Norbert Hummelt: Stille Quellen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Norbert Hummelt: Stille Quellen

Hummelt-Stille Quellen

DAS GLÜCK BEI EICHENDORFF

erst gegen abend klart es wieder auf zu
spät um nochmals vor die tür zu gehen
da bleibt mein herz bei den regalen stehen
erst kaum geahnt lag jener frühe reiz in
den paar büchern mütterlicherseits von
denen ich die schmalen rücken sah sie
wurden abgestaubt u. waren immer da wie
aber las er sie in welchem dunkeln sinn
gab er sich innerlich den hellen bildern hin
u. träumte sich aus einer engen kammer
um dessen tod herum ich erst geboren bin
wieso warum hat er nichts unterstrichen
ich hätte gerne unsern strich verglichen u.
weiß ja nicht mit welcher hand er schrieb u.
welche lahm hing seit dem ersten krieg erst
gegen abend liest man klart es wieder auf

 

 

 

Norbert Hummelt (geb. 1962 in Neuss)

(…) In seinen neuen Gedichten macht er sich auf den Weg zu den stillen Quellen, die er an lange nicht mehr besuchten Orten seiner Kindheit findet, die im Halbdunkel der Erinnerungen und des Traumes fließen. Er befragt und tastet seine Herkunft ab, spürt Werken der Kunst und der Literatur nach, die alten und neuen Kriege hallen in seinen Versen nach – und Norbert Hummelt stellt unter Beweis, daß er unter den bedeutenden Lyrikern deutscher Sprache mit seinem eigenen, unverwechselbaren melodisch-präzisen Ton einen festen Platz gefunden hat.

Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 2004

Norbert Hummelt

sucht nach den stillen Quellen seiner Herkunft, er überläßt sich Bildern, die sich in seinen Träumen eingestellt haben und die als Bruchstücke in seinen Erinnerungen aufgetaucht sind. Er nimmt die Wirklichkeit in ihren banal-grausamen Fetzen wahr und verdichtet diese Eindrücke zu melodischen Gedichten, die in der deutschsprachigen Literatur einen ganz einzigartigen, provozierend schönen Glanz ausstrahlen.

Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 2004

Mit seinem ersten Gedichtband

in der Sammlung Luchterhand, Zeichen im Schnee, hat Norbert Hummelt unter Beweis gestellt, daß er eine ganz originäre Stimme in der deutschen Literatur ist. Ausgezeichnet mit dem Mondseer Lyrikpreis und mit dem Hermann Lenz-Förderpreis, hat er sich von so unterschiedlichen Dichtern wie Joseph von Eichendorff, Gottfried Benn und Ernst Jandl anregen lassen und kehrt zurück zu den stillen Quellen: zu seiner Herkunft und zu unseren Verstrickungen in die schwierige deutsche Geschichte. Ob Rückgriff auf die Tradition oder Fortsetzung experimentellen Schreibens – immer geht es ihm dabei um das Herstellen von Kunst. Die Bausteine dafür findet er in der Sprache.

Luchterhand Literaturverlag, Ankündigung

 

Sprudelverse

– Eichendorff und Rheinprovinz: Gedichte von Norbert Hummelt
. –

Wer seinen Gedichtband Stille Quellen betitelt, scheint Trostsurrogate, Sentimentales, ja Kitsch zu bieten. Norbert Hummelt riskiert diese Verdächte, doch zum Glück ist nichts daran. Er operiert auch nicht mit der bloßen Ironisierung des Titels, obwohl ihm Ironie nicht fremd ist. Hummelt ist ein Poet auf dem Rückweg. Er sucht buchstäblich nach seinen Quellen, nach Herkunft und Kindheit, aber auch nach jenen Dichtern, zu denen das Bild von den stillen Quellen paßt.
Hummelt, 1962 in Neuss geboren und in Köln lebend, begann in der rheinischen Szene der Wortinstallationen und Sprechkonzerte zu schreiben. In Knackige Codes faßte er 1993 seine Versuche zusammen, Schrift und Oralität in der Lyrik zu verbinden. Deutlicher noch machte das der Band Singtrieb (1997), mit dem CD-Mitschnitt einer Lesung mit Saxophonbegleitung. Die Gedichte von Zeichen im Schnee (2001) dagegen dimmen den Ton herunter, wenden sich eher an den stillen Leser. Sie zeichnen zarte, manchmal etwas preziöse Liebesszenen, auch Idyllen aus Kindheit und Jugend. Und wenn ein Titel „selbstbildnis als jüngling mit kirschen“ heißt, ist das ohne Ironie formuliert – als wär’s ein Fin-de-siècle-Gedicht, freilich aus dem 20. Jahrhundert.
Die neuen Gedichte machen Ernst mit der Rückkehr zur Stille und zu den Quellen. Die Stille scheint vor allem in den Erinnerungen an eine rheinische Kindheit auf: in den Namen von kleinen Orten und Dörfern, in der Erinnerung an Wohnungen, an Details wie das „brandloch im wachstuch, die tapetentönung“, in Erinnerungen an eine Zeit, zu der Worte wie „kubakrise“ und „gummitwist“ gehören. Das ist alles mit dem Verwundern geschildert, woher man später „die genauen bilder / den blick fürs dunkle u. das schweigen“ hernimmt.
Vielleicht ist in Hummelts Gedichten ein bißchen viel von diesem nachempfindenden Genuß enthalten. Aber sie haben durchweg etwas Reelles, das Bemühen um die Wiederbelebung einer verlorenen Zeit. Wenn auch der „sammeltassen, nach fünfzig jahren“ allzu nostalgisch gedacht wird, und der Vers „das erste bild, das ich konkret entsinne“ auch ohne den Fetisch des Konkreten auskäme. Lassen wir also dem Dichter seine Entschuldigung durchgehen:

ich hänge nur so an den einzelnen dingen.

