SILBERNES GEDICHT ALS GESCHENK
Ich weiß daß das alles nichts ist und daß die
aaaaaSprache die ich spreche kein Alphabet hat
Weil auch Sonne und Wellen eine Silbenschrift
aaaaasind die du nur in Zeiten der Trauer oder
aaaaader Verbannung entzifferst
Und das Vaterland ein Fresko mit aufeinan-
aaaaader folgenden Schichten, fränkischen oder
aaaaaslawischen läßt du dich aber zufällig
aaaaadarauf ein es zu erneuern landest du
aaaaasofort im Gefängnis und mußt Rechen-
aaaaaschaft ablegen
Vor einer Menge fremder Mächte stets
aaaaamittels deiner eigenen
Wie das bei Mißgeschicken so üblich ist
Dennoch stellen wir uns einmal vor daß auf
aaaaaeiner Tenne aus alter Zeit die auch in
aaaaaeinem Hochhaus sein könnte
aaaaaKinder spielen und der der verliert
Den Regeln gemäß den anderen eine
aaaaaWahrheit sagen und bieten muß
Bis alle am Ende merken daß sie in Händen
aaaaahalten ein
Silbernes Gedicht als kleines Geschenk
eine dem deutschen Ohr leicht eingängige, ,gefällige‘ Wiedergabe, eine Umdichtung, vorzustellen, sondern einen der Urfassung streng folgenden Text, um von der ,elytischen Vision‘, eingebunden in seine besondere sprachliche Substanz, möglichst viel zu bewahren.
Barbara Vierneisel-Schlörb, Vorbemerkung
Anzufangen wäre wohl so: Geboren wurde Odysseas Elytis, der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1979, in Iraklion (Heraklion) auf Kreta, zufällig fast, denn als Kreter hat er sich nie gefühlt, sondern als Ost-Ionier, stammten seine Eltern (mit dem bürgerlichen Namen Alepoudelis) doch von Lesbos, wo die Familie seit Generationen ansässig war. Als Kind kam er nach Athen, wo er die Schulen besuchte, schließlich das Gymnasium, und wo er 1930 das Studium der Rechte aufnahm. Oder auch: Frühe Gedichte hat Elytis in der Zeitschrift Nea Grammata („Neue Literatur“) publiziert. Oder schließlich: Als erste literarische Auszeichnung bekam er 1960 den griechischen Nationalpreis für Dichtung.
Anfangen könnte man tatsächlich mit der chronologischen Aufbereitung eines exemplarischen Dichterlebens in unserem Jahrhundert. Doch da die Begegnung mit einem lyrischen Werk und mit einem Dichter unserer Zeit niemals nur eine Frage der statistischen Chronologie ist, sondern sich im Bereich von Neugier und Faszination, von Entdeckerfreude und Bestätigung, von geistigem Risiko und intellektueller Gewißheit abspielt, mag der Leser verstehen, wenn ich nicht einfach den Registrator spielen will. Daß Neugier, Entdeckerfreude, geistiges Risiko nur selten so bestätigt werden, wie sie jetzt im Fall von Odysseas Elytis durch den Literatur-Nobelpreis bestätigt worden sind, ist selbstverständlich, doppelt selbstverständlich, wenn man seine Faszination an einen Dichter aus einem so wenig bekannten Sprachgebiet wie dem neugriechischen gehängt hat, an einen Dichter überdies aus einem Land, dessen Geschichte so unberechenbar verläuft wie die Geschichte Griechenlands in diesem Jahrhundert.
Als ich die Nachricht von der Zusprechung des Nobelpreises an Elytis erhielt, schoben sich mir denn auch zu allererst Fragmente der Erinnerung vor, Inseln des Gedächtnisses – und wie ich das Wort „Inseln“ hinschreibe, wird mir aufstörend bewußt, wie doppelsinnig es gerade in diesem Fall tönt, und dem Doppelsinn ist nicht zu entkommen, weil die Welt der Inseln und Küsten des Ägäischen Meers, des „immerblühenden“ und gewalttätigen, so sehr die Welt dieses Dichters ist.
