SCHLAFLOS
Auf der Wache der Spiegel:
der Mond wacht daneben.
Glanz um Glanz striegelt
die Spinne die Fäden.
Doch matt nur glänzt
der Gedanke zur Nacht:
Kein Trug, kein Gespenst –
mein Tod steht auf Wacht.
Ich leb nicht, noch bin ich gestorben:
wach bin ich, hellwach
in einem Aug, das leer und verdorben.
Von Thomas Mann gibt es diese etwas spitze Bemerkung über Georg Lukács:
Solange er sprach, hatte er recht.
Sie kam mir jetzt wieder in den Sinn, als ich anläßlich der Nobelpreisverleihung an Octavio Paz noch einmal dessen gesammelte essayistische Schriften vor mir Revue passieren ließ: doch! – ja – recht hat er! – jedenfalls solange er über deutsche und englische Romantik spricht, über spanische Barockpoesie und über das Elisabethanische Theater, über den französischen Symbolismus oder über die surrealistische Internationale, man kann sich gar nicht satt daran lesen und kommt aus dem Hinhauen emphatischer Ausrufezeichen überhaupt nicht mehr raus; indes, wenn man dann wirklich Hunger bekommen hat und man wendet sich der Poesie des Autors zu: wie oblatenhaft klebt das auf einmal am Gaumen, und welcher fade Nachgeschmack von angekauten Bleistiften.
Ich schreibe das hier übrigens gar nicht so skrupelfrei hin, wie es möglicherweise den Anschein hat. Ich verehre in Octavio Paz den unendlich beschlagenen Universalgeist und literarischen Seelenführer, dem sich die Kulturen der Welt bei Anruf eröffnen und in ihren verborgensten Korrespondenzen zu erkennen geben. Den furchtlosen Propagandisten des lyrischen Einzelgesangs, dem die Poesie nichtsdestoweniger die magische Klammer zwischen ungezählten einzelnen bedeutet. Den Pädagogen, der unsere meisten akademischen Schriftgelehrten beschämen könnte, weil er aus Liebe lehrt, und der die poetischen Beziehungsfiguren Reim, Rhythmus, Sinnbild und Metapher als erotische Chiffren zu lesen versteht:
Der Glaube an die universale Analogie ist von Erotik eingefärbt.
Manches ist mir sogar so unmittelbar aus dem Herzen geschrieben, daß ich es am liebsten in alle Schul- und Unibänke einritzen möchte:
Die Nachahmung der Moderne hat mehr Talente steril gemacht als die Nachahmung der Alten.
–
Zur falschen Schnelligkeit kommt die Vermehrung hinzu: Nicht nur, daß die Avantgardisten, kaum sind sie entstanden, verschwinden, sie breiten sich auch aus wie schwammige Wucherungen.
–
Heute fragen wir uns: Gibt es einen Punkt, in dem das Prinzip des Wandels mit der Beständigkeit zusammenschmilzt?
Also da gibt es schon eine ganze Menge von wahlverwandtschaftlichen Resonanzen, bis hin zu der gemeinsamen Verhimmelung des Augenblicks als poetischer Offenbarungsquelle, obwohl er ihm in seinen empfindsamen Prosen wahrscheinlich näher ist als beim direkten lyrischen Tête-à-tête.