Hummelt ist im Vertrauten am besten. Als Regionalist des Kölner Raums ist er ein gefühlvoller Nachfahre Jürgen Beckers.
Beinah noch zuverlässiger als der Halt im Persönlichen und Regionalen ist Hummelts Vertrauen in die Tradition der Poesie, vor allem die Romantik. Sie hat manchmal den Anschein glatter Affirmation. Wer erwartet in einem modernen Gedichtbuch den Titel „das glück bei eichendorff“ oder – in einem anderen Gedicht – die Zeile: „ein vers von eichendorff hat mich noch nie betrogen“?
Das scheint schlicht kulturkonservativ. Doch es wird konterkariert durch das Bewußtsein, daß das alte Gute nicht einfach zu haben ist. Affirmation geschieht im Sinne eines Defizits, eines Verlustes.
Dieses Gefühl überfällt den Poeten auch angesichts der Natur. Selbst sie ist quasi nur noch als Zitat zu haben. So beginnt ein Naturgedicht mit:

bereits die schwüle wirkt wie ein zitat aus
einer andernorts genannten quelle.

Hier sehen wir, was es mit den „stillen Quellen“ auf sich hat: Sie sprudeln reichlich, aber auch reichlich virtuell. Dies zu zeigen ist kein geringes Verdienst Hummelts. Das hebt seine traditionell stilisierten Gedichte über die bloße Konvention hinaus und macht sie interessant und lesenswert.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.3.2004

Das Glück der nahen Dinge

Es gibt ein berühmtes Gemälde des romantischen Malers Caspar David Friedrich, das in seiner etwas plakativen Symbolik kaum noch wahrgenommen wird in der aktuellen Kunstdebatte. Auf diesem Bild ist eine einsame Gestalt zu sehen, weit draussen an der Küste eines Meeres, völlig verloren vor dem gigantischen Wolken- und Nebel-Panorama des Himmels. Es ist eine fast schon Klischee gewordene Szene, die hier in der Konfrontation von einsamer Menschenfigur und übermächtiger Natur vergegenwärtigt wird. Der 1962 im Rheinland geborene Lyriker Norbert Hummelt lässt sich von der ästhetischen Wirkungskraft dieses romantischen Bildes immer noch berühren. Hummelt hat ursprünglich als experimenteller Dichter im Umfeld der heftigen Sprachzertrümmerer Thomas Kling und Marcel Beyer zu schreiben begonnen, mit einer unübersehbaren Lust am parodistischen Demontieren der lyrischen Altvorderen. 1993 erschien sein erstes Gedichtbuch im Ostberliner Galrev-Verlag, der Band knackige codes, in dem er sogenannte Pick-ups aus den Sprachfetzen des Kommunikationsalltags sammelte und zu ironischen Versen mixte. Aber schon in dem folgenden Band (singtrieb, 1997) besann sich Hummelt auf die romantische Tradition der Dichtung.

Romantische Expedition
Die Zauberworte Joseph von Eichendorffs wurden nicht mehr ironisch zitiert, sondern zum Ausgangspunkt eines neuen, feierlichen Sehnsuchtstons. In seinem jüngsten Band, Stille Quellen, unternimmt Hummelt erneut eine romantische Expedition zu den „Glücksstoffen“ seiner Kindheit. Da wird in einem Gedicht „das glück bei eichendorff“ besungen, an anderer Stelle wird ein programmatisches Bekenntnis zum Dichter des Heimwehs abgelegt:

ein vers von eichendorff hat mich noch nie betrogen.

Auch mit dem Friedrich’schen „Mönch am Meer“ hat Hummelt die poetische Auseinandersetzung gesucht. Dabei weiss Hummelt, dass sich mittlerweile zu viele Trivialmythen an die Bilder eines Caspar David Friedrich angelagert haben, als dass sie noch ungebrochen emphatisch heraufbeschworen werden könnten. So kollidiert nun in den Gedichten von Norbert Hummelt das Erhaben-Romantische mit dem Profan-Alltäglichen.
Wenn sich sein lyrisches Ich ins Museum begibt, um sich dem Bild von Friedrich anzuvertrauen, dann ist da sofort ein Störgeräusch, das den magischen Moment der Begegnung konterkariert. Das Rieselgeräusch eines Luftbefeuchtungsapparats und die ästhetische Erfahrung eines Kunstwerks fallen im Gedicht „anderswo“ zusammen:

ich weiss, es ist nur die luftbefeuchtung,
das stete rieseln in den räumen hier, doch
hör ich es anderswo unentwegt rauschen,
das kommt von dem bild da, der mönch
am meer. noch nie zuvor von so nahe
gesehen. was ist das, der dreht sich ja fast
zu mir her. das ist wohl die leinwand, die
langsam verwittert. ein haarriss, der unter der
farbe sich rührt. Fast unheimlich brüchiger
pinselstrich. am dunklen gestade allein steh ich ..

