter hat und deren Kindeskinder zahllos sind. Doch in Hummelts Gedichten und vor allem in seinen neuen macht sich eine Tendenz bemerkbar, die weg von Brüchen und hin zu formaler Geschlossenheit strebt. Im Gedicht „der letzte sittich“ etwa: „ich kann mein trillkorn still / im schnabel rollen / so lange bis die letzte mauser ist“. Auch wenn man beflissen Ausschau hält, ist in diesen Zeilen nicht zu erkennen, daß ihr Autor radikale Schreibmethoden fortsetzen wolle, und in vielen anderen Zeilen seiner neuen Gedichte herrscht auch ein formal gut ausgebildeter Belcanto-Ton, in den linder Weltschmerz und sachte Todesangst hineingewoben sind. Diese äußerlich gezügelten Gedichte lassen einen ganz anderen Schluß zu als den, hier solle nochmals der Avantgarde gedient werden. Im Grunde ist Hummelt damit bei einer Position angekommen, die mit dem Versuch, an die progressiven Autoren der 20er Jahre anzuknüpfen, nur eines noch gemeinsam hat, in der gleichen Zeit formuliert worden zu sein: ebenfalls Anfang der 50er Jahre.

In allerletzter Zeit stößt man bei uns auf verlegerische und redaktionelle Versuche, die Art Neutönerei in der Lyrik durchzusetzen, eine Art rezidivierenden Dadaismus, bei dem in einem Gedicht etwa sechzehnmal das Wort ,wirksam‘ am Anfang der Zeile steht, dem aber auch nichts Eindrucksvolleres folgt, kombiniert mit den letzten Lauten der Pygmäen und Andamanesen…

Damit sind wir bei Gottfried Benn von 1951 angekommen, und Hummelt scheint sich in mindestens zwei Widersprüche gröbstem Kaliber verwickeln zu wollen. Denn entweder schlägt er sich auf die Seite der experimentierfreudigen Autoren, dann schließt das allerdings den formal durchgebildeten leichten Ton aus, der in Gedichten wie „der letzte sittich“ vorherrscht, oder aber er begibt sich auf die Seite der wachsenden Zahl von Autoren, für die ein Gedicht in seiner reinen Form gelungen sein muß, was umgekehrt aber einen forciert lockeren Umgang mit Grammatik und Syntax ausschließt. Und für eine von beiden Richtungen müßte er sich entscheiden! Die Neoavantgardisten können in jemandem, der sich um formale Perfektion bemüht, nur einen Vertreter des literarischen roll backs sehen, und für die verkappten Benn-Nachfolger hatte sich das, was Stramm und Schwitters taten, mit diesen Autoren erledigt. Ein Anknüpfen daran ist nichts als schlappe „Repetition“, kombiniert dann noch mit „Lauten der Pygmäen“, im besten Fall also literarisch unerheblich.