Außerdem, wenn ich das vielleicht kurz erwähnen darf, ohne anzüglich werden zu wollen: Wir sind uns auf dieser Welt schon einmal begegnet. Beziehungsweise ich hatte flüchtig die Ehre, in Austin/Texas, wo wir im Herbst 1969 im Verein mit anderen unseres Standes auf einer Freiluftbühne Gedichte vortrugen und Paz im Anschluß die von mir verlesenen Sachen heftig belobigte. Daß ich das Lob nicht mit gleicher Münze zurückgeben konnte, hing nicht allein mit der sicher gebotenen Zurückhaltung eines minor poet vor einem Mann-im-Weltmaßstab zusammen. Paz stand damals im Zenit einer zweifellos politisch eingefärbten Wertschätzung bei linken, liberalen oder doch progressistisch angehauchten Geistern der US-amerikanischen Studentenszene. Er hatte nach den martialischen Vorspielen der Olympiade (1968, wo auf der Plaza de Tlatelolco in Mexico-City dreihundert Studenten von den Panzern des Regimes zermalmt worden waren) seinen Botschafterposten in Neu-Delhi verlassen und seinem Land den Rücken gekehrt, und die Jugend der Welt feierte ihn – zu Recht – als eine in der Praxis nicht eben häufige Idealverbindung von moderner Literatur und humanistischem Fortschrittsgeist.
Trotzdem schienen mir seine zum Vortrag gebrachten Verse nicht ganz auf der Höhe seiner lobenswerten Zivilcourage. Im Gegenteil fielen die zum Tönen gebrachten Hohlformen sogar hörbar gegen seine politischen Bekenntnisse ab, was ich besonders nervspaltend fand, weil sich von meinen applausbegierigen Händen nur die linke richtig rühren wollte, die andere dagegen in einer gewissen hochachtungsvollen Duldungsstarre verharrte.
Daß die Poesie und die Politik nicht immer problemlose Weggefährten sind, na, wem sagen wir das. Ich brachte es seinerzeit jedenfalls nicht fertig, dem ein bißchen überfeierten Poeten die Hochachtung zu bezeugen, die der Homo politicus mir entlockte, und ich wähne mich auch heute von der Versuchung frei, Pazens Gedichten das anzulasten, was der politisierende Privatmann mir an Kopfschmerzen bereitet. Octavio Paz hat inzwischen, wie bekannt, seinen Frieden mit der Unverbesserlichkeit des mexikanischen Regierungssystems geschlossen. Seine früher mit schneidendem Hohn vorgebrachte Kritik an einer „Institutionellen Revolutionären Partei“ hat sich zusammen mit dem Gedanken an eine „traditionelle literarische Moderne“ zu paradoxalem Wohlgefallen aufgelöst.
Kurz, der Dichter ist ins Land seiner Väter heimgekehrt, ohne an seine eigene Herkunft als Sozialanwalt der Niedergestellten anzuknüpfen, auf die natürlichen Heilkräfte des Marktes vertrauend, von denen das heruntergewirtschaftete Mexiko heute weiter entfernt scheint als in den letzten fünfzig Jahren seiner Passionsgeschichte. Die Frage, was den mittlerweile vom edlen Wilden zum Weltmann aufgestiegenen Dichter eigentlich noch mit seinem Vaterland verbindet, möchte weder polemisch gestellt sein, noch beantwortet sie sich durch seinen extravaganten Bildungsgang von selbst.
Octavio Paz hat viele, und wie ich meine, entscheidende Lehrjahre seines Lebens im Ausland verbracht, was an der literarischen Signatur eines Autors ja nicht spurlos vorübergeht. Er bereiste im Jahre 1937 das von Revolution und Bürgerkrieg zerrüttete Spanien und gewann dort Anschluß an die iberische Avantgarde der Poesie, Rafael Alberti, Luis Cernuda, César Vallejo, Antonio Machado und Miguel Hernandez. Ein Stipendienaufenthalt in den USA (1943 bis 1945) machte ihn dann mit den modernen Amerikanern E.E. Cummings, Ezra Pound und William Carlos Williams bekannt, auch die Berührung mit Jorge Guillén fällt in diese Jahre. Ab 1945 im diplomatischen Dienst seines Landes tätig, lebte er von 1946 bis 1952 in Paris, wo er sich mit André Breton, George Supervielle, Benjamin Péret, Henri Michaux und George Bataille anfreundete und in den schon etwas stagnierenden Whirlpool der surrealistischen Bewegung geriet. Schließlich führten ihn ausgedehnte Bildungsreisen nach Südostasien, Indien, Japan, wo buddhistische, später taoistische Ideen zunehmend Einfluß auf sein Denken gewannen, und zwischen 1962 und 1968 wirkte er für sechs Jahre als Botschafter Mexikos in Neu-Delhi, ein wahrhaftig weltumgreifendes Curriculum, das die Frage nach der kulturellen Identität schon etwas brenzlig werden lassen kann.