Dass Hummelts Versuche einer Wiederaneignung des Romantischen mit einem Moment religiöser Sehnsucht einhergehen, wird vom Autor fast demonstrativ im Titelgedicht des Bandes markiert. Hier wird die Gestalt des toten Vaters aufgerufen, der Augenblick seines Todes, der bei Hummelt nicht nur in diesem Fall mit der Metapher des Lichts und einem Augenblick heller Offenbarung gekoppelt wird.
Der Romantiker, das zeigen diese Gedichte auf berührende Weise, kann der Macht des Profanen im Alltag nicht entkommen. Das „Glück der nahen Dinge“ (Adorno), das so typisch ist für romantische Dichtung, ist bei Hummelt stets doppelwertig und ambivalent. Immer wieder sind es unspektakuläre Details und einfache Alltagsgegenstände, die sich dem romantisch Schönen und der hehren Kunsterfahrung in den Weg stellen. In einem Essay (NZZ 20./21.3.2004) hat Hummelt darauf hingewiesen, dass auch im Titel seines Gedichtbuchs, der ein bisschen sentimental tönt, diese profane Dimension mitschwingt. Denn der Titel Stille Quellen meint nicht nur die Orte der Ursprünglichkeit und der Kindheit, an denen sich die „Erstbegegnungen mit den Dingen“ vollziehen. Es geht auch ganz wörtlich um Plätze, an denen Wasser oder Öl aus der Erde tritt, und nicht zuletzt auch um den „Quelle“-Katalog, das verheissungsvolle Wunderwerk aus Kindertagen.

Melancholische Hellsicht
Die Stillen Quellen, aus denen Norbert Hummelts Gedichten ein poetisches Erfahrungswissen zufliesst, sind meist im rheinischen Raum lokalisiert. In diesen Kindheitsgedichten, die vom Verlust der Dinge, aber auch vom Schmerz über den Tod geliebter Menschen handeln, sind die sinnlichen Erscheinungen und Alltagsphänomene sehr zart und sehr inständig benannt. Norbert Hummelt hat sehr bewegende Gedichte geschrieben, die sich mit melancholischer Hellsicht in eine Welt der Vergänglichkeiten und verlorenen Paradiese versenken. In diesen Texten spricht ein Ich, das sich bevorzugt in den unbefestigten Bezirken zwischen Schlaf, Traum und Wachzustand aufhält – ein Ich in den Zonen des Dämmerns und der Trance.

Michael Braun, Neue Zürcher Zeitung, 30.4.2004

Jenseits des Haut-Ichs

– Experte für das Präzisionsgedächtnis: Norbert Hummelts Gedichtband Stille Quellen. –

In Norbert Hummelts neuem Band Stille Quellen heißt ein Gedicht „rührmichnichtan“:

ich kann die wiese nicht mit augen messen
ich überblicke ja nicht einen zoll ich
weiß nur dass man die herkulesstaude nicht

anfassen soll .. mir ist auch so schon meine
haut gerötet weil in den nesselwäldern nah
am fluß wächst wieder springkraut aus dem

kaukasus .. das ist mir sonderbar so nah am
rhein kann es unmöglich doch den ganzen
weg vom kausasus bis hier gesprungen sein

so fühle ich so fragen meine finger die kapsel
leise mit der haut doch dann schnellt eine
antwort aus dem kapselinnern: rührmichnichtan.

Natürlich, Gedichte wissen wohl, was Finger fragen. Sie wissen es, sie stehen in direktem Kontakt mit den Sinnen, diesen stillen Quellen, die sich, in der Dichtung, nicht unterscheiden von der Erinnerung, von den Träumen und den Sehnsüchten. Sie sind einander gleich in ihren Schwingungen. Man kann sie an ihren Bewegungen erkennen. Die ertastete Antwort hat eine doppelte Bedeutung. Norbert Hummelt schreibt nicht von dem, was er sieht, sondern von dem, was ihn berührt.
Nur wenn die Samenschoten berührt werden, kann das Springkraut seine Samenkörner herausschleudern und so die Fortpflanzung garantieren. Das vermeintliche Verbot ist zugleich sein Gegenteil, eine Aufforderung, dem blinden Fühlen zu trauen, Empfindlichkeit und Empfindsamkeit nebeneinander zu lassen, so notwendig unverträglich sie auch erscheinen mögen. Notwendigkeit von Absterben und Weiterleben treffen auf die Sehnsucht nach dem Unwiederbringlichen. Und das Schmerzliche an dieser Sehnsucht liegt gerade in ihrem Glanz und in der Ungeduld, mit der sie auftritt. Sie kann es nur, weil sie weiß, dass es vergeblich ist. „Impatiens nolitangere“ lautet der botanische Name des Springkrauts, des Rührmichnichtan. Dem Ungeduldigen, dem das vermeintliche Verbot gilt, ist der unvermeidliche Verlust des Unberührtseins in den Namen eingeschrieben. Auf die Übertretung folgt die zornige Reaktion in Form einer Verschwendung des bis zur Berührung noch verborgenen Schatzes. Was da verborgen war, ist uns, die wir an das glauben wollen, was wir sehen, fremd geworden. „Es sind“, heißt es in dem Gedicht „nocturne“, „die dinge der sichtbaren // welt dafür gemacht dass man sie blind behält / als etwas schwebendes das sich verwandeln / kann.“ Poetischer Erkenntnis ist das Gedächtnis der Anwesenheit eines solchen Metamorphosenschatzes überaus lebendig.