Fragmente der Erinnerung, Inseln des Gedächtnisses: Mai 1963. Die Fährte einer Geschichte hatte mich nach Rhodos gelockt. Die Geschichte blieb eine Ahnung. Doch auf der Rückreise holten mich zwei andere Geschichten ein, griechische Geschichten, eine politische und eine literarische. Erst in den Jahren darauf wurde mir bewußt, daß die politische und die literarische Geschichte vielleicht als zwei Aspekte eines Weges zu verstehen waren.
Die politische Geschichte war die Ermordung des Parlamentsabgeordneten und Arztes Gregorios Lambrakis, der wenige Wochen zuvor einen Ostermarsch der griechischen Atomwaffengegner von Marathon nach Athen angeführt hatte. Die Nacht, in der die Leiche des Ermordeten im versiegelten Wagen eines Schnellzugs von Saloniki nach Athen übergeführt wurde (wie das später Vassilis Vassilikos in seinem Roman Z geschildert hat, der vor allem in der Filmfassung von Costa-Gavras international bekannt geworden ist), war die nämliche Nacht, durch die mich ein Schiff von Insel zu Insel nach Athen brachte. Über den Mord gab es keine klaren Nachrichten (die offizielle Lesart hieß „Verkehrsunfall“), und das Leben in Athen nahm seinen friedlichen Gang; auf der Akropolis fiel mir auf, wie viele junge Griechen, teils Rekruten in Uniform, ein Transistorradio bei sich hatten, um die Übertragung vom Fußball-Länderspiel Griechenland-Italien zu hören. Und doch spürte man da und dort, daß Angst, daß Heimtücke in der Luft lag. Intellektuelle traf man nicht zur üblichen Zeit im Café; Taxifahrer waren ungewohnt einsilbig.
Die literarische Geschichte war die persönliche Begegnung mit dem Dichter Odysseas Elytis.
Meine Beschäftigung mit seinem lyrischen Werk hatte etwa vier Jahre zuvor begonnen, als mir bei der Buchmesse in Frankfurt eine deutsche Archäologin, Barbara Schlörb (heute Barbara Vierneisel-Schlörb), Übersetzungen von Elytis-Gedichten in die Hand gab. Die Übersetzungen waren in Zusammenarbeit mit einer griechischen Freundin, Antigone Kasolea, und in Kontakt mit dem Dichter entstanden. Die Texte faszinierten mich unmittelbar; so kam es, daß ich als erster Elytis-Gedichte in deutscher Sprache herausbrachte, 1958 und 1959 einzelne Beispiele in der Zeitschrift hortulus, 1960 eine Auswahl in der Reihe der Quadrat-Bücher. Der zweisprachig gedruckte Band forderte große Aufmerksamkeit: von der Wahl der Druckschriften (Antigone-Griechisch und Marathon-Antiqua) bis zur Bereinigung der deutschen Texte mit der Übersetzerin. Ich beschäftigte mich mit den schon in Buchform vorliegenden französischen, italienischen, englischen Fassungen (die indessen nicht identisch in der Auswahl waren; englisch gab es zum Beispiel nur einen Sammelband Six Poets of Modern Greece). Nach Griechenland hatte es nur Briefkontakte gegeben. Als ich nun im Mai 1963 nach Athen kam, sollte ich Odysseas Elytis persönlich kennenlernen.
Und so hat sich das Bild des Dichters meiner Erinnerung eingeprägt: ein leiser Mensch von sensibler Aufmerksamkeit, mit offenem, fragendem Gesicht, von Allüren der Selbststilisierung ebenso weit entfernt wie von so etwas wie Leutseligkeit, ein sinnenhafter Eremit (was nur Puritaner als Widerspruch auffassen), Zigarettenraucher, ein Mann auch, für den es längst natürlich schien, keine Krawatte zu tragen (das fiel 1963 noch auf; Lambrakis als Parlamentarier hatte selbst auf dem Ostermarsch Krawatte getragen). Und ich erinnere mich an zwanglose literarische Gespräche.