Octavio Paz hat sie sich bereits im Jahre 1950 mit einer anthropologischen Studie zu beantworten versucht, deren mondän angehauchter Titel „Labyrinth der Einsamkeit“ sicher nicht nur von ferne an bekannte spätabendliche Befindlichkeitsschriften erinnert. Tatsächlich ist sie beides oder vielleicht sogar vielerlei: eine volks- und landeskundliche Recherche nach der verlorenen oder doch allmählich aus dem Blick geratenen mexicanida (als „Mexikanität“ etwas mißtonig in unseren Ohren klingend, aber was soll die Übersetzung da schon machen?); zweitens die Projektion von heimatlich gewonnenen Einsichten in die entfremdete Natur des Menschen auf einen allgemeinen Weltzustand („Hinfort werden die Entscheidungen der Mexikaner alle Menschen angehen und umgekehrt“); und am Ende sogar die Vorzeichnung einer eigenen lyrischen Grammatik, in der die Dialektik von dunklem Maskenwesen und spontanen poetischen Lichtblicken den widersprüchlichen Volkscharakter noch einmal nachzuspiegeln sucht.
Am tiefsten scheint mir Paz’ Untersuchung in das vermummt verhohlene Wesen des Mexikaners einzudringen, wo sie die steinerne Maske der Selbstbeherrschung als einen dunklen Abdruck von jahrhundertelanger Fremdbeherrschung deutet. Auch die landesweit zur edlen Mannestugend verklärte Verschlossenheit erscheint dabei als ein erzwungenes und letztlich neurotisches Nicht-aus-sich-Herauskönnen. Das krampfhafte Bemühen um formale Regelrichtigkeit und ein larvenhaftes Bild von Fassung als soziales Verelendungszeichen. Nur im Rausch, in der Orgie, in der Fiesta, auch im gewaltsamen Ausbruch, in der Revolution gelingt es dem in sich selbst Begrabenen den Panzer zu durchbrechen und „ein anderer zu werden, der er selbst ist und nicht ist“, was schon einigermaßen gespenstisch anmutet, weil man gar nicht mehr weiß, wo solche Verwechslungsspiele einmal enden sollen.
Unbedingt schmeichelhaft für die seelische und moralische Verfassung des mexikanischen Intellektuellen scheint mir diese durch ungewöhnlichen Freimut ausgezeichnete Charakterstudie nicht gerade, aber das macht sie uns auch wieder lieb, das nimmt uns spontan für ihren Verfasser ein. „Wir Mexikaner haben keine Form geschaffen, die Ausdruck unserer selbst wäre“, heißt es schonungslos genug in dem Kapitel „Mexikanische Intelligentsia“, und dann weiter:
Daher kann die Mexikanität mit keiner Form oder konkreten Richtung sich identifizieren: sie ist ein Schwanken zwischen verschiedenen universalen Entwürfen… Die Mexikanität ist eine Weise, uns nicht selbst zu sein, der oft wiederholte Versuch, anders zu sein und anders zu leben. Kurz gesagt, sie ist einmal Maskierung, ein andermal der plötzliche Entschluß, nach uns selbst zu suchen, das plötzliche Öffnen unseres Herzens, um unserer geheimsten Gefühle gewahr zu werden.
