STANDORTERMITTLUNG
Was du auch siehst – siehst du gut
doch genug daß es Botschaft ist.
Schon auf kleinster Wolke macht der Mond gute
aaaaaFahrt
Alligator der Bäume
und saure Stille der Lagunen
beim Tuckern fernen Spiritusmotors
sobald die Welt grundsätzlich als Botschaft verständlich wird.
Dichtung o meine Heilige – verzeih mir
lebendig aber muß ich doch bleiben
um ans andere Ufer zu gelangen
alles ist besser
als langsamer Mond durch Gewesenes.
Sturm um Sturm brennt sich mir ein
untilgbar wie enkaustische Spur
boustrophedonisch lösch ich mich selber
beim Begleichen der Zeit.
Es sei denn auch ich existiere nicht
und die blonden Tage hätten in die Tiefe
der Ozeane tauchend für immer
das Traumbild entführt
den Lichtbaum
Maria Nepheli erschien Anfang 1979, fast ein Jahr bevor Odysseas Elytis (geb. 1911) den Nobelpreis für Literatur erhielt. Zwanzig Jahre zuvor, im Anschluß an die Publikation seines größten Werkes Gepriesen sei (1959), hatte er sich zum ersten Mal mit diesem Stoff beschäftigt. Die griechische Kritik bezeichnete dieses „szenische Gedicht“ als eines der bedeutendsten lyrischen Werke der Zeit, was sicherlich nicht nur auf Elytis’ Rang als Dichter zurückzuführen ist, sondern auch auf den Inhalt und Anspruch des Buches: Maria Nepheli muß als ein Akt des Widerstandes eines Dichters verstanden werden, der nach dem vermeintlichen Untergang des Abendlandes dem Menschen doch noch die Hoffnung auf Humanität verheißt. Elytis, ein Grieche, der bewußt in der Tradition eines alten Kulturvolkes fußt, führt auch hier den „Kampf eines modernen Menschen für Freiheit und Kreativitat“, wie das Nobelkomitee anläßlich der Preisverleihung es formuliert hat; Maria Nepheli ist der Ausdruck eines heroischen Humanismus.
„Das Mädchen und der Dichter“ – Der erste, der optische Eindruck von Maria Nepheli ist die kontrapunktische Aufteilung des Textes – auf Seite und Gegenseite jeweils in anderer Schrift – in Stimme und Gegenstimme. Eine Art Gespräch zwischen einer jungen Frau und einem Mann, der sich als Dichter offenbart. Ein biographisches Detail erleichtert den ersten Zugang zum Text, das Verständnis des Vordergründigen, der Symbole: den Impuls für die Gestaltung der Figur von Maria Nepheli hat für Elytis eines jener Mädchen gegeben, die wie in anderen Hauptstädten der Welt auch in Athen durch ihr Aussehen und ihre Verhaltensweise Auflehnung und tieferes Wissen manifestieren wollten. Maria Nepheli ist der Prototyp der jeweils jungen Generation, die seit der Zeit des Existentialismus bis zu und nach dem Pariser Mai 1968 in kulturrevolutionärem Zorn das Etablierte verneint. Odysseas Elytis hat die viel berufene Kluft zwischen den Generationen nicht als gegeben anerkannt: „Vielleicht existiert der Abstand zwischen den Generationen nur scheinbar… vielleicht ist es nur eine Frage der Ausdrucksmittel“, sagte er in bezug auf Maria Nepheli. Und er wendet diese neuen Mittel an, zunächst für die Partitur der Maria Nepheli und für seine eigene – die „Gegenstimme“ –, aber nur dann, wenn er der jungen Frau beipflichtet. Sonst spricht er die hohe Sprache seiner früheren Gedichte weiter, die Sprache, die er als Gegengewicht zum Gang der Dinge in dieser Welt setzt. Er selbst weist darauf hin:
Wenn sie ein anderes Zeitempfinden hat, fragmentarisch spricht, wie viele heutige Mädchen, spreche ich in der Dimension des Traumes.… wenn das Mädchen sich nach unten bewegt, tief unter die Erde steigt, steige ich hoch hinauf (Tageszeitung Kathimerini, 20. u. 21./22.10.1979).