Im Rückblick hat es mich inzwischen manchmal verblüfft, daß die Gespräche völlig unsensationell waren, obwohl Sensationen in der Luft hingen, verblüfft, daß wir nicht – ich glaube mit keinem Wort – politisiert haben. Doch diese Verblüffung entspringt einer perspektivischen Täuschung. Das aktuelle Geschehen in Griechenland war nicht durchschaubar. Und hätte mir der Dichter erzählt, Mikis Theodorakis sei dabei, seinen Zyklus To axion esti zu vertonen – Theodorakis war mir damals noch kein Begriff (das wurde er gut zwei Jahre später; einerseits durch den Film Zorba the Greek nach dem Roman Alexis Sorbas von Nikos Kazantzakis, andererseits durch das Verbot seiner Musik, zuerst im Radio und dann – nach der Machtergreifung der Obristen-Junta – ganz und gar). Zudem hätte ein aktuell-politisches Gespräch dem Selbstverständnis von Odysseas Elytis nicht entsprochen. Zwar war er als Dichter der griechischen Résistance populär geworden (vor allem mit dem Zyklus „Hohelied und Klage für den in Albanien gebliebenen Leutnant“, aus dem im vorliegenden Band nun erstmals Teile deutsch gedruckt werden; in italienischer Ausgabe lag es seit 1952 vor), und wenn er seine 1945 begonnene Tätigkeit beim griechischen Rundfunk nach mehrjähriger Unterbrechung erst 1953 wieder aufnahm (nach der Aussöhnung zwischen Athen und Belgrad), mögen auch politische Gründe mitgespielt haben; doch der lange Aufenthalt in Frankreich, mit Reisen nach England, Italien, in die Schweiz und nach Spanien, wurde von Elytis in erster Linie als wesentliche Station der geistigen Entfaltung und Selbstfindung erfahren. Gesprochen haben wir 1963 über die neugriechische Sprache und die moderne griechische Literatur. Das war freilich – indirekt – schon auch ein politisches Thema. Denn es waren die Dichter, die die noch um die letzte Jahrhundertwende unter Intellektuellen gepflegte klassizistische Kunstsprache überwanden und neue vitale Anstöße aus der Sprache des Volkes aufnahmen. Daran hing nicht nur die Frage eines neuen kulturellen Selbstbewußtseins, sondern auch die Frage einer Demokratisierung der Bildung. Konstantin Kavaphis (1888–1933) hatte zu Beginn des Jahrhunderts entschieden Abstand genommen vom Klassizismus, von einer restaurativen Sprache vom Kothurn herab; nicht umsonst war sein Haus in Alexandria der Treffpunkt einer lebendigen Jugend. Jorgos Sepheris (1900–1971), der als letzter Dichter Griechenlands vor Elytis den Literatur-Nobelpreis erhalten hat, 1962, war einen Schritt weiter gegangen, Elytis (um weitere elf Jahre jünger) nochmals einen Schritt. Es ist interessant, das Werk der drei Lyriker – die übrigens nicht die einzigen wichtigen Dichter Griechenlands in diesem Jahrhundert sind – zu vergleichen. Kavaphis, der fast sein ganzes Leben in Ägypten verbrachte, hielt sich noch vorwiegend an die Themen der klassischen Überlieferung, ebenso bildungsbewußt wie visionär. Doch fand er einen eigenen Stil aus der vital erlebten Gegenwart, klassizistisches Epigonentum entschlossen abstreifend, die natürlich weitergewachsene Volkssprache gegenüber den arroganten Ansprüchen der „Reinheitssprache“ mit ihrem blutleeren Bemühen, antiken Grammatikforderungen zu genügen, bevorzugend und doch gelegentlich artistisch auf die Antike zurückgreifend, einen Stil der Konversation in sensiblem Gleichgewicht von Unbefangenheit und Intellektualität.