Den bloßen Sinnen nicht zu trauen
In den Gedichten Hummelts kommt es im mehrfachen Wortsinne zum Begreifen. Was mit Augenverstand nicht begriffen, nicht gemessen werden kann, das weiß die Haut, der fragende Finger, die Körpergrenze: hier wird der Name als Formel begriffen: rührmichnichtan. In diesen Gedichten erweist sich Hummelt als Experte für das feine Sensorium von Fingerkuppen, für ihr Präzisionsgedächtnis. Das Verbot der christlichen Metaphysik, den bloßen Sinnen nicht zu trauen, erhält so, in seiner erfahrenen Überschreitung, in seiner botanischen Realität und schließlich in der Topologie seines Namens einen Sinn.
Hummelt ist kein ungläubiger Thomas, dem es nach taktiler Verifikation verlangt, was er in seiner nächsten Umgebung, in den Distanzen nicht fassen kann. Im Gegenteil, das geschriebene Wort der Enzyklopädie stellt ihm in Frage, was er fühlen kann: es kann unmöglich sein, dass dieses Kraut so weit gesprungen ist. Das ist ein Kinderwundern, dem Ferne und Fremde nichts, der Name und sein verführerisches Gebot aber alles gelten. Ein Wissen, eine Gewissheit, von der diese Gedichte wie aus einem unerschöpflichen Speicher zehren.
„Noli me tangere“, sagt Jesus laut Johannes-Evangelium zu Maria aus Magdala, die ihn vorm leeren Grab zunächst für einen Gärtner hält: „Berühre mich nicht, halt mich nicht fest!“ Die Aura soll unberührt bleiben, geschützt, nie verfügbar. Jenseits des Haut-Ichs beginnt die geheimnisvolle Zone des Immateriellen, anziehend und abstoßend zugleich. Dazwischen sorgen die Finger für Nähe, für die sinnliche Erkenntnis inmitten der Verwirrung. Doch die klärt sich, im Gedicht, in seiner gleichmäßigen, auf lockere Binnenreime vorgehenden Bewegung. Die richtet sich in die Vergangenheit, auf Spuren, die sich nur diesem Suchenden zeigen, der nicht nur den Zusammenhängen seines eigenen Lebens nachspürt, sondern auch deren Bedingungen und Vorbedingungen.
Ahnenkunde, Archäologie in eigener Sache, und vor allem immer in ganz eigensinniger Weise gegenwärtig, intim mit dem Jetzt und Hier, mit der Geliebten. Daraus folgen melancholische Konturen:

vor meiner regenbogenhaut beginnt die fremde.

Norbert Hummelt kennt die Gesellen, die ihn da begleiten, die Schattengalerie von zweihundert Jahren deutscher Romantik. Eichendorff und Benn traut er am meisten. All das sind stille Quellen, auch sie sind hör- und lesbar wie die Erinnerungen und Blicke, wie all die Nahaufnahmen weit verstreuter Zeiten. Die stillen Quellen: das sind die Nahtstellen, an denen sich blinde Konturen fügen zu einem Bild. Vielleicht auch kein Bild: Ich ist ein Geräusch.

Guido Graf, Frankfurter Rundschau, 5.5.2004

Von der Kontur zum Bild

ein leises zwicken in der zone hier wo ich
den daumen auf die kordel hielt wie sie
den knoten zuzog überm packpapier das
ziepte etwas ich erinner mich: das musste
weihnachten an ort u. stelle sein mit
bohnenkaffee markenschokolade filter-
zigaretten mit dem duft der großen weiten
welt der dann zu riechen war bis hinter
finsterwalde. das war was anderes als sonst
die schulspeisung: westpakete nannten
die das da. die ostverträge wurden auf
die art geschlossen. cordhosen trug man
nutzte tintenkiller man griff zu salzgebäck
u. sah den siebten sinn u. nahm sein herz
zum schlafen mit sich hoch aufs zimmer
das ziepte etwas ach es ziepte immer

Erhellen, ausloten, erforschen: stille Quellen sind Ressourcen, nicht nur des eigenen Lebens, die diese Gedichte versuchen zu erschließen. Der Dichter als Höhlenforscher der Erinnerung dringt dabei in immer wunderbarere Räume vor und findet sich doch auch unvermittelt wieder in seinem Hier und Jetzt wieder. Vor drei Jahren, als Zeichen im Schnee erschien, waren diese Resonanzräume für Norbert Hummelts Gedichte klein und konzentriert, die Lieder eines „irgendwas suchenden sohns“. Stille Quellen heißt der neue Gedichtband. Hummelt:

Ich denke schon, dass Stille Quellen und Zeichen im Schnee vieles Verbindende haben, bis in einzelne Texte hinein, die auch Motive fort spinnen. Aber ich sehe schon, dass auch was anderes da ist, was ich so nicht geplant habe, aber was hinterher, wenn ein größerer Teil von neuen Texten da ist, was sich dann zeigt, was schon eine Erweiterung, eine Akzentverlagerung ist, die sich vielleicht auch in dem Titel Stille Quellen ausdrückt. Es ist häufig die Rede davon gewesen, dass die Kindheit eine zentrale Rolle spielt. Die ist zwar auch in dem neuen Band noch thematisch, aber es geht doch in den Bezügen, die ich versuche herzustellen, geht es weiter zurück. Es geht weiter zurück über die eigene Lebenszeit hinaus rückwärts. Es geht über Motive der Familiengeschichte vor dem eigenen Hinzukommen ein wenig in ein Dunkel herein, was die Gedichte vielleicht so langsam erhellen können. Zeitgeschichtliche Bezüge sind in dem neuen Band vielleicht stärker ausgeprägt als in Zeichen im Schnee.

In den neuen Gedichten sucht der 1962 in Neuss geborene Hummelt die anschließenden, oft weiteren Räume auf. Dabei werden keine Register gefüllt und abgehakt, wird kein Quellenstudium erledigt. Hummelt verlässt nicht seine Gegenwart. Auf das, was Herkunft heißt, schaut er vielmehr wie mit einem umgedrehten Fernrohr: eine Mikroskopie des Augenblicks und seiner Untergründe. Memorabilien gibt es nie ohne ihre sinnlichen Qualitäten, jede Erinnerung hinterlässt ein Rätsel in der Gegenwart, eine Zone der Ungewissheit, die Intensität einer stillen Quelle.

Für mich ist immer die Frage, wie komme ich an irgendetwas heran. Also, „Quellen“ ist für mich eher eine Richtungsangabe als etwas, wo ich sage, da bin ich schon. Also ein Nachspüren, was Herkunft angeht, in einem sehr umfassenden Sinn, nicht nur biographisch, sondern auch geschichtlich und sicher auch literaturgeschichtlich, geographisch auch. Geographisches spielt, glaube ich, auch eine wachsende Rolle in diesem Band. Und es gibt einen Bereich, der zumindest in einigen Gedichten eine wichtige Rolle spielt, das ist die religiöse Herkunft, der katholische Hintergrund, der schon natürlich in früheren Zeiten da war. Aber man kann ja über viele Dinge, über die man sich vielleicht im Gespräch äußern könnte, lange Zeit nicht schreiben, zumindest in künstlerischer Form nicht schreiben.

Norbert Hummelt nimmt Kontakt zu diesen Quellen auf, sucht den Anschluss an einen steten Strom, der durch ihn hindurch geht und an dem er auf irgendeine Weise, und sei sie noch so entlegen, Anteil hat. Entscheidend ist, dass der Weg zu den Quellen immer wieder neu aufgenommen werden muß, in der Lektüre von Büchern und Briefen, auf Wegen zu Fuß, immer wieder neu von der Gegenwart aus. Genau diese Distanz bringen die Gedichte in eine Form.

RÜHRMICHNICHTAN

ich kann die wiese nicht mit augen messen
ich überblicke ja nicht einen zoll ich
weiß nur dass man die herkulesstaude nicht

anfassen soll .. mir ist auch so schon meine
haut gerötet weil in den nesselwäldern nah
am fluß wächst wieder springkraut aus dem

kaukasus .. das ist mir sonderbar so nah am
rhein kann es unmöglich doch den ganzen
weg vom kausasus bis hier gesprungen sein

so fühle ich so fragen meine finger die kapsel
leise mit der haut doch dann schnellt eine
antwort aus dem kapselinnern: rührmichnichtan

