Norbert Hummelt: Zeichen im Schnee

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Norbert Hummelt: Zeichen im Schnee

Hummelt-Zeichen im Schnee

DER LETZTE SITTICH

die linien des lebens sind verschieden
wie eine möhre ist u.
des salatblatts ränder, je nachdem
wie ich mein schauen durch
die stäbe änder
ich kann mein trillkorn still
im schnabel rollen
so lange bis die letzte mauser ist

wer wird mir luftgeschöpf dann
klares wasser bringen
ich kann mein schwanenlied nicht
gut alleine singen. ich bin
das selige, ich bin das stumpfe
tier. das widerspiegeln
liegt schon so weit hinter mir.

 

 

 

Norbert Hummelt (geb. 1962 in Neuss)

ist eine neue Stimme in der deutschen Literatur. 1993 hatte er in der edition galrev den band knackige codes veröffentlicht. Seither hat er sich von so unterschiedlichen Dichtern wie Eichendorff, Gottfried Benn und Ernst Jandl anregen lassen. Ob Romantik oder experimentelles Schreiben – Hummelt nimmt sich die Freiheit, dann auf die Tradition zurückzugreifen oder mit den gewohnten Formen zu brechen, wenn es seinen dichten Momentaufnahmen von flüchtigen Bildern und von beunruhigenden Lebenssituationen „im (lyrischen) Gegenlicht“ nützt. Ihm geht es in seinen Gedichten um nicht weniger als das Herstellen von Kunst. Die Bausteine dafür findet er in der Sprache. Für einzelne Gedichte aus diesem Band ist Hummelt mit dem Mondseer Lyrikpreis und mit dem Hermann Lenz-Förderpreis ausgezeichnet worden.

Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 2001

 

Alle Vögel sind schon da

– Dynamisch, musikalisch und nicht immer ganz ernst gemeint: Norbert Hummelts dritter Gedichtband Zeichen im Schnee singt ein Lied von der Jugend. –

So setzt das ein: „knips noch die lampe aus“. Und dieser Ausblick auf das Ende eröffnet einen Bilderreigen aus Kindheitstagen, der sich wie ein versifiziertes Fotoalbum liest. Erster Gast ist die Amsel, sie begleitet den Leser bis in das letzte Gedicht hinein. Auch Drossel und Fink fehlen nicht; und wenn schon kein Star auftritt, so doch immerhin ein Ara, ein Kanari, ein Turmfalke, eine Nachtigall, ein Rotkehlchen, ein Rotschwanz, ein Kohlweißling, aber halt, das ist ein Schmetterling! Norbert Hummelt hat es mit den Vögeln. Sie gereichen ihm zu einem Symbol für Gesang und Lyrik, wie ex negativo ein Hölderlin-Zitat verdeutlicht, das dem neuen Band Zeichen im Schnee voransteht:

Unter dem Strauche saß ein ernster Vogel gesanglos.

Dem Wahlkölner Hummelt ist der Singtrieb keineswegs vergangen, und allzu ernst ist es ihm auch nicht immer. Mit jener Dynamik und Musikalität, die wir an ihm schätzen, beleuchten seine Gedichte prägnante Erinnerungen, alltägliche, aber erinnernswerte Situationen und Gegenstände. Wo wären denn schon einmal Treets, Tesafilm und Tetrapak besungen? Dazu muss einer weit zurückblättern im Bilderalbum seiner Lebensgeschichte, bis zu einer Zeit „lang lange vor der ersten differenz“, noch ehe „substanz“ sich in das „ichgefäß“ ergoss. Diese frühe Jugend wird im Rückblick als Übergang in eine andere Dimension empfunden, und die dafür zuständige Metapher ist die Dämmerung, das Einschlafen und Erwachen:

zwischen den tagen liegt mehr als nur
die nacht, das bettzeug, die milben

Mit den Erinnerungen eröffnet sich eine ganze Welt der Beobachtungen, und nicht wenige sind so tendenziell existentiell wie die „weißen augen der endzeitsekte im science fiction-film“ oder die Zeitreise im „time tunnel“:

billige tricks, wenn man
es kühl betrachtet, u. doch magie

Wer Norbert Hummelt gehört hat, ob auf einer der zahlreichen Lesungen mit Musikbegleitung oder jenem Mitschnitt, der als CD dem letzten Gedichtband beigegeben war, weiß, dass seine Musikalität nicht allein in Gesang und konzertiertem Vortrag zum Ausdruck kommt, sondern bereits in der formalen Struktur der Gedichte. Neben Rhythmus und Enjambement fällt hier vor allem der verborgene Reim ins Gewicht, mit dem Hummelt die Spannung zwischen Zeilenfluss und Satzbau zu verstärken sucht:

sag welchen der glücksstoffe barg
die banane die ich als speiserest
an meinem gaumen ahne

Dem Ohr wird hier etwas gegeben, das über das Auge nicht möglich wäre. Vers und Sprache treten in eine dynamische und produktive Konkurrenzsituation, und der Reim tritt verstärkend hinzu, als Effekt, als Bonus, als Möglichkeit der Steigerung des formalen und klanglichen Ausdrucks. Erst vorgetragen kommt dieses selten mit solcher Emphase wie hier genutzte Stilmittel vollends zur Geltung – und das mit viel Humor.
Denn Hummelt weiß sich sehr wohl vor dem Abrutschen ins nur mehr kuriose Überpoetische zu schützen. Herrlich poetelnd ist der Vers „meine wimperlinge zittern immer mit“, wenn man den Spaß am Spiel mithört und die Freude an der Übertreibung. Noch größer wird das Vergnügen an der Sprachkunst, wenn es im folgenden Gedicht heißt:

sieh, meine wimper zittert vor dem mikroskop

Denn damit ist der Gedankengang wieder auf eine rationale, handfeste Ebene gehoben. Und damit sind wir beim nächsten formalen Trick, der verändernden Aufnahme von Motiven, Worten oder sonstigen Elementen. Gleich im Anschluss endet ein Gedicht auf „träume“, und das nächste beginnt mit „dann träumte mir“. Das sind Überleitungen wie bei einem Renshi-Gedicht, die mal mehr, mal weniger bewusst den Leser leiten und dirigieren.
Auch auf der Ebene der Gedichtgattungen bemüht sich Hummelt um spielerische Abwechslung, baut schon mal ein Sonett ein („sonett mit morpheus“ – mit feiner Ironie von einem Schlafmittel handelnd), schließt einige Gedichte zu einer Verserzählung zusammen und präsentiert mehrere Seiten „bruchstücke“, bei denen manches freilich eher Material für Poesie als diese selbst zu sein scheint. Die lyrische Erzählung „früchte“ rundet einen ereignisreichen Gedichtband ab, und mit ihr kommen noch einmal die Vögel ins Spiel, insofern man Früchte auch als deren Nahrung betrachtet.
Mit dieser Motivik greift Hummelt weit zurück, mindestens bis Eichendorff. Zeichen im Schnee präsentiert das Lesen im Buch der Natur als humorvolle Anverwandlung romantischer Gedanken; daher die Vögel wie die Nachtigall mit „ihrem schwer vergeßlichen gesang / ganz anders als in worten kurz kurz lang“. Doch es kommen auch Schwäne vor, nicht nur Singvögel. Das ist, wenn wir den Ordner „Romantik“ aufschlagen, unter „Humorvolles“ abzuheften. Norbert Hummelt aber will weg vom Schubladendenken, weg auch von den romantisierenden Assoziationen Fliegen, Fliehen, Freiheit.
Sein Musikbegriff geht ohnehin weiter. Wurden in den früheren Gedichtbänden Van Halen und die Ramones zitiert, so heißt es in einer aktuellen „aufzeichnung vom / letzten rockpalast“:

hier ist die hülle, noch in kinderschrift sind
da die songs von einer band verzeichnet
der name rainbow, mit vierfarbenstift

Da es sich um einen Rückblick handelt, wollen wir die Folge der Rockgruppen mal nicht interpretieren. Wichtiger ist ohnehin die Konfrontation der Bandnamen mit der Ebene des Vogelgesangs, denn hier liegen die Wurzeln der Inspiration. So haben wir zwei sich ergänzende „Traditionen“ in dem schmalen Werk Norbert Hummelts: „der letzte sittich“ beschließt eine kleine Reihe von Gedichten, die über „der zweite sittich“ aus singtrieb bis zu „der sittich“ aus knackige codes zurückreichen – und „Sheena“ war ein „Atomic Punk“ in der Erinnerung: „Since You’ve Been Gone“ …
Neben englischen Bruchstücken finden sich auch regional eingefärbte Worte wie „büdchen“, rheinisch für den norddeutsch-türkischen Kiosk, oder „erft“ für – ja, was eigentlich? Prägender für Hummelts Lyrik sind freilich zwanglose Ausflüge in die Geschichte der Literatur und Philosophie. Anleihen nimmt er nicht nur bei Hölderlin, sondern auch bei Gerald Manley Hopkins und gelegentlich selbst bei Heraklit:

du passagier, der ankommt bist
derselbe nicht der in
die bahn stieg ohne aufzusehen

Andernorts wird’s fast gnomisch: „alle gegenwart ist agonie“ oder dekonstruktivistisch: „bis sich die worte / einzeln von bedeutung zeigten“, als „schriftzeichen eben“. Das war schon früher so ein Steckenpferd dieses Lyrikers, weshalb man ihm gelegentlich vorgeworfen hat, ein Intellektueller zu sein. Nun, dieser Wille, die Zeichenhaftigkeit der Welt zu interpretieren oder doch zumindest zur Sprache zu bringen, sei gestattet, wenn er so selbstironisch daherkommt wie bei jenem Freitag, der „im zeichen der fischstäbchen stand“.
Das ist durchaus gelehrte Poesie, mit viel Sinn für Alltag und Gegenwart, die Elemente der klassischen Dichtung und Hochkultur mit Anleihen bei Jazz und Rock verbindet. Hier ist Reim und Rhythmus, hier sind Lieder aus den musikalischeren Tagen der Poesie. Hummelt weiß auf den Werkzeugkasten des Dichters zurückzugreifen, wenn es ihm notwendig erscheint, und dankend zu verzichten, wenn nicht. Er hört hin, wo andere Lyriker nur mehr visuell denken und allenfalls für ein Publikum lesen, das an der Wand tickt. Mit Zeichen im Schnee macht Hummelt weiter, womit er in singtrieb begonnen hatte. Während knackige codes im Vergleich noch sehr experimentell wirkt, wie auf der Suche nach dem eigenen Ton, der im zweiten Gedichtband gefunden ist, schreitet Norbert Hummelt seit einigen Jahren einen sehr eigenen Weg weiter. Lediglich Anklänge an diese experimentelle Frühphase finden sich in den „Bruchstücken“.
Eine „neue Stimme in der Literatur“, wie die Verlagswerbung behauptet, ist Norbert Hummelt damit allerdings längst nicht mehr. Dafür hat er, auch wenn Zeichen im Schnee erst sein dritter Gedichtband ist, schon zu viele Konzertsäle beackert. Er ist vielseitiger und anspielungsreicher als die meisten seiner dichtenden Zeitgenossen, und er hat sehr viel mehr Street Credibility als die Stuckrads und Bares. Deshalb hat der Luchterhand Verlag gut daran getan, seine neue lyrische Reihe mit diesem Bändchen zu eröffnen. Auch wenn die Nachbarschaft von Jandl und Yeats, Neruda und Jessenin eine Herausforderung ist.