II.
Aber Hummelt pflegt in seinen Gedichten auch noch den Kontakt zu Autoren, zu denen selbst Benn nicht unbedingt zurückkehren wollte – zu Autoren, die, pauschal gesagt, der Romantik zugerechnet werden.
In den knackigen codes ist er zu einer eigenwilligen „Winterreise“ aufgebrochen. Jemand möchte herausfinden, was ihn ausmacht, es scheint ein Autor zu sein, und dieser Autor erinnert sich an seine Lektüre der „Winterreise“. Was er als wichtig für sich auflistet, bleibt abstrakt: „meine sprache, mein auge, mein fenster, mein platz“. Klar dabei wird nur: Hummelts Winterreisender ist kein Reisender im üblichen Sinn, mit einer gewissen Lust („mein platz“) verharrt er immobil an seinem Fenster, und falls er doch etwas unternehmen wollte, dann ist daran nur eines seiner Organe beteiligt: die Augen. Doch auch wenn seine Augen auf Wanderschaft gehen und „auf die straße sehen, bleibt sich alles gleich“. Etwas mehr ins Detail geht dieser Augen-Wanderer, wenn es beschreibt, was sich seinem Blick bietet: „die farben der ampeln im weißen neonlicht, ein schneebogenleuchten im künstlichen winter“. Zum ersten Mal ist von Winter die Rede, doch dieser Winter bleibt ein ,,künstliches“ Produkt oder verflüchtigt sich in die Sprache: „schneebogenleuchten“. An der Szenerie ändert sich nichts, sie bleibt Szene, eine Art von Bühnenbild, vor dem ein Stück gespielt werden könnte, vor dem aber nie ein Stück gegeben werden wird – nicht einmal das Leben.
Eine Winterreise also ohne Eis und Schnee, ohne „Wirtshaus“, „Lindenbaum“ und „Frühlingstraum“, eine Winterreise, und Hummelt baut in sein Gedicht Zitate von Wilhelm Müller ein, ohne ein „Mädchen“, das „von Liebe spricht“, dafür aber von Phantomängsten: Wenn Schneeflocken kämen, grämt sich Hummelts Schriftsteller im Gedicht, könnten sie seine Sprache beschädigen. Kurz: Eine Winterreise zu der es nicht kommt, bzw. eine, die sich zögernd in einem autistischen Irrealis abspielen könnte.
Und damit ist das Zentrum seiner Generationserfahrung erreicht und wie Hummelt als Schriftsteller darauf reagiert. Es geht um die wortreiche Beschreibung von so gut wie nichts; Hummelt ist schon zu einer Winterreise aufgebrochen, denn auch das „klare wasser“ kann tückisch sein, besonders dann, wenn es außer klarem Wasser sonst nichts gibt. Pathetisch gesagt, geht es um die Schrecken des Belanglosen, und mit diesen Schrecken setzt er sich indirekt auseinander. Er spricht im Negativen davon, und das heißt: Er spricht von einer Winterreise, die keine ist, und ohne darauf auch nur ein Wort zu verwenden, wird deutlich, daß er damit genau seine Winterreise meint, die Winterreise, die er fassen will.
In Müllers „Winterreise“ spielt der Klang eine große Rolle („Von der Straße her ein Posthorn klingt, / Was hat es, daß es hoch aufspringt, / Mein Herz?“) genauso wie bei einem anderen Autor, den Hummelt gerne in eigener poetischer Sache einsetzt: Josef Eichendorff. Auf der CD, die es zu dem Band singtrieb gibt, hat er auch ein Gedicht von Eichendorff gesprochen:

SEHNSUCHT

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam Stand,
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leibe entbrennte,
Da hab ich mir heimlich gedacht,
Ach wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht.

Diese Verse könnte eigentlich Hummelt geschrieben haben! „Am Fenster“ der „einsame Stand“ im „stillen Land“ – genau dorthin fühlt er sich hingezwungen. Auch das Herz, das im Leib entbrennt, wenn es das Posthorn hört – bei Hummelt könnte davon eine gleich große Verlockung ausgehen. Und mit dem doppelten Gebrauch des Konjunktivs von „können“ ist man mit Eichendorff tatsächlich bei Hummelt angekommen. In Eichendorffs Gedicht herrscht ein Vergeblichkeitston, den Hummelt in seinen Gedichten aufgreift. Eichendorff beschwört eine prekäre Idylle. Er würde gerne mit auf Reisen gehen, aber er weiß genau, daß er sich nie in dieser Postkutsche befinden wird, die mit schönem Klang durch die Sommernacht rauscht. Er bringt eine Sehnsucht zum Erklingen, die sich gewiß ist, daß sie sich nie erfüllen wird. Und je schöner diese Sehnsucht vorgebracht wird, umso schneidender schließt sich jeder Gedanke an Realisierung aus. Diesem Ton folgt Hummelt in seinen Gedichten und arbeitet ihn weiter aus.