Sepheris gelangt zu einer heutigen Dichtersprache des oft leidenschaftlichen, dramatischen Anrufs an die Mitmenschen, während schließlich die Gedichte des Odysseas Elytis mehr in sich selber zu Ende kommen, sich selber genügen. Man hat das anderswo „hermetische“ Lyrik genannt; wie sinnvoll der Ausdruck ist, mag dahingestellt bleiben. Mit der zeitgenössischen Dichtung anderer Sprachen standen übrigens alle diese neugriechischen Dichter in fruchtbarem Gespräch; daß dabei jeder seine eigenen Akzente der Begegnung hatte, versteht sich von selbst.
Die ersten Gedichte von Elytis erschienen nach dem frühen Tod von Kavaphis. Mit Sepheris stand er in freundschaftlich-kollegialem Kontakt. Doch keinem der beiden hätte es entsprochen, so etwas wie eine „Schule“ oder eine „Gruppe“ zu bilden. Gegenüber Kavaphis und auch gegenüber Sepheris gewann schon in den frühesten Publikationen von Elytis der Abstand zum Klassizistischen eine neue Qualität: die Identifizierung mit dem heutigen Menschen in der zeitlosen Landschaft wird intensiver – mit überraschendem Effekt: die hellenische Welt, in der auch die Dichtung des Odysseas Elytis fraglos verwurzelt bleibt, wird archaischer, herber erfahren, also näher und fremder zugleich als in „gräzisierender“ Glättung. Griechentum reicht da weit zurück und greift zugleich weiter aus, als sich das gymnasiale Schulweisheit je vorstellen konnte. Archaische Fremde und Modernität sind eins.
Daß darin kein Widerspruch liegt, ist mir seit meiner ersten Beschäftigung mit den Dichtungen von Odysseas Elytis und seit der ersten persönlichen Begegnung mit dem Dichter nur immer selbstverständlicher geworden: durch Gespräche mit Griechen, die während der Obristen-Junta in der Schweiz, in der Bundesrepublik Deutschland, in Italien, in Frankreich eine neue menschliche Heimat suchten (und zum Teil fanden), mit Schriftstellern dieser jüngeren Generation, ebenso wie durch genauere Beschäftigung mit dem Lebenswerk von Johann Jakob Bachofen, durch literarische Begegnungen (aus denen sich oft auch persönliche Begegnungen ergaben) ebenso wie durch die nicht mehr anthropozentrische neuere Archäologie, durch Filme von Pier Paolo Pasolini wie durch eine Hellenistik, die das Archaische ebenso mit einschließt wie das Byzantinische. Nicht „zupoetisieren“, sondern „poetisch freilegen“: das hat Hubert Fichte in Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen gefordert; allzu ketzerisch ist diese Forderung heute vielleicht nicht mehr. Doch jedenfalls trifft sie, glaube ich zu erkennen, genau den Punkt, trifft sie den Blickwinkel die Sensibilität, die gefordert ist, wenn man sich dem lyrischen Werk von Odysseas Elytis nähert. Ich denke zum Beispiel an das Gedicht, das vor zwei Jahrzehnten der ersten deutschsprachigen Ausgabe den Titel gegeben hat, „Körper des Sommers“, denke an Zeilen wie:
… nackt, verbrannt
Verzehrt von Öl und Salz
Körper des Felsens und Schauer des Herzens
Großes Wehen von Weidenhaar
Basilikumhauch über belocktem Glied
Voller Sternchen und Piniennadeln
Körper tief in die Reise des Tages gehüllt…
Wird die Meer-Landschaft der Ägäis derart erfahren (und Beispiele für solche Erfahrung wird der Leser dutzendfach finden), archaisch, hart, glühend, ekstatisch in ihren Verführungen und in ihren Schrecknissen kann der Mensch darin nicht als Herr der Schöpfung (so ging doch das gymnasiale, das „humanistische“ Leitbild?) auftreten, nicht als Maß aller Dinge. Er ist eingeschmolzen in den fraglosen Lebensvollzug von Landschaft und Stunde, als Frage und Wunde eher denn als Hochziel und Maßstab.