Rüdiger Wartusch, Frankfurter Rundschau, 28.7.2001

Die Substanz war fühlbar weiß

– In seinem neuen Gedichtband Zeichen im Schnee unternimmt der Dichter Norbert Hummelt den Versuch einer romantischen Wiederverzauberung der Welt. –

Große Dichter der Avantgarde, so belehrt uns schon Theodor Adorno in seinen Noten zur Literatur, müssen sich nicht immer wieder zwanghaft ihre Wut auf die Vorfahren bestätigen, um deren Bann zu entrinnen. Anstatt auf der radikalen Differenz zur poetischen Tradition zu insistieren, versuchen die wahren Avantgardisten die Tradition „als ihresgleichen wahrzunehmen“, wissen sie doch um ihre Wahlverwandtschaft zu jener Vergangenheit, die sie zu überwinden trachten. Das schneidende Verdikt: „Das geht nicht mehr“, das so mancher Neutöner der letzten Dezennien gegen die lyrische Tradition schleuderte, hat sich denn auch in der poetischen Praxis durchweg blamiert.
Kann man im Versuch der Rückgewinnung poetischer Tradition aber so weit gehen wie der Dichter Norbert Hummelt, der sich dem Sehnsuchtston der Romantik so vorbehaltlos-identifikatorisch anvertraut hat? Hummelt hat ja ursprünglich als experimentier- und parodierfreudiger Autor im Umfeld der ironischen Sprachzertrümmerer Thomas Kling und Marcel Beyer begonnen. In seinem Debütband mit dem programmatischen Titel knackige codes (1993) mixte und montierte er „Pick-Ups“ aus den Sprachfetzen des Kommunikationsalltags, und unterzog die Verse der großen Koryphäen Benn, George oder Eichendorff einer ironischen Kontrafaktur. Ein lyrisches Kunstwerk konnte es hier nur im Zustand der Beschädigung geben, nachdem der Dichter alles dafür getan hatte, das Sprachmaterial neu zu codieren, grammatisch umzugruppieren und seiner mythischen Reste zu entkleiden.
Aber schon in seinem zweiten Band singtrieb (1997) vollzog Hummelt eine poetische Selbstkorrektur und besann sich auf die alten Suggestionstechniken der Dichtung, auf den Anklangszauber in „kreuzreim“, „bukolischem sonett“ und „arkadischem abgesang“. Auf einer dem singtrieb-Band beigefügten CD geht er sogar das Wagnis ein, Eichendorffs legendäres Gedicht „Sehnsucht“ singend zu rezitieren:

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand,
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.

Von diesem so mutigen wie riskanten Projekt, den Habitus des romantischen Sängers für die Gegenwart zu retten, hat Hummelt auch in seinem neuen Gedichtband Zeichen im Schnee nicht abgelassen. Für die Verheißung von zaubrischer Natur, von Ferne und offener Unendlichkeit, die in Eichendorffs „Sehnsucht“ dem Einsamen mit Erlösung winkt, hat er in seinem neuen Band nach zeitgemäßeren Figurationen gesucht. George und Benn werden wie in den knackigen codes als Bezugsfiguren aufgerufen: Der „Meister“ in einer Metamorphose als armseliger Landstreicher, der vor einem Edeka-Geschäft eingeschlummert; der tote Benn beim Spaziergang über den Dahlemer Waldfriedhof. Aber das geschieht nicht mehr in der Absicht ironischer Distanzierung, sondern im Bewusstsein einer sympathetischen Annäherung.
So geht Norbert Hummelt in seine neuen Gedichten „auf augenhöhe allein mit den dingen“ – und versucht im innigen Schauen auf die Gegenstände ihr Geheimnis aufblitzen zu lassen. Noch einmal hat der Dichter all jene Phänomene der Natur und der Alltagswelt versammelt, die seit je für romantisch und geheimnisvoll gelten: die Nacht, den Wind, den „ersten Schnee“, die vegetabilische Welt der Bäume, Blumen und Früchte – und vor allem die „Luftgeschöpfe“ als Kuriere des Glücks oder des Unheils. Auch bei Hummelt steht der einsame Dichter wieder am Fenster, und es widerfahren ihm beim Blick nach draußen beglückende Epiphanien. Und wie bei Eichendorff liegt die poetische Wunschlandschaft „still“ da, aufgerührt nur von den leisen Geräuschen und wundersamen Geschöpfen, die diesen Landstrich durchstreifen.
All die Natur-Dinge, die hier wieder als Sehnsuchts-Zeichen aufscheinen dürfen, weisen als „stiller träger der erinnerung“ in die Kindheit, das letzte Refugium des Dichters. Damit die Idylle nicht in falscher Harmonie und Selbst-Beseligung entschlummert, hat Hummelt den Raum seiner Gedichte mit beunruhigenden Verfalls-Bildern markiert. Natur ist auch hier nur als beschädigte zu haben. Wenn sich der Blick auf den „weiten, unbestirnten himmel“ und „die vielen wildgemachten düstern tauben“ richtet, dann erinnern uns im selben Gedicht die „warmen fastfood-reste“ und „u-bahnschächte“ daran, dass auch diese neuromantische Poesie kein Paradies mehr kennt.
„Das Romantische“, hat Hummelt in einer poetologischen Standortbestimmung ausgeführt, „ist eine Weise, die Dinge anzusehen als könnten sie unseren Blick erwidern“. Seine Gedichte, die subtil und oft fast unmerklich in jambischen Metren und lockeren Binnenreimen organisiert sind, wenden sich folgerichtig dem Ephemeren zu: den kleinen magischen „glücksstoffen“ der Kindheit, den „zeichen im schnee“ und anderen „fluchtpunkten“ der Natur. In den Kindheitsgedichten heftet sich die Erinnerung an „das Glück der nahen Dinge“ (Adorno): an die Schattenmorellen der sterbenden Großmutter, an den Braeburn-Apfel, die Kirsche oder die schokoladenummantelte Erdnuss-Süßigkeit „treets“, die das Kind verzehrt. In den Naturgedichten erscheinen verschiedene Vögel als poetische Wappentiere des Dichters: Bevölkert wird seine lyrische Voliere von verschiedenen Amseln und Tauben, von Rotkehlchen, Drosseln, Schwalben und Turmfalken, nicht zuletzt von einer Nachtigall und einem Sittich, der schon im Band singtrieb auftauchte. Nicht zufällig wird das Buch auch von einer Hölderlin-Sentenz eröffnet, die, in intrikatem Doppelsinn, einen „ernsten vogel“ beschwört und den hohen Ton der Hummelt-Gedichte präludiert:

unter dem strauche saß ein ernster vogel
gesanglos.

Wenn Hummelt dann seine poetische Vogelschrift entsiegelt, arbeitet er häufig mit Hell-Dunkel-Kontrasten. Vor allem aus der Farbe Weiß gewinnt er seine Bildideen, jener Grundfarbe der modernen Dichtung, die in ihrer Vieldeutigkeit schon Stefan George und Stéphane Mallarmé fasziniert hat.
Im famosen Gedicht „jenaer glas“ wird das Weiß schließlich zur Zentralfarbe der menschlichen Existenz. Wie zwei, drei weitere Texte des Bandes vollzieht dieses fein rhythmisierte Gedicht eine „kleine regression“ ins früheste Stadium des Lebens: in jene Welt des Ungeschiedenen, da das Neugeborene noch kein Innen und Außen, kein Ich und kein Du, keine Zeit und keine Dauer, sondern nur den Augenblick kennt. Dieser Augenblick ist erfüllt von Farbwahrnehmungen, von der Gestalt der Mutter, und von der Glasflasche, aus der das Baby die lebensspendende Milch saugt. Und über allem liegt die Farbe Weiß:

zwei farben, beide weiß: die arme, die ihn vor
das fenster hielten. in dieser frühe schien
noch nichts getrennt, denn in dem sogenannten
draussen da war gar nichts anderes als eben
dieses weiß.

So hebt dieses Gedicht an, und es führt uns mit kleinen rhythmischen Verzögerungstechniken, mit Wiederholungen, Parenthesen und Fragen, durch sein Terrain, das Erwachen des Lebens. Und erst am Ende, nach einer Reihe von Bildern, die semantisch in der Schwebe gehalten werden, setzt wieder die Reflexion des lyrischen Subjekts ein, das erinnernd zurückblickt auf die ersten Tage in der Daseinsfrühe:

in diesen kopf hinein ging nur
die eine schwelle: die sich nicht schließen
kann, die fontanelle. u. war noch lange lange
noch nicht kontinent. das lichtbild aber, später
später, es zeigt es zeigt doch nur die art des glases
an, das ihm gehalten wurde. u. er zog daran. u.
die substanz war fühlbar weiß, u. sie ergoss sich
langsam langsam in das ichgefäß, das noch ganz
unbestimmte, doch es war groß u. es war existent.

Michael Braun, der Freitag, 21.9.2001

Kaspar Hausers Unterhose

Im Frühjahr startete eine neue Serie der Sammlung Luchterhand, einunddreißig Jahre nach Beginn der ersten. Und wieder soll sich diese Reihe von anderen Taschenbuchreihen durch ihren literarischen Anspruch absetzen. Mutig begann man mit sechs Bänden Lyrik, darunter zwei Gedichtbüchern junger Autoren. Stolz verweist der Verlag darauf, daß seinerzeit zu den ersten Bänden Ernst Jandls Der künstliche Baum gehörte, der den Dichter damals einer größeren Öffentlichkeit bekannt machte.
Die Lyrikbände von Ulrike Draesner und Norbert Hummelt sind gewissermaßen neue Blätter vom künstlichen Baum der experimentellen Poesie. Ulrike Draesner vertritt den Avantgarde-Anspruch ostentativ, Norbert Hummelt eher maskiert. Beide Autoren gehören dem Jahrgang 1962 an, haben einige Bücher publiziert und bereits Preise und Stipendien erhalten.

(…)

Norbert Hummelts Raffinesse erschließt sich erst dem zweiten Blick. Er eröffnet seinen Band Zeichen im Schnee mit einer Banalität:

knips noch die lampe aus wenn du vom klo kommst.

Vieles in seinen Gedichten deutet darauf hin, daß ihm die Alltagslyrik der siebziger Jahre vertraut ist. Aber das ist nicht die entscheidende Spur. Hummelt führt uns in einen totgesagten Park, nämlich in die preziösesten Partien Stefan Georges und Rainer Maria Rilkes, und überläßt es dem Leser, Parodie, Epigonie und Eigenes zu scheiden.
Manches ist Parodie à la Robert Gernhardt. Etwa „wir kennen nicht ihr mögliches profil“ als Antwort auf Rilkes „Archaischen Torso Apollos“. Oder das Gedicht „der meister“, das einer Georgeschen Algabal-Figur einen Schäferhund beigibt:

nur in der gegenwart des dunklen schäferhundes
hielt er sich selber für den stern des bundes
u. seine augen sahn den siebten ring.

Doch Hummelt ist es primär nicht um Spott und Spaß zu tun, sondern um Anverwandlung. Er möchte durch Mimikry von seinen Vorbildern profitieren. Aus den weißen Aras Georges macht er einen roten, seinen „vogel mimikry“:

mein roter ara aber imitiert mich nie.