III.
Aus lauter Übermut kann man gleich noch einen Spätromantiker zitieren, und das nicht deshalb, weil Hummelts Gedichte keinen eigenen Wert besäßen – aus Alten, im Reflex auf Altes entstehen erst Neues:

Eduard Mörike

AUF EINE LAMPE

Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückst du,
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,
Die Decke des nun fast vergessenen Lustgemachs.
Auf einer weißen Marmorschale, deren Rand
Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht,
Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.
(…)

Hummelts neue Gedichte haben einen Zug zum Kleinen, doch Achtung: In ihrer Verkehrung der Welt wie im „letzten sittich“ oder darin, daß in „ziffern“ einem Strichcode die Fähigkeit zugesprochen wird, jemanden „seltsam“ anschauen zu können, behalten diese Gedichte ihren Vergeblichkeitston bei. Und das heißt: sie geben nicht preis, weswegen sie geschrieben sind dem, so wie es ist, sich zu widersetzen.
Doch in diesen Gedichten wird noch ein entscheidender Schritt weitergetan. Mörikes „Lustgemach“ ist dafür die Vokabel, die die Richtung anzeigt, in der Hummelt aufgebrochen und schon ein gutes Stück vorangekommen ist. „Lustgemach“ klingt im fein gedrechselten Kontext von Mörikes Lampe deplaziert und im Haushalt eines schwäbischen Pfarrers nach allem, was als verboten gelten muß. Dieses Wort hebt das Gedicht erst weit über eine handwerklich gekonnte Gegenstandsbeschreibung, fein gegliedert durch Rhythmus und Reim, hinaus. Dieses eine Wort strahlt auf das ganze Gedicht ab, es verleiht ihm eine diabolische Kraft und macht deutlich, mit wieviel Wortaufwand diese Welt in Bann geschlagen werden muß, damit sie durch Faszination für Erotik nicht in Stücke springt. Diese Welt muß mit einer Anmut aus zweiter Rand regelrecht bestochen werden, damit sich die Begierden einigermaßen zügeln lassen. Ein ähnliches Spiel wird auch in Hummelts Gedichten betrieben, nur sind zu Liebe Tod noch andere Dinge hinzugekommen, die Angst auslösen. Eines hört auf den emotional neutral klingenden Begriff „Zeichen“.
In „hungrig u. wach“ wird die Situation am Fenster nochmals aufgegriffen, doch ist diesesmal der „unbestirnte / himmel, den ich sonst ausschnittweise / durch die jalousie vermuten mochte, doch / so weit ich immer hoch u. seitwärts suche“ verstellt, und ähnlich ineinandergeschoben sind Idylle und deren Störung durch leicht gefügte aber immer sperriger sich aufeinander beziehende Perioden, bis kein Himmel mehr in dieses Gedicht hinabzuscheinen vermag, und der Autor des Gedichts in seinem spielerisch vermurrten Unmut verharren kann. Seinen Widerstand gibt er nicht auf, aber in den Reibungen des Gedichts ist die postadornitisch so verhätschelte Agonie weit hinter sich gelassen, die vor lauter verirrter Aufklärung und versäumter Revolution nur in ihrem Abstraktionsgrad fröhlich miteinander konkurrierende Depressionsvolte geschlagen hat. Diese Gedichte lassen sich zumindest die Lust am Gedicht nicht abhandeln.
Entsprechend existieren für Hummelt auch die althergebrachten Widersprüche nicht. Warum soll er nicht das Gedicht in seiner Form zur Vollendung bringen, ohne sich dabei über die Beschädigungen des Lebens hinwegzusetzen? Und waum soll er nicht Grammatik und Syntax zum Einsturz bringen ohne sich dabei gleich im derben Dickicht des Mißglückten zu verfangen? Er hat keine Berührungsängste vor Reimen, Lautmalereien und Lautgedichten, er benutzt Rhythmus und stolpernde Semantik, wann es ihm paßt. In seinen Gedichten ist er gleichermaßen ein strenger Gottfried Benn und ein Avantgardist. Beide Schreibprinzipien reiben sich in seinen Sprachgebilden, und Hummelt läßt diese in ihrer angeblichen Unvereinbarkeit aus den 50er Jahren geerbten Positionen, die in den 70ern mit einer angriffslustigen Sympathie für alles, was mit Avantgarde zu tun hatte, weit hinter sich.
Und damit sind auch wir am Ende bei Ernst Jandl angekommen und dessen Gedicht „die ersten zwölf zeilen“:

die zeile, die vor mir steht still
und eine zweite zeile will
ich habe diese ihr erfunden
und schon zwei weitre dran gebunden
ein ende ist noch nicht in sicht
(…)

Das einzige was zählt ist das Gedicht. D. h. ob das, was auf dem Papier mit Buchstaben erzeugt wurde, ein Gedicht ist oder nicht. Dabei ist alles willkommen, was zum Gedicht führt, denn „was sich reimt, wird gegessen“. Es herrscht bei höchsten literarischen Ansprüchen der reine Pragmatismus. Oder, um eine sture Diskussion auslösende Reizvokabel vom Anfang zu verwenden: Mit der Moderne wurde die Moderne überwunden. Endlich und endgültig, möchte man mit einem Stoßseufzer hinzufügen.

Klaus Siblewski, manuskripte, Heft 143, 1999

Verdünnte Stimmen

– Norbert Hummelt lebt, wie viele junge Autoren heutzutage, in Köln. Seine Gedichte haben einen ganz eigenen Ton und sind über ein Probierstadium längst hinaus. Schön, daß Urs Engeler ihm einen Band in seiner CompactBuch-Reihe eingeräumt hat: Der O-Ton, das eigene Sprechen, verhilft den Texten zu einer ganz anderen Präsenz als die Buchstaben. Trotzdem behauptet auch hier das Selberlesen sein Recht, möchte man sich nicht alle Texte vom Autor entwenden lassen. –

Das Buch ist sehr schön gestaltet, mit allerlei Abbildungen, interessantem Format und Satz (Gestaltung Marcel Schmid, Basel) – die CD denunziert nicht das Medium Buch, sondern ergänzt es. Die Texte werden auf ihr fast im Singsang vorgetragen, jedenfalls höchst gekonnt mit Musik verschränkt. Dafür zeichnet Christoph Glöser verantwortlich, der u.a. als Gründungsmitglied von Ugly Culture bekannt geworden ist: mit Bariton-, Tenor- und Sopransaxophon, mit Schlagzeug und Stimme; Hummelt selbst gibt noch die Triangel dazu. Vor allem seine eigenen Texte, die, wie gesagt, diese Aufmachung nicht nötig haben, sie aber gut vertragen.
Die Untertitel verbeugen sich weitgehend vor dem Eichendorffschen Motto aus dem „Taugenichts“:

aus der ferne
in der fremde
diskontinuum
in der stille

die aussieht.

Die Texte geben dieser Romantik-Anspielung kaum nach.

In der stillen Pracht
… Flüstert’s wie Träumen
Die ganze Nacht

heißt es bei Eichendorff. Bei Hummelt erscheint „die stille“ eher als Bedrohung; sie macht Gefahren beziehungsweise Ängste hörbar, die sonst verdeckt sind:

was sind auf einmal für verdünnte stimmen
langgezogen in dem innenhof
was schrilles (panisches) kommt
in die abendstunde
… so nah herangeweht