Diese zwei Bewegungen bildlich bis tief unter die Gräber („Tarquinia“) und hoch über die Sterne – ergeben die Dramatik des Gedichtes. Bis schließlich der antiphonitis, die Gegenstimme (auf griechisch männlich) – an antiken Chor und an orthodoxe Liturgie erinnernd die junge Frau hinaufzieht, mit der Kraft desjenigen, der eine ewig gültige Wette wagt und ihr die Majestät des Lichtes verkündet („Die Ewige Wette“). Dies führt aber auf eine zweite Verständnisebene, zu der uns Elytis selbst mit Worten aus seiner frühesten Gedichtsammlung Orientierungen (1939) hinleitet, die er diesem, seinem vorläufig letzten Werk voranstellt:
Deute, strebe, begreife: auch von hinten besehen bin ich der gleiche.
„… von hinten besehen bin ich der gleiche“ – die Trennung in zwei Personen ist aber nur auf der Ebene der Symbole relevant. Diese Verse sind gleichsam der Stempel auf der Unveränderbarkeit einer lyrischen und existentiellen Norm im Werk dieses Dichters und der Dichtung überhaupt, wie er sie versteht:
Ich betrachte die Dichtung als eine Quelle kämpferischer Unschuld, die ich in meinem Bewußtsein gegen eine schuldige Welt richte (…). Ich hoffe, daß ich auf diese Weise eine Gerechtigkeit am Leben erhalte, die mit dem absoluten Licht identisch ist („Mit offenen Karten“, 1974).
Diese Definition der Dichtung ist der Schlüssel auch zu Maria Nepheli, ja es scheint, als wäre sie zum Beweis ihrer Anwendbarkeit gedichtet, man braucht nur auf die „schuldige Welt“, in die Maria Nepheli hinabsteigt, zu verweisen, auf die „kämpferische Unschuld“, welche der Dichter ihr entgegensetzt, auf die „Gerechtigkeit“ – im Symbolismus der Vögel etwa oder in suggerierter altgriechischer Tragik – und auf das „absolute Licht“, dem Maria Nepheli sich am Ende angleicht. Maria Nepheli, modern in ihrer gleichgültigen Promiskuität und doch um die Errettung der Lust, der Liebe flehend, aggressiv in ihrer aus Wissen entspringenden Trübsal, ist rein; sie ist Träger von Unschuld, wie alle jene, die Elytis für würdig hält, „erdichtet“ zu werden.
Insoweit ist er sich treu geblieben. Dennoch, dieses Buch war eine Überraschung. Denn zum erstenmal ist Kontrapunkt zu jener „Dimension des Traumes“, von der er selbst spricht, zur Unschuld, nicht wie sonst in seinem Werk das Böse an sich, Krieg, Tod, unverschuldetes Leiden und überhaupt Grenzsituationen (wie in Hohelied und Klage für den in Albanien gebliebenen Leutnant, 1945, und in Gepriesen sei, 1959), sondern die Beschaffenheit unseres Alltags selbst, unseres Friedens: dieser neuen abendländischen pax im Überfluß, der „pax Santropezana“, wo wir mit der Dumpfheit von Tieren einem hohlen Vergnügen nachjagen, „mischeuropäisch“ krakeelen und kreischen – mischeuropäisch, wie die Namen unserer multinationalen Firmen des Konsums, die, einem Teilgedicht einverleibt, nicht nur im griechischen Originaltext wie Barbarismen wirken („Ich sehe dich“), Die Barbarisierung zu einer neuen Steinzeit hin hat begonnen, der Count-down bis zur völligen Vernichtung des Planeten. Zu diesen ihren Todestanz tanzenden Menschen begibt sich Maria Nepheli in hoffnungsloser Entscheidung – „habe ich mich selber unter die Menschen verbannt“ („Die Gegenwart“).
Die andere Seite, die Rückseite seiner selbst? Dieser Dichter hatte sich der Sonne geweiht – „und mich selber ins Licht verbannt“ („Die Gegenwart“). Titel wie „Sonne die erste“, „Sonne die Herrscherin“, „Der Lichtbaum“, unzählige Gedichte, Verse, Bilder von großer Schönheit zeigen ihn, dem Licht huldigend; wobei er dieser, an sich nicht ungewöhnlichen, Lichtmetaphysik einen einmaligen Charakter gegeben hat. Sicherlich auch darin bewegt sich Elytis in der platonisch-plotinischen und auch in der orthodoxen Tradition seines Landes, auch er in Ablehnung der poésie crépusculaire, wie andere mediterrane Lyriker seiner Generation. Aber die Kraft seiner spezifisch griechischen, maßvollen Ekstatik entzündet sich an der unverwechselbaren, lichtdurchfluteten Landschaft der Ägäis, an einer vergeistigten Welt, wo Metaphysisches und Sinnesempfindung nicht Gegensätze, sondern Einheit und Ursprung sind: Die Kykladen sind in frühen Versen „Steinbrocken“ gleich den Fragmenten Heraklits. Nicht das allgemein Mediterrane, nicht das Maritime ist sein Raum, sondern das unwiederholbare Verhältnis zwischen Meer und Land, wie seine Heimat es darstellt, wo abendländischer Geist sich zuerst offenbarte. Diese Welt wird von ihm zur Norm menschlichen Daseins erhoben, an diesem Kanon wird alles Menschliche gemessen.
