Nortrud Gomringer: Zu Eugen Gomringers Gedicht „Ach Du lieber Gott“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Eugen Gomringers Gedicht „Ach Du lieber Gott“. –

 

 

 

 

EUGEN GOMRINGER

Konstellation von Eugen Gomringer

 

 

 

 

 

 

Ach Du lieber Gott

Wir wohnen gegenüber der protestantischen Pfarrkirche St. Jobst in Rehau und leben in gutem Einvernehmen mit der Gemeinde und ihrem Pfarrer, der sich ab und zu für eine Predigt bei der Konkreten Poesie bedient. Im Jahr 2011 wurden 40 Jahre Ökumene gefeiert und aus diesem Anlass gestaltete Eugen Gomringer eine Karte für die Gemeinde. Auf klassischem Postkartenformat steht darauf geschrieben ACH DU LIEBER GOTT. Die vier Wörter sind um ein imaginäres weisses Rechteck gruppiert. Die horizontale Seite der Figur bildet in Leserichtung die Redensart, in der unteren liest man „Gott lieber Du Ach“, beide Zeilen ergeben sozusagen ein Palindrom. Die beiden vertikalen Seiten des Rechtecks werden durch die Wörter „Du lieber“ bzw. „lieber Du“ gebildet. Satzzeichen gibt es keine. Ungewöhnlich und ein bisschen irritierend für einen Text von Eugen Gomringer ist, dass die ,normale‘ Groß- und Kleinschreibung beachtet wird. Durch die Anordnung der Wörter auf der Karte ergeben sich Wiederholungen, die die Redensart sozusagen absichern.
Es ist wie immer in der Konkreten Poesie, dass jedes Wort, visuell so eindrücklich dargeboten, eine besondere Aura bekommt und bewusst wahrgenommen wird. Die Redensart beginnt mit Ach, einer Interjektion, die je nach Betonung und Länge sehr unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Am häufigsten drückt sie wohl Verwunderung aus – „ach du Schreck!“ Sie kann aber auch Mitleid ausdrücken – „ach du Armer!“ Jedenfalls ist die Bedeutung sehr multivalent. Gleiches lässt sich von Gott sagen, der so tief in die Umgangssprache eingedrungen ist, dass er in sehr vielen Redensarten präsent ist, meist als ein Füllwort, bedeutungslos geworden durch inflationären gedankenlosen Gebrauch. Wir benutzen die Ausdrücke „Halbgötter in Weiß“ oder auch „Fußballgott“ oder „die göttliche Garbo“ und verschwenden dabei keinen einzigen Gedanken an Gott. Und doch scheint es so, als gäbe es im westlichen Menschen eine tief verwurzelte „Kulturgläubigkeit“, wenn schon keinen Glauben. Das zeigt sich auch in brenzligen Situationen, in denen Ausrufe wie „Ach Gott“, „Um Gotteswillen“ u.ä. zum Standardrepertoire gehören. Und es kann davon ausgegangen werden – so habe ich es einmal gelesen –, dass es bei Turbulenzen im Flugzeug keine Atheisten gibt – O mein Gott!
Bei ACH DU LIEBER GOTT wird nicht der große, mächtige oder strafende Gott, die entfernte kosmische Energie, angeredet, sondern der liebe. Mit diesem Adjektiv verringert sich die Distanz zu ihm und macht eine vertrauensvolle Annäherung möglich.
Vor einigen Jahren gab es in Bamberg eine Ausstellung mit dem Titel „Ach du lieber Gott“. Es war eine Karikaturenausstellung, die einen kritisch-ironischen Blick auf die christlichen Religionen warf. Das Beispiel zeigt, dass die Redensart auch ironisch genutzt werden kann. Mit demselben Titel gab es 2015 eine Ausstellung in einem Kloster (Dalheim) zur Kulturgeschichte der Sieben Todsünden. Da titelte die Bildzeitung gewohnt reißerisch:

Ach du lieber Gott! Dieser Dildo gehörte einer Nonne.

Nortrud Gomringer, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays, Nimbus, 2018

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