Die verwundene Sache löst sich für Paz auf verwunschenen Wegen, die allerdings erst richtig in den Irrgarten der Entfremdung führen. Sich der eigenen Identität in anderer Leute „Anderheit“ zu versichern, durchschweift-durchstreift der sentimentalische Lesereisende die ganze riesige Galaxis der Weltkulturen, von den Anfängen bis zur Gegenwart, ständig in der Versuchung, sich in literarischen Vorbildern zu bespiegeln: „Ich bin der andere“, schreibt Nerval, „Ich ist ein anderer“, sagt Rimbaud, „unheilbare Andersheit“ diagnostiziert Machado bei sich selbst, „sich selbst verstellen, heißt, sich selbst erkennen“, schreibt Pessoa, dessen Name wiederum nichts anderes als Persona, das heißt Maske, bedeutet, ein unaufhörlicher Hexenwalzer, nach dessen Melodie sich auch unser Autor zu drehen beginnt:
Der Mensch verwirklicht und vollendet sich, wenn er ein anderer wird. Indem er ein anderer wird, gelangt er wieder zu sich selbst.
Daß man die ausweglose Weise von der „Eigenheit“ in der „Anderheit“ auch ganz anders lesen kann, möchte ich nicht verhehlen. Was ich sehe, geht nämlich eher auf magische Verstrickung als auf lichten und befreienden Beziehungszauber aus. Was ich erkenne, ist eine fast religiöse Sehnsucht nach Bindung, „Kommunion“ und innerem Zusammenhalt (Suche nach einer Mitte heißt bedenklicherweise ein Gedichtbuch des Verfassers), was ihn mangels konkreter sprachlicher und sozialer Bodenhaftung aber immer nur weiter und höher in die Erdumlaufbahn treibt. Das Problem ist nicht neu, und es betrifft auch gar nicht Octavio Paz allein. Wer uns entgegentritt beziehungsweise gegenübersitzt ist niemand anderes als der uns allen bekannte Herr Büchergelehrte, der gern dichten können möchte, aber leider das Zauberwort nicht weiß, das einem nur die Muttersprache zuflüstern kann, und der sich ersatzweise auf den praktisch nie zu Ende zu bringenden Reflexionsweg begibt. Daß seine Verse unaufhörlich aus der Schule plaudern müssen, das heißt: von „Spiegelungen“, „Schatten“, „Echos“ und „Reflexen“ reden, ist wohl doch ein verräterisches Zeichen. Zwar nennt sich eine versifizierte Selbstermutigung gerade „Widerlegung der Spiegel“, aber das bringt das Leiden ja auch nicht aus der Welt, solange die gute Absicht sich nur in gegenstandslose Gedankenprosa fassen kann.
Du gingst in den Spiegel, „der auf uns zukommt“,
den leeren Spiegel der Poesie,
„Widerspruch aller Widersprüche“, und nun bist du im Haus der
Gleichnisse,
nun bist du, zu Füßen des Einen, obgleich noch immer ein
anderer, identisch mit dir selbst.
Beruhigen wir uns und sprechen mal wie bei uns zu Hause. Also, wenn ich einen Anlernling unseres Gewerbes vor mir hätte, und er würde mich reinen Herzens fragen, was in der poetischen Sprache eigentlich Sache und in der Lyrik die Musik sei, würde ich ihm vermutlich antworten, hör’ mal hin: „In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs / wurde auch kein Chopin gespielt“, ist das nicht wahnsinnig tief und zugleich ganz fürchterlich zum Lachen!? Beziehungsweise, um auch unseren anderen großen Nichtnobelianer zu erwähnen:
Es war der dritte Tag. Am Abend sind sie erfroren.
In diesen Jahren ist es zu kalt für die armen Leute
Läßt sich etwas so Schlichtes eigentlich an Hintersinn noch übertreffen?