Natürlich, Gedichte wissen wohl, was Finger fragen. Sie wissen es, sie stehen in direktem Kontakt mit den Sinnen, diesen stillen Quellen, die sich, in der Dichtung, nicht unterscheiden von der Erinnerung, von den Träumen und den Sehnsüchten. Sie sind einander gleich in ihren Schwingungen. Man kann sie an ihren Bewegungen erkennen. Und die ertastete Antwort hat eine doppelte Bedeutung. Norbert Hummelt schreibt nicht von dem, was er sieht, sondern von dem, was ihn berührt. Das reicht in tiefe Schichten. Nur wenn die Samenschoten berührt werden, kann das Springkraut seine Samenkörner herausschleudern und so die Fortpflanzung garantieren. Das vermeintliche Verbot ist zugleich sein Gegenteil, eine Aufforderung, dem blinden Fühlen zu trauen. „Es sind“, heißt es in dem Gedicht „nocturne“, „die dinge der sichtbaren / welt dafür gemacht dass man sie blind behält / als etwas schwebendes das sich verwandeln / kann“. In den Gedichten Norbert Hummelts kommt es im mehrfachen Wortsinne zum Begreifen. Was mit Augenverstand nicht begriffen, nicht gemessen und dem selbstverständlichen Wissen hinzugefügt werden kann, das weiß die Haut, der fragende Finger, die Körpergrenze: hier wird der Name als Formel begriffen: rührmichnichtan.
Des öfteren in diesen Gedichten erweist sich Hummelt als Experte für das feine Sensorium von Fingerkuppen, für ihr Präzisionsgedächtnis. Doch dann die Verwunderung: es kann unmöglich sein, dass dieses Kraut so weit gesprungen ist. Das ist ein Kinderwundern, dem Ferne und Fremde nichts, der Name und sein verführerisches Gebot aber alles gelten. Ein wunderbares Wissen, eine Gewissheit, von der diese Gedichte wie aus einem unerschöpflichen Speicher zehren. Ahnenkunde, Archäologie in eigener Sache, und vor allem immer in ganz eigensinniger Weise gegenwärtig, intim mit dem Jetzt und Hier, oft auch mit der Geliebten. Daraus folgen melancholische Konturen:

vor meiner regenbogenhaut beginnt die fremde.

Der Dichter Norbert Hummelt kennt die Gesellen, die ihn da begleiten, die Schattengalerie von zweihundert Jahren deutscher Romantik. Eichendorff und Benn traut er am meisten, dazu hat er auch bereits schöne Essays geschrieben. All das sind stille Quellen, auch sie sind hör- und lesbar wie die Erinnerungen und Blicke, wie all die Nahaufnahmen weit verstreuter Zeiten. Die stillen Quellen: das sind die Nahtstellen, an denen sich blinde Konturen fügen zu einem Bild.

Wenn auch sehr weniges erfunden ist in diesem Gedichtband, sondern sich das allermeiste auf tatsächliche Funde und vorhandenes biographisches Material bezieht, geht es mir natürlich nicht darum, das zu fixieren und jetzt sozusagen als meine lyrische Biographie auszuweisen, sondern es geht darum, eigentlich paradigmatisch Räume aufzuschließen, die mit Herkünften verbunden sind, die die eigene Herkunft des Verfassers weit hinter sich lassen. Es geht, auch wenn der Autor bestimmte Personen oder bestimmte Dinge im Auge hat, kann das Gedicht ja nur funktionieren, indem ein Leser, ein Hörer seine eigenen Entwürfe in diesem Raum macht, der durch diese Gedichte aufgeschlossen wird.

Guido Graf, Deutschlandfunk, 21.7.2004

„Vom Leben mit Gedichten“

poet in residence 2011: Norbert Hummelt
Veranstaltungskritik

– Poet Norbert Hummelt gibt Einblicke in seine Arbeit. –

„Gedichte sind nicht mein Ding – wissenschaftlich gesehen.“ Mit diesen Worten begrüßte Dr. Hannes Krauss, Germanist und akademischer Rat an der Universität Duisburg-Essen, den Kölner Dichter und Autor Norbert Hummelt. Dieser hielt im Rahmen der viertägigen Veranstaltung poet in residence an der Universität Duisburg-Essen seine erste Vorlesung für Studenten und Lyrik-Begeisterte.

Der von Krauss titulierte „Zeitgenosse mit jeder Zeile“ spricht in seinem Vortrag über persönliche Erfahrungen, Inspiration und Verse. Mit einem grundlegenden Ereignis beginnt er seine Reise durch die Lyrik. Am Pfingstmontag 1993 spazierte er im Wald bei Köln während ihm ein Gedicht Joseph von Eichendorffs in einer Endlosschleife durch den Kopf ging. Bei seinem Spaziergang hatte er das Gefühl, sich durch das Gedicht zu bewegen. Nur eine einzige, siebenzeilige Strophe hat dieses Gedicht. „Ich war in den Versen verkapselt, doch sie öffneten mich auch“, erklärt der Poet den Studenten.
Hummelt definiert Gedichte als „eine Art innerer Tonfilm“. Gedichte bestehen ihm zufolge unter anderem aus Gedanken, inneren Bildern und Vorstellungsketten. Während seines Vortrages kommt der Dichter immer wieder auf Eichendorff zurück:

Er ist einer der Dichter, ohne die ich nicht auskomme.