Kein Wunder, denn Hummelt hält das Eigene am liebsten bedeckt. Aus Scham oder auch aus Klugheit.
Diese Mimikry ergibt manchmal reizvolle, fein gearbeitete pastiches. So beginnt „déjà-vu“:

nimm nur die hand nicht weg aus meinem haar.

Doch diese Bitte geht dann recht zeitgenössisch-ungeniert in eine Aufforderung zur Massage über:

mach still. mach ruhig. mach hin. laß nicht nach.

Kleine, begrenzte Sujets gelingen Hummelt fast immer. Dafür sprechen Titel wie „der erste schnee“, „der vergessene falter“, „unter dem glassturz“. Da paßt die zarte, manchmal preziöse Sprachgebung, der behutsam modulierte Schritt der Verse. Anrührend sind auch die Idyllen aus einer behüteten Jugend. In der Verserzählung „früchte“ spielt alles zwischen dem ersten Wort „schattenmorellen“ und dem letzten wort „pudding-schnee“. Dieser Poet muß nur zusehen, daß er sich nicht verhätschelt und harmlos wird.
Mir scheint, daß er sein Problem kennt. Die Welt, die er bedichtet, befindet sich im Zustand einer merkwürdigen Erstarrung. Das Gedicht „figuren“ bezeichnet das sehr genau, wenn es fragt:

u. die figuren, die mein auge suchte, sind ihre
federn alle imprägniert, daß ich nicht
eine sehen kann, die ihre schwingen schüttelt…

Damit rührt Hummelt an die Kristallisation der Zustände, aber auch an ein persönliches Problem. Sein roter Ara muß das freie Fliegen noch lernen.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10.2001

Seele, Soma,Sema

– Gedichte von Norbert Hummelt und Ulrike Draesner in der Sammlung Luchterhand. –

Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein; Hans Carl Artmann, Das suchen nach dem gestrigen tag; Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch; Adrian Hsia, Die chinesische Kulturrevolution; Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit; Michael Bulgakow, Hundeherz; Helmut Heißenbüttel, Das Textbuch. Die Preise? Zwischen 4,80 und 9,80 DM! Ach, ihr holden Siebziger, als Verlage noch keine Zweigstellen-profit-centers der Medientycoone waren und man mit Büchern noch keine Rendite machte, sondern Revolution, als Buchreihen noch kein Hilfeschrei in der Anonymität der Masse waren, sondern eine Kultur stifteten: Ach, Sammlung Luchterhand, ach ihr unwiederbringlichen und unwiderstehlichen Tagträume der Liebesheirat von Sozialismus und avancierter Kultur. Einst, in abgelebten Zeiten… da gab es einen Romane schreibenden Schweizer Verlegerssohn, und der war so klug als wie rebellisch. Er bekam die Tür gewiesen daheim in Olten, weil er sich ein f für ein w vormachen ließ („eile mit feile“) und gar nicht einsehen wollte, daß Literatur etwas anderes als gut, nämlich eidgenössisch botmäßig sein soll: Jandls „fortschreitende räude“ war ein hoffnungsloser Fall angesichts der katholischen Empfindlichkeiten der Herren Aufsichtsräte. Otto F. Walter nahm ihn prophylaktisch aus dem Manuskript Laut und Luise, doch die Entschärfung nutzte nichts: Das Erscheinen des Buches, Jandls Debütband, der ein Eckstein der Nachkriegslyrik werden sollte, in den legendären Walter-Drucken kostete den Lektor den Arbeitsplatz – zum Glückswesen des Hauses Luchterhand, das damals noch ein hauptsächlich juristisches Haus war und jetzt den virilen Literaturmacher mit einzigartigem Gespür für Qualität eine eigene Reihe machen ließ. Die Geburtsstunde der Sammlung Luchterhand, in der allerlei nach links hin aufgeklärtes (wieder-)erschien im Taschenbuchformat und viele, die mit Walter aus Olten geflohen waren – Bichsel, Wohmann, Artmann, aber eben auch Jandl –, in neuem, bauhäusig funktionalem Karton die Bücherwelt erblickten.

Auch Ausblick also. Vor 15 Jahren noch gab es im deutschen Sprachgebiet mindestens 20 Verlage, die deutschsprachige Gegenwartsliteratur verlegten […]. Heute? Sind es noch 6, noch 3 konsequent Literatur publizierende Verlage? Luchterhand gehört zu ihnen. Das ,Mutterschiff juristischer Fachverlage plus Druckerei bildet den nötigen soliden Rückhalt. […] Als ,block- und konzernfreier‘ Verlag ist Luchterhand unter seinen Verwandten ein großer Einzelner geworden, einer der ganz wenigen Unabhängigen.