Die Erfahrungen der Gegenwart sind nicht dem romantischen Zwielicht verbunden, sondern großteils dem künstlichen Licht, das Außen und Innen fließend macht – „indifferente schattierungen“, so daß die Elster aus dem „Parsifal“-Prolog herbeizitiert werden muß, um Schwarz und Weiß wieder zu scheiden, nicht zu „verhuschen“.
Sehr viele Gedichte geben dem klassischen Jambus nach, auch wenn Hummelt das durch Zeilenbruch aufzulösen sucht. Die Reime haben sich oft taktvoll ins Innere der Zeilen zurückgezogen, sie spielen trotzdem eine bedeutende Rolle, teilen den Versen ein Melos mit, das häufig weiter reicht als die bloße Aussage: „hell u. klar“ (Hummelt kürzt das und ab) wird dann zum Leitmotiv für „das noch junge jahr“, auch wenn die Zeilen sich erst durch den Leser zusammenfinden müssen.
Die Bilder sind sparsam gesetzt/benutzt, halten zumeist ein ganzes Gedicht lang vor, ohne verschlissen zu werden. So arbeitet „spät im sommer“ mit dem Eindruck: „mit licht durchschossener maschendrahtzaun“. Daran lagern sich Bilder, die nachvollziehbar gehalten werden: „raster für eine fotografie“, „schuttgelände“. Auge-Gitter-Netzhaut, Vogelnetz.
Die Bildfolgen Hummelts sind so offen gebaut, daß er sich die Musik dazu leisten kann. Zugleich sind sie so intrikat und gebildet, daß sie eine lesende Versenkung gestatten. Der Maschendrahtzaun führt wie von allein auf das emblematische Bild des Vogels im Käfig, der nach mittelalterlicher Tradition die Seele im Körper meint.
Doch der Schluß geht über eine solche Anspielung hinaus, indem er sie in einen Konjunktiv setzt, der (die Belesenen) wiederum auf Eichendorff verweist („Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus“):

wie verletzlich
wäre auch der nur geahnte
vogel, flöge er
hin durch ein solches netz

Doch muß man dem Mißverständnis wehren, es seien Gedichte für Unterrichtete. (Klar: je mehr man kennt, desto mehr Freude hat man beim Lesen, das ist immer so.) Viele Gedichte Hummelts arbeiten eine Geste aus (Schenkeldruck beim Reiten, den Abflug der Spatzen vom Fenstersims, ein verspanntes liebespaar). mit Bildern und Vergleichen, die neu/unerhört und oft sehr komisch sind. Und auch mit seiner Formkunst (wohltuend präsent) leistet sich Hummelt hübsche Scherze, etwa wenn er den Kreuzreim, die Naturschrift, das Sonett, die „Winterreise“ oder den Benn – Ton („nicht sehr beweglich im gestänge“: turnjunge) hochnimmt.
Das führt hier und da zu kalauerhaften Gesten, ist aber ein wohltuender Untergrund für jene etwas schrägen, ganz starken Texte am Ende des Bandes, die unterm sarkastisch-ironischen Titel „die aussicht“ Innensichten eines zeitgenössischen Jugendlichen entwickeln: „zerstreute ichfigur“, durch nichts als „schwund“ gekennzeichnet, weit weg vom Bennschen Pathos der Selbstpreisgabe.
Auch die Reime geben nicht mehr viel her, sollen nur daran erinnern, daß man das mal konnte. Hummelt geht taktvoll/subtil auf die ,Irren-Poesie‘ zurück (ohne sie, wie zum Beispiel Kipphardt, durch Nachahmung zu denunzieren): Fragmentarisches Reden, Ambivalenz der Zeilenbrüche/Übergänge, die Vergegenständlichung des Selbst und seine Behauptung im Zeugnis der Vergangenheit, das Stocken beim Wort „Gleise“, das ein Ende der Rede/Person bezeichnet – es ist eine sehr anrührende zeitgenössische Version der Winterreise, mit der Hummelts Band schließt.

Alexander von Bormann, die horen, Heft 192, 1998

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Ernest Wichner: In eine stille Gegend
Basler Zeitung, 28.11.1997

 

 

Fakten und Vermutungen zum Musiker

 

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shi 詩 yan 言 kou 口
Interview mit Norbert Hummelt am 22.5.2008

 

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Norbert Hummelt

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