Dieser lyrischen Erfahrung entspricht es, daß Elytis durch sein ganzes Œuvre hindurch (und hierin unterscheidet er sich radikal von Kavaphis und teilweise von Sepheris) die „klassischen“ griechischen Mythen, die von der Tradition ausgelaugten Namen griechischer Götter und Heroen meidet. Es wäre eine irreführende Gräzisierung, überall dort, wo er von der Sonne spricht (neugriechisch „ilios“), in einer Übersetzung, die dem Text des Autors dienen und sich nicht zur selbstgerechten „Nachdichtung“ aufplustern will, „Helios“ zu sagen. Bei Albert Camus heißt es – und das dürfte für Elytis genau zutreffen:
Wie arm sind Menschen, die Mythen brauchen. Hier trifft man die Götter wie Ruhepunkte im Lauf der Tage. Ich sage: „Dies Ding ist rot und jenes blau und jenes grün; hier ist das Meer und dort das Gebirge, und dort sind Blumen.“ Wozu brauche ich von Dionysos zu reden, um zu sagen, wie gern ich die Mastixkügelchen unter meiner Nase zerdrücke?
Nur in einem Stück der 1960 edierten ersten deutschen Sammlung von Elytis-Gedichten sind drei traditionsschwere griechische Begriffe bewußt unübersetzt geblieben, im Gedicht „Der Schlaf der Tapferen“: Hades, Kairos, Arete. In diesem Text, der wie die großen Résistance-Dichtungen dem Kampf um die Freiheit Griechenlands entsprang, war der Anklang an die nationale Tradition gegeben. Die „Arete“ nimmt hier menschliche Gestalt an. Aber wie:
Einen Tropfen reinen Wassers, kraftvoll über der
aaaaaSchlucht
aaaaanannten sie A r e t e, gaben ihr einen
aaaaaschmalen knabenhaften Körper.
Den ganzen Tag steigt nun die kleine Arete hinab
aaaaaund müht sich dort hart
aaaaawo die Erde aus Unwissenheit faulte und die
aaaaaMenschen
aaaaaUnerklärliches dunkel bewirkten…
Keine antike Tapferkeitsgöttin von heroinenhaftem Zuschnitt ist diese Arete, sondern ein kleines Mädchen mit schmalem knabenhaftem Körper, das sich verbissen um Versäumtes müht, den ganzen Tag lang. Als ich – das sind bald zwanzig Jahre her – erstmals das Eigene der Lyrik von Odysseas Elytis zu umschreiben versuchte, erinnerte mich diese Stelle an Antigone von Jean Anouilh. Denn dort ist die Antigone genau dies: ein halsstarriges junges Mädchen, „die kleine Magere, die dort hinten sitzt und nichts sagt“ (aber sie allein wird Kreon trotzen), keine Heldin auf dem Kothurn. Die Übereinstimmung (die keine Übernahme sein konnte), die parallele Sicht der beiden Dichter empfand ich als exemplarisch. Und Elytis hat zwölf Jahre später, im Gespräch mit Ivar Ivask von Books Abroad festgehalten:
Der Schweizer Kritiker Hilty hat zu Recht beobachtet, daß für mich die Arete (da das Gespräch nur englisch gedruckt ist, heißt es: „virtue“) ein kleines Mädchen ist, das immer wieder ins Verderben rennt und doch der Lichtbalken der Hoffnung in der Dunkelheit bleibt.
Das sei seine Art, abstrakte Ideen zu personifizieren, vielleicht eine Schwierigkeit für manche Leser, sagte der Dichter 1972. Ein solches Kind als die ihm eigene und mögliche Personifizierung werde man in seiner Dichtung, vor allem in der Schaffensphase bis etwa 1960, mehrfach entdecken. Haben wir darüber gesprochen, 1963 in Athen? Ich erinnere mich nur an die aufmunternde Bekundung des Dichters, er fühle sich durch meine drei Jahre zuvor erschienenen Artikel verstanden. Und gesprochen – gesprochen haben wir tatsächlich in erster Linie über die Sprache: über den Weg von dem auf den humanistischen Gymnasien erlernten klassischen Griechisch zur Volks- und Dichtersprache der Gegenwart.