Kampf dem „Buchhandel, der im Begriff ist, tendenziell außer Funktion durch Bestseller-Zauber“ zu geraten. Man glaubt, nein: wünscht, die Sätze stammten von heute. Doch O.F. Walters stolzes Ausharren auf verlorenem Vorposten ist ein Fanal aus der Vorgeschichte der Ära der Medienmogule. Luchterhand war gerade fünfzig geworden, man schrieb das Jahr 1974.
Natürlich kam auch die SL herunter, als das ganze Haus gute zehn Jahre später skandalgeschüttelt ins Wanken kam, begleitet vom Exodus der Zugpferde des Hauses. Die Verve der Revolte verpuffte. Der kulturschaffende Anspruch wurde begraben. Es blieb: ein Sammelbecken für allerlei, was sich im Billigformal absetzen ließ (Stichwort: Zweitverwertung). Luchterhand schlingerte am Rand des Ruins, und nur die Notoperationen eines neuen Kapitalherrn verhinderten das Äußerste. Die SL verschwand unbemerkt in den Händeln, doch jetzt, im Frühjahrskatalog des Jahres 2001, die Verblüffung: „Sammlung Luchterhand“ steht da plötzlich wieder und nicht nur das – der alte Geist scheint aus dem Koma erwacht. Vom Sturmblasen auf Bastionen bürgerlicher Innerlichkeit weiß er nichts mehr, aber es ist ein Stückweit der alte, kein Zweifel: sechs Gedichtbände auf einen Streich und alles im asketisch bildlosen Umschlag wie zu Walters Zeiten, schriftzentriert, um sich „von der gängigen Bildüberladenheit abzusetzen“ (Geraid J. Trageiser). Nichts für Projektmanager, eher für Literaturgläubige alten Stils. Zugegeben, an Yeats und Neruda, weltliterarischen Schmuckstücken aus der guten alten Luchterhandzeit, ist im wesentlichen der Umschlag neu. Und Jessenin hat man kurzerhand vom gerade abgewickelten Neumünchener Nachbarn Volk & Welt ausgeborgt – nicht schwierig, da seit 1998 unter der Ordonnanz desselben Kapitalgebers, der 1995 den Neuwieder Verlagstorso aufkaufte. Dann aber – Nr. 4 – Jandl: das Flaggschiff des neuen Stapellaufs – nun zugleich ein Requiem. Eines, das mit dem Tod spielt, der gerade dabei ist, einen einzuholen. Eine genialische Mixtur aus Lausbüberei und schwarzgalligem Poker ums eigene Leben – auf daß Gevatter Tod gedichtviertelstundenweise Aufschub gewähre.

Folgt Nr. 5: Norbert Hummelt, Zeichen im Schnee. Eine „neue Stimme in der Literatur“, sagt der Umschlag. Nun ja, man kennt sie, die Textbausteine der Verlagswerbung: Ein dritter Gedichtband, der Urheber mehrfach geehrt im Lauf von bald zehn Jahren Gedichtemachens – ist das „neu“? Um das, was nicht so ganz neu ist, neuer zu machen, als es ist, unterschlägt man in der Ankündigung gleich einmal Norbert Hummelts gewichtigen Band bei Urs Engeler (1997) und datiert den Debütband schlappe 13 Jahre zurück. (,,1980“). „Ob Anklänge an die Romantik oder Fortsetzung experimentellen Schreibens – Hummelt nimmt sich die Freiheit, dann auf Traditionen zurückzugreifen oder zu brechen, wenn es dichten Momentaufnahmen von flüchtigen Bildern und von beunruhigenden Lebenssituationen nützt.„ Das liest sich wie eine Art common sense postmodernen Dichtens: Erlaubt ist, was dichte Momente erzeugt. Oder wie eine verspätete Pressestimme zu Hummelts Erstling, der seinem trefflichen Titel knackige codes (Galrev 1993) alle Ehre machte. Ohne zivilisationskritischen Furor fischte hier einer im Wühltisch der Codes; hier wurde gesampelt nach Laune, mit Benn, Brinkmann und Pop-Versatzstücken jongliert – Geschlossenheit zählte nichts, der cool-markante Augenblick alles. Doch war Hummelt mit dem vom Luchterhandtexter unterschlagenen Engeler-Band – wieder war der Titel Programm: Singtrieb – nicht schon abgebogen, hatte sich einem andächtigen, nostalgischen Sehnsuchtston verschrieben und war dabei, eine Art westliches Gegenstück zu Thomas Rosenlöcher zu werden?
„Blütenschimmer“ und anderes von Eichendorff ist auch im neuen Band in die Textur verwoben; die „linien des Lebens sind verschieden“ rutscht mal eben hinein, um Petersdorffisch fortgesponnen zu werden: „wie eine möhre ist u. / des salatblatts ränder“. In ein Genrebild mit Clochard wird der „stern des bundes“ hineingeklöppelt und der „siebte ring“, als bräuchte man Pauken und Trompeten zur Schlußkadenz für ein klitzekleines Impromptu. Aber das sind Farbspritzer im alles grundierenden Pastellton, keine hart gefügten Polystilismen oder gar Montagen. Die zarte Grundierung: Versonnene Zwiesprache mit unscheinbaren Dingen, mit Alltagsware aus der eigenen Stube, mit Katze und sonstigem Getier, an denen einem eine kleine Welt aufgeht; innerliche Dialoge mit Kindheitsrelikten, vorzugsweise Fotografien aus dem Familienalbum, in die man im andächtigen Moment phantasiewandeln kann, als hätten sie mehr als zwei Dimensionen. Es ist eine Poesie des stillen Betrachtens, das es nicht nach Weltentwurf und Symbol verlangt, sondern nach ungestörtem Sichhingeben an einen minimalen Ausschnitt in Raum und Zeit.

da das geräusch, doch du verstehst nicht gleich
die welt lag unterhalb, am fuß der küchenzeile
wo die tapetenblumen einzig sichtbar sind

Es ist eine Poesie, die am liebsten geschützt im privaten Interieur vor sich hin summt. Der Gewinn der Welt im Kleinen setzt den Verlust der großen voraus, und nur dort, wo die Zwänge des Alltagsgeschäftes außer Kraft gesetzt sind, kann der andächtige Blick Ding und Ich eine neue Unschuld verleihen:

es tut
der vers, als ginge keine zeit, zumindest spür ich
wenn ich dir erzähle, die anmutung einer

anwesenheit, erst letzte nacht noch war ich

kaum erst eingeschlafen, wie der zitronenfalter
leicht auf meiner schulter sitzt, ist er mir
geisterhaft u. doch real erschienen