Ich weiß, Benn hin, Brecht her, das ist nicht das Thema. Überhaupt ist es immer mißlich, das gedanklich oder stilistisch Unvergleichbare nebeneinanderzuhalten, um das eine durch das andere zu karikieren. Dennoch ist unser Thema die Identität des Dichters mit seiner Muttersprache, Identität mit den eigenen Mundwinkeln, Identität zwischen Unterbodentönen der Sprache und ihren artistischen Höhenflöten, und wenn Dichter erst anfangen, ihre poetischen Operationen mit prosaischen Zeigefingern zu begleiten, kann das nur in eine platonische Hohlwelt führen, wo Matrizen von Matrizen, Abzüge von Abzügen und am Ende nur noch literarische Readymades den Ideenhimmel bevölkern.
Ob man einem derartigen „rasenden Platoniker“ (siehe Carl Einstein) noch deutlich machen kann, daß auch ein weltweit verzweigtes Geflecht von Luftwurzeln die natürliche Bodenberührung der Sprache nicht ersetzt, vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß nur, was ich gelesen habe: daß die Begegnung mit der „strukturalistischen Linguistik“ dem Octavio Paz eines kritischen Tages wie ein „heilsamer Schock“ erschienen sein soll, eine schlimme Lehrmeisterin, wie ich meine, eine unheilvolle Sirene, und wer ihr genügend lange zuhört („Die Welt ist die Metapher einer Metapher. Sie verliert ihren Sinn und verwandelt sich in eine Sprachfigur“), dem entschwindet nicht nur die verachtete Realität aus den Augen, der büßt mit der Zeit auch sein ästhetisches Geschmacksvermögen ein. Nichts gegen den Dichter als Wahrsager, Spurenleser und Deuter des Vogelfluges, er sollte bei solchen Künsten nur nie verlernen, wie das Fliegen und das Singen eigentlich noch geht. Und obwohl wir uns selbst im Augurenfach immer gern getummelt haben, sind wir doch wohl ganz muntere Vögel geblieben, denen nichts so sehr behagt, wie den Berufsornithologen gelegentlich eins zu pfeifen. Die zum strukturalistischen Sehschlitz verengte Maske blendet ja nicht nur die buntgemischte Wirklichkeit aus, sie fängt auch keinen unvermuteten Lichtblick mehr ein. Sie projiziert – um es noch einmal andersherum zu sagen – ihre eigene schablonenhafte Sehweise auf eine prinzipiell als weiß und leer und unbeschrieben vorgestellte Weltenleinewand und kann schließlich keine Wachtel mehr von einer Tontaube unterscheiden: Es sind alles die gleichen verhuschenden Gedankenfiguren: Wär’ nicht das Auge maskenhaft …
Auf dem Sand
die Vogelschrift:
Erinnerungen an den Wind.
Es vergeht, luftiges Alphabet,
die geschwinde Schrift der Vögel.
aaaDer Sperber,
einsam dort in der Höh,
fliegt ein Zeichen,
aaadas sogleich
sich auflöst in Licht, in Luft.
Dort oben
schreiben die Sterne
immer das gleiche Wort.
Sehe die Sterne schreiben.
Ohne zu verstehen begreif ich:
auch ich bin Schrift
und eben jetzt
entziffert mich jemand.
Wir versuchen es jedenfalls, obwohl – wie soll ich sagen, ohne selbst zur Stereotype meines Mißbehagens zu gerinnen – der in Paz’ Gedichtbuch In mir der Baum schon tickhaft zutage tretende Zwang, die bewegende Welt zum Zeichen herunterzurechnen, durchaus seine Signifikanz besitzt. Dieser Dichter ist ein Nachfolger, Nachahmer, Nachsteller, Nachempfinder gewesen, seit er seine ersten literarischen Schriftzüge tat, und auf nichts anderes deuten diese zahlreichen Widergängerchiffren. Von einer übergeordneten Wahrhaftigkeitswarte her möchte man ihm fast schon wieder gut sein, weil der heimliche Jammer über die eigene Abhängigkeit nur immer solche sprechenden Schatten ausziehen kann. Und in seinen beschwingenden Prosen erscheint Paz ja manchmal wirklich als Dichter und insofern als sein eigener Vorläufer:
Ein gestreckter Pfeil, immer die Luft zerreißend, sich immer vorauseilend, über sich selbst hinausstürzend, abgeschnellt, atemlos, schreitet der Mensch unaufhörlich voran, und bei jedem Schritt ist er ein ,anderer‘ und er selbst.