Ich glaube, zwei Elemente müßten auch für den Leser faßbar sein, der sich nicht weiter mit neugriechischer Dichtung beschäftigt: die vitale Berührung von Elytis mit der surrealistischen Dichtung und der Horizont einer modernen mediterranen Poesie, zu der die Spanier – und unter ihnen vor allem Lorca – ebenso gehören wie die Franzosen, etwa René Char und Albert Camus in seiner dichterischen Prosa (zum Beispiel „Noces“, deutsch „Hochzeit des Lichts“ woraus oben schon zitiert worden ist), Italiener ebenso wie Griechen, also Ungaretti, Montale, Quasimodo ebenso wie Kavaphis, Sepheris und Elytis. Der Kontakt mit dem französischen Surrealismus läßt sich für Elytis biographisch genau behaften. Als Achtzehnjähriger, der eben begann, Jurisprudenz zu studieren, war er von einem Gedichtband von Paul Eluard so beeindruckt, daß er einen Briefwechsel mit dem 16 Jahre älteren und bereits im Glanz des Ruhms stehenden Dichter begann. Die Lektüre weiterer surrealistischer Dichter und die Beschäftigung mit surrealistischer Malerei vertieften die erste spontane Faszination. Und nach Krieg, Résistance und Résistance-Dichtung, nach Radioarbeit in der ersten Nachkriegszeit, ließ sich Elytis 1948 in Frankreich nieder. Bereichert und in seiner Eigenart bestärkt durch jahrelangen Kontakt mit französischen Kollegen, durch die anspruchsvolle Schule der Übersetzungstätigkeit auch (Breton, Lautréamont, Eluard, Tzara, Char, Jouve, Michaux, auch Ungaretti und Lorca gewann er fürs Neugriechische) kehrte er fünf Jahre später nach Athen zurück. Kunstkritik, Radio, Theater, Ballett beschäftigten ihn in der folgenden Zeit beruflich; für eigenes kreatives Schaffen hatte er neben der Lyrik die bildende Kunst erobert (dahinter stand der intensive Kontakt mit Picasso, Giacometti, de Chirico).
Wie sehr es Elytis gelang, Anstöße des Surrealismus ins unverwechselbar Eigene zu transponieren, sich anzuverwandeln: dafür empfinde ich das Gedicht „Autopsie“ als das erstaunlichste Beispiel. Doch ist dem dichterischen Gespräch mit dem Surrealismus mehr zu danken als dieser oder jener einzelne Text: eine Freiheit im Umgang mit der poetischen Bildwelt, in der Volkssprache und Dichtersprache erst ganz jene selbstverständliche Kongruenz fanden, die seine Gedichte auszeichnen.
Was ich mit dem Begriff „mediterrane Dichtung“ anzudeuten versuche, läßt sich etwa durch das Wort „Echo“ zeigen: ein Schlüsselwort in der lyrischen Welt des Odysseas Elytis. Himmel und Meer, Meer und Land, Landschaft und Mensch, Mann und Frau, aber auch die Ekstasen der Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, stehen zueinander in einem Echo-Verhältnis, eins des andern Spiegelung. Die Gedichte sind geradezu ein Kanon solcher Echos und Spiegelungen. Daraus erwächst die Eigenart der lyrischen Bilder: kaum beginnen sie sich zu plastischer Greifbarkeit zu sammeln, verflimmern sie wieder. Und da entdeckt der Leser immer wieder Signaturen des Lyrischen, die kaum mehr zu steigern sind: „Erde Böotiens vom Winde durchleuchtet“, „immerblühendes Meer“, „Kleid aus Grasmelodie“, aber auch:
Rosig vom Himmelslicht drehte sich die Zeit
Und die Menschen gingen weiter
In Schmerz und Traum
Es wäre reizvoll (und leicht), geistesverwandte Stellen aus Dichtungen von Lorca, von Char oder Camus, Montale oder Quasimodo danebenzusetzen. Doch das Herauspicken von „Stellen“ ist immer problematisch. Entscheidend dünkt mich, daß bei all diesen (und weiteren) Dichtern die Meer-Landschaft die mediterrane Welt, in einer Glut, Herbheit und Berückung erfahren wird, die jenseits der Konventionen eines literarischen Tourismus, jenseits klassizistischer Raffinesse steht, fremder und näher archaischer und menschlicher zugleich.