Hummelt bevorzugt solche Momente zweckfreier Aufmerksamkeit, in denen das Bewußtsein wach ist, doch der zensierende und zergliedernde Intellekt außer Betrieb. Hummelt hält sich umstandslos an zwei Großmeister der Gestaltung solcher Bewußtseinssphären. Erstens: Proust, das „Madeleine“-Prinzip. Eine Duftnote, ein Plätschern oder Läuten, eine Fotografie aus dem Familienalbum oder eine Geste initiieren psychische Ströme, die von der Vergangenheit her das Ich überschwemmen und rückwärts den Dingen ihre verlorene Aura wiederschenken:

nur nicht so zart wie jene madeleines
wie man sie taucht in lindenblüten
oder schwarzen tee, nur manchmal
eine scheibe zwieback in bouillon
gelegt daß sie sich vollsog mit der
heißen brühe u. so sich wandelte als
sie mir sanft zerging zum stillen träger
der erinnerung. die ersten atemzüge
waren schon zu viel, der schwall der
stimmen u. ihr hauch .. nur
eine ahnung die in meinem mund sich
raum verschaffte

Ein intim gegenwärtiges „du“, das die Welt, also das Interieur, mit dem Dichter teilt, verteilt „blaues duschgel“ auf ihm –

vermutlich rosmarin riecht mir so
fremd zugleich u. unheimlich bekannt
so daß ich aufgelöst nicht mehr wie
vorher bin u. nur noch hingegeben
[…] bis ich
mich innerlich von dannen stehle
in einen knabenkörper feucht u.
unerregt u. mich ein traum besucht.

Die Welt, so sie weitläufig, gesetzmäßig und physisch unerbittlich ist, paßt zu solch zarter Poetik nicht: „denn du verträgst nicht / sehr viel wirklichkeit“. Hummelt beginnt seine Gedichte daher gern, indem er einen Schleier über die harten Konturen legt:

die weidenkätzchen, sie schaukeln im wind
die doch als knospende noch gar nicht
denkbar sind, solang dezember ist u.
alle physis fraglich.

In Weltlagen, wo „alle physis fraglich“ wird, doch nichts ins bloße Chaos rutscht, weil eine bürgerliche Wohlordnung einen schützt und hegt, fühlt sich der Dichter heimisch:

im ersten zwielicht diesseits der gardine
noch vor dem abendrot, es lief schwarz-
weiß programm, ich saß, ein kind, gelehnt
an seine knie, u. seine hand strich sachte
meinen kopf

Daher die Kindheit als Sehnsuchtsraum: „in dieser frühe schien / noch nichts getrennt.“ Kleinkindliche Perzeptionen sind noch nicht in ein konsistentes Bild der Realität gezwängt: Ein Ding, mit dem man in Berührung kommt, ist kein kausaler Teil einer dem Ich gegenüberstehenden perspektivischen Welt, sondern (vorübergehend) die Welt selbst. Ein Duft, ein Ton, ein Aroma, ein Tun, das Ich kann hier noch ganz darin aufgehen. Die Kinderseele wird zum Ton, wenn von außen etwas heranläutet, wird ganz Gaumen, wenn von irgendwoher Eßbares winkt:

erst ist die luft so süß von sanften drogen
u. wenn wir kuchen essen schließt sich lid um lid
dann wird die welt nach innen umgebogen

In den Zwischenzuständen vor und nach dem Schlaf, in denen die Dinge noch flüssig sind, das Hirn aktiv ist, doch noch keine pragmatischen oder deutenden Zwecke verfolgt, in denen wir ganz Auge und Ohr sind, ohne etwas Bestimmtes zu suchen und ohne genau zwischen Innen- und Außenwelt scheiden zu können, ist ein Stück Kindheit noch da:

in anbetracht des schmalen tageslichts
schon in der dämmerung bevor
ich fickrig werde kannst du
mir sagen falls du bei mir bist
ob dieses klacken da das
die sekunden hinhält in
schleifen endlos die kein
ohr bemißt das stete
ticken einer blindenampel
oder das pochen meiner pulse ist

„Dämmerung“, „Zwielicht“, „schimmern“, das sind, wie die mehr biedermeierlichen „heimlich“, „still“, „leise“, „traulich“, Grundvokabeln Eichendorffs, die Hummelt adaptiert. Eichendorff, der Dichter der transitorischen und zweideutigen, tagträumerischen Zustände, in denen die Physis ihr scharfe äußere Kontur verliert und etwas flüstern will, was wir vernehmen und doch nicht verstehen. Hummelt travestiert das in ein neues Biedermeier. Eine Hauskatze wird ihm dann zum Ebenbild des Dichters:

sieht nur so aus wenn ihr dämmernder sinn
träumend nach innen gekehrt ist, wohin
sollten sich ihre sehnsüchte wenden
falls sie den schimmer der kindheit fänden

In ganz ernster Version klingt es so:

tief in den kissen dämmert es dir wieder
[…] u. ganz umstellt von fremdem mobiliar
wirst du des heimlichen bezugs gewahr

Hummelt, der Dichter der „knackigen codes“, ist dabei Zeitgenosse der Postmoderne genug, um nicht vollends Epigone zu werden, sondern den Vorbehalt der Ironie zwischenzuschalten. Er unterbricht sich mit antimetaphysischem Kalauer:

du erinnerst dich der dunklen tütensuppen
die schon vom datum längst hinüber warn

Dämmern, verdämmern, aufs Ohr bezogen: Der Nachklang. Hummelt zieht den verhallenden Ton dem gegenwärtigen Lärm vor:

du liegst ja noch immer bei mir doch
du schläfst schon die nachglühenden
stellen in unsrer haut flüster ich
dir in die träumende muschel