Es ist nur leider so, daß das, was in Prosa so zügig flutscht, im Gedicht nicht unbedingt funktionieren muß (es ist ein unbarmherziger Wahrheitsanzeiger) und die schönsten Vorsätze, Vorzüge, Vorwürfe sich im Wortumdrehen in ihr Gegenteil verwandeln können.
REIBEFEUER
An einen Gaukler
So wie die Zeit mit uns spielt
am Rande der großen Grube,
bei Anbruch der Nacht
reibt er aneinander zwei, drei, vier, sechs
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaWorte!
und läßt sie fliegen dorthinaus,
Sonnen, Monde, Planeten
kreisen, glänzen, singen,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaverschwinden
wie diese Welt in der anderen.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSie werden zurückkehren,
diese Nacht oder die kommende,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaMusik,
die schlummert in der Muschel der Erinnerung.
Um es nicht zu kompliziert zu machen und trotzdem keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: „so wie“ – und im gedanklichen Anschluß dann: so auch er, das geht nicht. So etwas läßt sich, meiner Meinung, nicht einmal unter Azubis als intelligentes Schöpfungsgleichnis vorzeigen, es ist sein Gegenteil, der ohnmächtige Versuch, ein irdisches Gaukelwerk himmlisch zu illustrieren. Statt uns tatsächlich etwas Unerhörtes vorzuführen, wird das Mirakel nur beredet und beredet und unser Interesse an der Wundererscheinung von ihrer Präparation aufgezehrt. Die gewollten Anspielungen auf eine Weltenschöpfung erschöpfen sich selbst in diesen grauenhaften Verweisen auf ihre Bedeutung. Der Vergleich des dichterischen Handwerks mit den Praktiken des Magiers und dann auch gleich mit dem Großen Dritten über den Wolken entzaubert sich unfreiwillig durch den gar nicht aus dem Bilde weichen wollenden Zeigestock.
Zeigestock oder Zauberstab, das ist allerdings die poetologische Gretchenfrage, und selbst wenn wir mit Paz darin übereinstimmen, daß auch „der Surrealismus keine Poesie, sondern eine Poetik“ war, können wir noch ganz gut unterscheiden, was hübsche Programmusik und was – zum Teufel! – angemalte Gedankenlyrik ist.
Oder nennen wir sie, der Genauigkeit halber, lieber bebildert. Was der neue Gedichtband nur um ein weiteres Mal bestätigt, ist ja gerade des Autors sprichwörtlicher Mangel an Farbsinn und reeller Anschaulichkeit. Als einen Augenblicksanbeter ohne Augen, einen Sinnlichkeitsfex ohne Sinne, sehen wir ihn unentwegt in begriffliche Manipulationen verwickelt, wobei so edeltuende Allerweltswörter wie „Luzidität“, „diaphan“, „kristallin“ oder „transparent“ sich die fadenscheinigsten Spiegelgefechte liefern.
ZWISCHENZEIT
Augenblicksgebilde
über einer Pause schwebend,
Erscheinungen, weder herbeigerufen
noch gedacht, Formen aus Wind,
substanzlos wie Zeit
und wie Zeit zerronnen.
Aus Zeit gemacht, sind sie nicht Zeit;
sie sind der Spalt, das Interstitium,
der kurze Taumel des dazwischen,
wo die diaphane Blüte sich öffnet:
hoch am Stiel eines Widerscheins
kreist sie und vergeht.
Helligkeiten, nie berührt,
mit geschlossenen Augen gesehen:
die transparente Geburt
und der kristallklare Sturz
in diesen Augenblick dieses Augenblicks,
der noch andauert.