Mit ruhiger Stimme trägt er eigene und fremde Gedichte seiner präferierten Dichter Friederike Mayröcker, Gottfried Benn, Ernst Jandl und natürlich J. v. Eichendorff vor. Den Studenten empfiehlt er, zu lesen, was vor langer Zeit geschrieben wurde. Denn „es spricht umso mehr zu einem“. Er äußert sich auffallend negativ über neue Medien, vor allem das Internet: „Gedichte sind nicht Facebook.“
Norbert Hummelt und Klaus Siblewski veröffentlichten 2009 den Essay Wie Gedichte entstehen. Darin begründet Hummelt, warum das Dichten ihn glücklich macht – „weil es das Flüchtige in eine Form bannt, die alles nicht in ihr Erfasste ausschließt. Und wenn ich selbst derjenige bin, der diese Form erschafft, dann ist das, für Sekunden, ein Allmachtgefühl.“
Der Dichter gibt seiner Vorlesung eine persönliche Note und verwebt Fakten mit seinen Erlebnissen. „In Gedichten liegt Trost“, sagt Hummelt. Er verarbeitete den Schmerz über den Verlust seines Vaters durch das Schreiben. Dabei wurden Erinnerungen und Empfindungen zu Versen. Mehr Einblick in seine Persönlichkeit gewährt er über ein dreiseitiges Handout. Darauf ist sein Gedicht „In der Fremde“ abgedruckt. Das besondere: Seine Arbeitsschritte sind darauf zu sehen, Durch- und Unterstreichungen, Kommentare, Umstellungen. Leicht ist erkennbar, dass ein gutes Gedicht nicht ohne Mühe und Herzblut geschrieben werden kann. Erst die wiederholte Arbeit an dem Gedicht haucht ihm eine Seele ein. „In Gedichten verschmelzen Sprache, die Welt und das Ich“, erklärt der Lyriker.
Krauss lobt Hummelts Stärke der „rationalen Spiritualität“. Hummelt kam als Kind mit Lyrik in Berührung, in Form von Gebeten und Liedern. Sein Vater rezitierte gerne Wilhelm Busch. Dass seine Eltern vom Krieg geprägt waren, beeinflusst Hummelt und sein Schreiben nach eigenen Angaben wesentlich. „Hören Sie die Vögel singen? Hören Sie, wie die Bäume rauschen?“ Sein Hang zu Natur, Melancholie und Romantik ist sowohl in seinem Vortrag als auch in seinen Gedichten allgegenwärtig. „Der Dichter ist das Herz der Welt“, sagt Norbert Hummelt. Der 1962 in Neuss geborene Poet studierte Germanistik und Anglistik in Köln. Mit 24 Jahren begann er, Gedichte zu schreiben. Sein erster, stilistisch eher experimenteller Gedichtband knackige codes wurde 1993 veröffentlicht. In seinen folgenden Werken wandte er sich der Romantik zu. Neben Gedichten schreibt Hummelt vorwiegend Essays, übersetzt englische Gedichte, hält Lyrik-Vorlesungen oder leitet Schreibwerkstätten. Sechs seiner Gedichtbände sind bereits erhältlich, ein siebter mit dem Titel Pans Stunde erscheint im Oktober 2011.