Vielleicht wäre damit zu schließen: die Existenz dieses Mannes Odysseas Elytis sei in einem so seltenen Maße dichterisch, daß er für den Literatur-Nobelpreis prädestiniert sein mußte. Aber ich muß auch das Ende des Nachworts persönlicher halten als den Anfang. Allzu oft bedrängte mich die Frage, wie denn dieser leise und offene, verwurzelte und weltläufige Mensch, dieser sensible und liberale Geist, dieser sinnenhafte Eremit, dieser einstige Résistancekämpf er ohne Neigung zum Plakativen, Dramatischen, die Zeit seit unserer persönlichen Begegnung erlebt habe. Nun, Elytis hatte sich die Fähigkeit bewahrt, sich auch in der bildenden Kunst zu verwirklichen in Gouachen und Collagen. Wiewohl er seinen Wohnsitz in Athen behielt, verbrachte er immer wieder einige Monate auf Zypern, benützte er seine lebenslange Reisefreude zu Aufenthalten in Paris und auch – trotz manchen innern Widerständen (politischen Vorbehalten gegen den Umgang der Vereinigten Staaten mit Griechenland und einer fast physischen Abneigung gegen die Veramerikanisierung des Mittelmeers) – zu einer Reise durch die USA. Amerika hat heute den größten Teil seines Lebenswerks übersetzt; in Amerika gibt es inzwischen auch Doktorarbeiten über die Lyrik von Elytis, und die Zeitschrift Books Abroad brachte Ende 1975 eine Elytis-Sondernummer, die eine wichtige Dokumentation darstellt. Und doch muß es für Odysseas Elytis so etwas wie eine Erfüllung seiner Existenz sein (mehr als Preis-Würden), daß er in den letzten Jahren das gegenseitige Sich-Finden des Dichters in der Sprache des Volkes und des Volkes in der Sprache des Dichters in einer Unmittelbarkeit erleben durfte, wie das nur wenigen Autoren unserer Zeit noch möglich ist.
Hans Rudolf Hilty, Nachwort
mit dem Namen Alepoudelis 1911 in Heraklion auf Kreta geboren, einer ostionischen Familie entstammend und heute in Athen lebend, wurde 1997 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Mit Konstantin Kavafis und Giorgos Seferis zählt er zu den großen griechischen Lyrikern der Gegenwart. Seinen Ruhm als Lyriker als „Dichter des Widerstands“, begründete sein „Klage- und Trauergesang auf den verlorenen Leutnant in Albanien“; als sein Hauptwerk gilt das aus dem Jahr 1959 stammende hymnische Poem To Axion Esti – Gepriesen sein, das in Teilen von Mikis Theodorakis vertont wurde. Elytis ist in seiner Heimat als bedeutender Übersetzer der Werke Lorcas, Majakowskis, Paul Eluards, Rimbauds und von Brechts Kaukasischem Kreidekreis bekannt. Unser Band bringt Gedichte aus alten und neuen Gedichtsammlungen sowie vom Dichter für diesen Band ausgewählte jüngste Gedichte. „Weitblick offenen Geistes und sinnenkräftige Verbundenheit mit den Urgebärden des Lebens, magischer Surrealismus und ungebrochene hellenische Substanz “, schrieb Hans Rudolf Hilty, „vereint sich in dieser Lyrik zu schmerzlich leuchtenden Inbildern mediterraner Existenz.“
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2016
Danae Coulmas: „Mein Himmel ist tief und unaustauschbar“. Odysseas Elytis – der Schöpfer eines neuen griechischen Mythos, Merkur, Heft 401, November 1981
Asteris Kutulas erinnert sich an seine Besuche bei Odysseas Elytis
Manuel Gogos: Der Schaumgeborene
Neue Zürcher Zeitung, 5.11.2011
Hansgeorg Hermann: Kämpferische Unschuld
junge Welt, 2.11.2011
Odysseas Elytis: AXION ESTI in einer Version von Mikis Theodorakis im Lycabetus Theater in Athen im August 1977.
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