Hinter dem Fenster: öde
Dachterrassen und eilende Wolken.
Der Tag erlischt, und hell nun
die Stadt, nah und entfernt.
Schwerelose Stunde. Ich atme
den leeren, ewigen Augenblick.
„Transparenz“, „Diaphanie“, „Kristallinität“, schön und fein, aber darüber spricht man schicklicherweise nicht im Gedicht, man stellt sie her. „Transparenz“ ist ja gerade der unausgesprochene Verfassungsauftrag jedes nach Vollkommenheit strebenden Verses, und wer mit erläuternden Worten daran rührt, der hat sie schon verdorben. Was Octavio Paz über die „kalte und schale Sprache“ de Sades anmerkt, kann man ohne Abstrich an seine eigenen Gedichte weitergeben:
Sein sprachliches Ideal – wenn er sich nicht der Raserei überläßt – ist eine erotische Geometrie und Mathematik: die Körper als Chiffren und logische Symbole, die Liebespositionen als Syllogismen… nichts und niemand wird mich dazu bewegen, ihn als einen sinnlichen Schriftsteller zu bezeichnen.
Mit geschlossenen Augen,
mit Fingern und Zunge
entziffre ich auf deinem Leib
die Schrift der Welt
Den sich immer leicht anbietenden Einwand, daß der unvorteilhafte Eindruck vielleicht auf eine schlechte Übersetzung zurückzuführen sei, muß ich dabei mit Nachdruck zurückweisen. An diesen Versen gibt es gar nichts zu verderben. Ihre ausgeschnittenen Bilder und beliebig zu kopierenden Paradoxien sind genau aus jener Transparentfolie gemacht, die in jeder Sprache der Welt einfach Kunststoff heißt. Was in dem Buch linksseitig auf spanisch zu lesen ist, steht außerdem auf der anderen Seite sehr schön deutsch auf dem Papier, nur daß deutsch allein natürlich noch nicht gedichtet ist, und auch die beste Übersetzung (Rudolf Wittkopf) einer blumigen Metapher nicht zu dem erwünschten Duft verhelfen kann.
DAS PAAR
ist ein Paar, weil ohne Eden.
Wir sind aus dem Garten vertrieben,
sind verurteilt, ihn zu erfinden,
seine berauschenden Blumen zu hegen,
lebende Kleinode, die wir pflücken,
um einen Hals zu schmücken.
Nicht wahr? Und wo wir schon so offen von den Tücken des Übertragungswesens sprechen: die hängen wohl vor allem mit den Projektionen eines Literaturgelehrten zusammen, der immer gern ein anderer werden möchte als er ist, was ihn aber nur zu seinem minderen Alter ego zurückführt: dem Ghostwriter, der zwar in Prosa glänzt, in seinen uneigentlichen Gedichten aber einen eher matten Eindruck macht.
Peter Rühmkorf, Die Zeit, 7.12.1990
Unter dem Titel: „Octavio Paz, der überfeierte Poet. Kritische Anmerkungen zu den Gedichten des Nobelpreisträgers.“
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Octavio Paz
Der Magistrat der Stadt Frankfurt a.M. und der Suhrkamp Verlag ehren den Dichter Octavio Paz am 27.9.1992 im Kaisersaal des Römers.
Lesungen und Reden: Octavio Paz, Ulla Berkéwicz, Elisabeth Borchers, Eva Demski, Friederike Roth, Ralf Rothmann, Andreas von Schoeler, Siegfried Unseld, Rudolf Wittkopf
Bernhard Widder: Belesenheit und Fantasie
Wiener Zeitung, 28.3.2014
Peter Mohr: Romantiker in diplomatischen Diensten
titel-kulturmagazin.net, 31.3.2014
Octavio Paz – Porträt, Gespräch und Lesung Teil 1/2.
Octavio Paz – Porträt, Gespräch und Lesung Teil 2/2.
Octavio Paz – Filmporträt nach seinem Tod.
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