Stille Wasser sind tief
Dichter Hummelt ergründet Gedichtquellen, Eichendorff und Benn
Das Saallicht geht aus, es herrscht Stille. Mit einem „Hallo, schön, dass Sie wieder da sind“ eröffnet der Poet Norbert Hummelt seine zweite Vorlesung zum Thema Dichtung an der Universität Duisburg-Essen. Der 1962 geborene Lyriker aus Neuss hat einige Stipendien erhalten, drei Lyrikpreise gewonnen und sechs Gedichtbände veröffentlicht. Über die „intuitive Suche nach den Quellen unserer Bilder“, also den Ursprung von Gedichten, wird er heute sprechen.
Mit ruhiger Stimme liest er vor. Norbert Hummelts Blick klebt am Blatt. Der Vortrag zieht sich zäh dahin. Ab und zu zuckt seine Hand – Gestik oder ein Tick? Körpersprache und Mimik sind spartanisch gehalten. Minimale Bewegung zur maximalen Wortwirkung. Er hat einige lyrische Spielereien in seinem Text versteckt. Der Dichter ist sehr akribisch. Alles ist perfekt vorbereitet, der Vortrag auf dem Rednerpult seit langem geschrieben, ausgedruckt und wahrscheinlich mehrmals Probe gelesen. Wie sein Vorbild Gottfried Benn beobachtet er die Welt mit einem Seziermesser in der Hand. Spitze Bemerkungen hat er sich bereits vor der Vorlesung in seinem Text notiert. Entdeckt er einen Tippfehler, hält er seinen Vortrag an und korrigiert ihn sofort mit einem Kugelschreiber. Diese schier autistischen Züge passen zum Gesamtbild des Dichters. Er scheint in seiner eigenen Welt zurückgezogen zu leben. Kritik kann er zwar austeilen, aber nicht einstecken. Dass seine anstrengende Vortragsart gerügt wird, trifft ihn. Ein empfindsamer Lyriker, was läge näher? Sein monoton klingender Vortrag regt nicht zum Zuhören an. Hummelt scheint dabei leidenschaftslos, doch den Text schrieb er mit Leidenschaft. Ein Essay mit bildhaften Stellen, fast wie eines seiner Gedichte. Das Problem ist, dass der geschriebene Text für einen gesprochenen Vortrag nicht gut geeignet ist.
Doch spielt Hummelt den leidenden Dichter nur oder ist er es tatsächlich? Seiner Miene nach geht es ihm heute nicht gut. In schwarzem T-Shirt, schwarzer Anzugjacke und schwarzer Jeans steht er am Rednerpult. Seine hängende Schulter und die ab und an zuckende Hand verraten seine Nervosität und innere Anspannung. Die Augen blinzeln klein hinter der goldumrahmten Brille, sein Blick hebt sich selten vom Blatt. Er wirkt, als wolle er sich vor jemandem verteidigen. Was der Dichter nicht über sich selbst preisgibt, verraten seine Verweise auf Dichter wie Benn und Eichendorff. Auch Friederike Mayröcker und T.S. Eliot gehören zu seinen favorisierten Lyrikern. Mayröcker sieht wie Hummelt alles in Bildern, die sie mit Sprache umschreibt. Sie schreiben über ähnliche Themen wie Personen, Alltag, Erinnerung, Sehnsucht und Vergangenheit. Er hält sich an seinem Redepult fest, erzählt Anekdoten aus seinem Leben und betont, wie sehr Familie, Heimat und Verlust sein Leben prägen. Vor allem der Tod seines Vaters habe ihn sehr berührt und sein Schreiben beeinflusst. Außer diesem intimen Moment ist er in sich gekehrt und nimmt kaum Kontakt zur Außenwelt auf – nur über seine Schrift, seine Lyrik.
Hummelt springt von einem Thema zum nächsten, zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Dem essayistischen Gedankenspaziergang lässt sich teilweise nur schwer folgen. Sein Vortrag ist voller Querverweise und Verbindungen. Die Art der Vernetzung ähnelt dem Hypertext im Internet. Bei der Online-Suche nach einem bestimmten Begriff stößt der Benutzer auf unendlich viele neue Begriffe und klickt immer weiter. Ähnlich tastet der Dichter sich durch das weite Feld der Lyrik. Im Vordergrund stehen Verse, Strophen, und die Entstehung von Gedichten. Er zählt auf, wie der Mensch seit Jahrhunderten mit Gedichten lebt: Er hört, liest, schreibt ab, lernt auswendig, sagt her und deutet. Zu den Quellen der Gedichte kommt Hummelt immer wieder zurück. Er verknüpft persönliche Einblicke, Einflüsse auf sein Schreiben, eigene und fremde Gedichte und Theorien. Seine Vorlesung ist inhaltlich zwar interessant und gedankenvoll aufgebaut. Doch der rhetorisch leider anstrengend vorgetragene Text zerstört deren Wirkung. Hummelt liefert sehr viel Information in kurzer Zeit, das Vorgelesene so schnell zu verarbeiten, ist unmöglich. Vorwissen ist nötig und ein Nachschlagen leider nicht möglich. Viele machen sich Notizen, um später im Internet Begriffe und Namen googeln zu können.
Hummelt ermahnt: „Wer sich nicht begeistern kann, ist auch nicht lebendig.“ Als er das Internet als Sammlung toten Wissens bezeichnet und gegen moderne Medien wettert, buhen wütende Studenten im Flüsterton. Seine Kritik an neuen Medien kommt bei den Medienstudenten nicht gut an. Doch das interessiert ihn nicht.
Gottfried Benn fasziniert ihn. Die archetypische Figur, der Verlust der Heimat. Und bei Benns Gedichten „sind die Bilder gesehen, nicht gegriffen“. Beim Rezitieren des Benn‘schen Gedichts „Melancholie“ verteidigt er die Verse des Dichters aber vor allem seine eigenen Verse, auch wenn keiner sie angreift.

Wenn man von Faltern liest, von Schilf und Immen,
dass sich darauf ein schöner Sommer wiegt,
dann fragt man sich, ob diese Glücke stimmen
und nicht dahinter eine Täuschung liegt.

Hummelt teilt Benns Melancholie. Auch die Inspiration durch Natur vereint sie. Wo Natur ist, muss natürlich Hummelts Lieblingslyriker Joseph von Eichendorff erwähnt werden. Mit ihm verbinden ihn außerdem seine Religiosität und die Trauer um den Verlust von Eltern und Kindheit. Eichendorff war ein zurückgezogener Träumer, Hummelt scheint es ihm nachzumachen wie ein übereifriger Schüler. Hummelt hatte als Kind Zugang zu zwei seiner Gedichtbände. Diese gingen nach dem Tod des Großvaters in seinen Besitz über. Eichendorff ist seiner Meinung nach stark unterschätzt und einer der Dichter, ohne die er nicht auskommen könne. Sein Gedicht „das glück bei eichendorf“ handelt von jenen Gedichtbänden. Die Erinnerung an Buchrücken und Großvater wird bildlich beschrieben und vom Dichter verarbeitet. „Erinnerung ist am besten in Versen aufgehoben“, erklärt er. Zum Abschluss liest er sein Gedicht „Stille Quellen“ vor.

Hummelt mag ein begabter Dichter und Essayist sein, doch seine Vortragsart zerstört die Wirkung der Worte. Unnötig ist die wiederholte Provokation der Studenten. Nicht jeder möchte Lyriker sein und nicht jeder Lyriker kapselt sich dermaßen von der Welt und zeitgenössischen Medien ab. Wer die zähen drei Stunden trotzdem wach ausharrte, erhielt einen guten Einblick in das Dichten und Denken des Lyrikers.

Aphroditi Tsakiridou, uni-due.de

 

Interview mit Norbert Hummelt am 22.5.2008

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Norbert Hummelt

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