Hummelts Poesie ist fortdauerndes Aprèslude mit Hang zum Stilleben. „nach den gebacken, bei schummrigem licht“; oder:

wie soll es weitergehn wenn die pralinen-
schachteln erst alle leer gegessen sind u.
nichts mehr übrig ist von den makronen
dem spritzgebäck u. parfümierten tees
am dunkeln grund das bett liegt ungemacht

Die Kraft zur durchdringenden Sehnsucht nach Abenteuer, Weite, Raumeroberung ist in Hummelts neuem Biedermeier verloren. Gottseidank muß man sagen; beinahe verloren. Hummelts Innenräume sind nie ganz abgeriegelt – mit Eichendorff liebt er den Fensterausblick. Ein „fremde[r] vogel“ kann vor dem Fenster hocken und eine Ahnung von der verlorenen, „vielzitierte[n] feier der natur“ bewahren. Aber eben nur Ahnung: „des / tiefschlafs trugbild unter meinen / lidern“ zieht ins Entgrenzte hinaus, doch die Flügel des Gesanges tragen nicht mehr weit; „dann nimmt ein reiz / mich langsam mit sich fort unter das / sternbild lindernder substanzen, u. löst / die linien der fixierten welt an einer kreuzung / in köln-ehrenfeld.“ Der harte Schnitt ist hier kein postmoderner Überdruß. Er ist Form geworden es Dilemma des Zeitgeistes, denn ein Hauch von Verklärung fällt auf das Lichterspiel des großstädtischen Verkehrs zurück.
Das bloß Anekdotische einerseits, das Strickmusterhafte der durchgehaltenen, nostalgisch braven Verinnerlichung andererseits sind der Preis für den beibehaltenen charakteristischen Grundton. Was davon abweicht wie die (viel zu) vielen zwischengeschalteten fingierten Protokolle vulgärsprachlicher Selbstdarstellung der Art: „eigentlich wollt ich dir eins ausgeben / damals als ich mit dem knaller unterwegs war“, fällt nicht ins Gewicht. Und während er in guten Augenblicken dem Dilemma der metaphysischen Tagträume in nachmetaphysischer Zeit poetischen Mehrwert abzugewinnen weiß, hat er für das Dilemma der Metrik in postmetrischer Zeit augenscheinlich kein rechtes Konzept: Die stark anekdotischen Texte unterscheiden sich von Prosa oft nur, weil sie stur in Zweiermaße gedrängt sind und hie und da ein Reimwort fällt, ob mittendrin oder außen, ist eher der Laune als dem Kalkül eines durchgearbeiteten Wander- oder Binnenreims überlassen. „da sind so mücken über vaters grab die / tun als wüßten sie daß er im sommer starb“. (Hervorgegangen ist das aus dem jambischen und assonierenden Parallelismus; „da sind so mücken .. – „die tun als wüßten ..“) Oder:

die sommerastern sollten für den friedhof
sein; auf einmal fällt ihr noch der blaue
heinrich ein; ableger dessen, der schon
vor dem krieg, wenn nicht noch früher
in dem garten stand.

Das sind Verlegenheitslösungen im Spagat zwischen zeitgenössischer Coolness und neoromantischer Attitüde. Die weitgehende Tilgung der Interpunktion ist zusammen mit der (wieder) Mode gewordenen prinzipiellen Kleinschreibung, die angesichts der durchweg bewahrten syntaktischen, hierarchischen Einfachheit keinen Sinn macht, Ausdruck dieser Verlegenheit.

Sebastian Kiefer, neue deutsche literatur, Heft 540, November/Dezember 2001

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Hanns-Josef Ortheil: Ortheils Taschenbücher
Die Welt, 31.3.2001

Benedikt Erenz: Der Stadtschreiber von Vineta
Die Zeit, 11.4.2001

Judith Schneiberg: „ich bin mein eigener vogel mimikry“. Unentschiedene Gedichte von Norbert Hummelt
literaturkritik.de, 8.7.2001

Sibylle Cramer: „das unbewusste der blockschokolade“
Neue Zürcher Zeitung, 22.8.2001

 

Nobert Hummelt gehört zu den stillen Poeten

von heute. Er scheut keine Anklänge an die deutsche Romantik, bringt es aber auf leise und unbeirrte Weise fertig, einen ganz eigenen Ton zu schaffen. Nicht zuletzt durch die Handhabung von Reimen und Assonanzen, wie im Gedicht „Enzian“ aus dem Band Zeichen im Schnee (2001):

es steigt der fahrweg nur so peu
à peu wo wir so halb im wald
schon gehn vor uns ein schwalben-
paar taucht vor dem regen her
von dem sie wissen u. sie wissen
mehr als du u. ich je voneinander
sehn… es stößt der rotschwanz sich
vom ahornstamm u. landet sicher
auf dem zaunpfahl an u. ist schon
bald im feuchten gras entschlüpft

Unspektakulär der Inhalt, doch getragen von einer melodiösen Struktur, die – scheinbar paradox – Parlando und Reim verbindet. Bezeichnenderweise gibt es keine Endreime, nur Binnenreime („halb“, „wald“, „gehn“, „sehn“, „her“, „mehr“, „ahornstamm“, „an“), außerdem etliche Assonanzen, wobei die klangähnlichen Wörter sich nicht immer in unmittelbarer Nähe voneinander befinden. Der Klangteppich ist locker gewoben, die Korrespondenzen sind schön verteilt, doch so, dass das Ohr sich erinnern kann. Und es registriert: musikalischen Zusammenhalt. Nur die letzte Zeile schert akustisch aus, „entschlüpft“. So muss es sein.

Ilma Rakusa, aus Ilma Rakusa: Mein Alphabet, Literaturverlag Droschl, 2019

 

Interview mit Norbert Hummelt am 22.5.2008

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Norbert Hummelt

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