Seit den ersten Gedichten gehörten hierzu auch die Mädchen mit der vollendeten Körperlichkeit des Kieselsteins; lichttrunken und berauscht vom Meer gleichen sie Naturphänomenen in paradiesischer Schönheit. Auch Maria Nepheli ist schön wie ein Naturphänomen („Hymnus auf Maria Nepheli“). Und so wie einige weibliche anthropo-physische Figuren, zwischen Naturphänomen und Frau, zwischen Baum und Geliebter, so wie „Marina der Felsen“, trägt auch sie etwas Natur in ihrem Namen: Nepheli, Wolke. Doch sie entspricht nicht dem gewohnten Mädchenbild elytischer Lyrik. Als der Typus des modernen jungen Mädchens, der sonst in der modernen Literatur meistens schablonisiert oder durch Psychologismen verzerrt auftritt, wird sie hier, scharfkonturiert, zum Ausdruck der dichterischen persona hypostasiert; als Symbol des sich im Logos definierenden Menschen – des „Dichters“ andere Seite.
Maria Nepheli – Schon durch die sinngebende Benennung suggeriert Elytis einiges mehr als die Gestalt selbst: Maria, Muttergottes, im griechischen Urname der Frau, gleichsam Liebe, Reinheit und Heiligkeit, aber auch Passion andeutend. Und Nepheli, Wolke. Unfaßbar, entfernt, sich verändernd, die Transparenz des Lichtes verhindernd, trüb. Auch dieser Name verweist auf Christlich-Religiöses, auf Wolken, die Gott und die Schöpfung umgeben oder tragen, in Texten, aus denen Elytis auch sonst Inspiration und Formelemente bezieht, wie etwa die Offenbarung Johannis und die Gesänge von Romanos, dem Hymnendichter des byzantinischen Reiches. In der altgriechischen Mythologie wiederum ist Nephele (alt- und neugriechisch gleichgeschrieben, für Elytis also identisch) die Wolkengöttin, die, durch unverschuldetes Leid bis zum Wahnsinn getrieben, den Tod bringt und Trübsal bedeutet. Dieser Bezug zum Tod – und dessen Überwindung – wird am Anfang des Buches offensichtlich, als Maria Nepheli das Anagramm ihres Namens auf einem antiken Grabrelief entziffert, dort also, wo der Tod in der Gestalt einer verstorbenen Frau mit der Harmonie ewig währenden Lebens dargestellt wird – auf einer attischen Stele.
„Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht / menschlicher Geste? (…) Fänden auch wir ein reines, verhaltenes, schmales / Menschliches, einen unseren Streifen Fruchtlands / zwischen Strom und Gestein.“ – Wie eine Antwort auf diese Sehnsucht eines anderen Dichters (Rilke, in der „Zweiten Duineser Elegie“) wirkt das Bild, das Elytis von Maria Nepheli in der Schlußapotheose zeichnet, jäh angestrahlt durch alle Meeresströme, auf dem Stein thronend, „den Sturm sittlicher Norm unterwerfend“ („Die Ewige Wette“). Doch Elytis stehen sprachlich viel nähere Texte als Inspirationsquellen zur Verfügung – Euripides und das Wolkenbild der „Helena“ (nepheles agalma), und vielleicht Kavafis’ „Im Monat Athyr“, was die schwer lesbare Grabinschrift anbelangt. Wieviel Absicht des Dichters, wieviel Willkür beim Leser in solchen Assoziationen liegt, bleibt offen. Sicher ist, daß Maria Nepheli, wie auch andere Werke von Elytis, unzählige Möglichkeiten bietet, inhaltliche Bezüge, motivische Übereinstimmungen, explizite oder nur angedeutete Hinweise festzustellen. Hinter diesem modernen Umgang mit anderen literarischen Texten verbirgt sich die gleiche sinnliche Vitalität, die auch Elytis’ Eindringen in die Natur charakterisiert: Zeugnis eines zutiefst poetischen Eros. Fremdsprachige Zitate, darunter auch deutsche, begegnen mehrmals in Maria Nepheli. Aber auch ohne dies ist ein besonders nahes Verhältnis zur deutschen Lyrik offensichtlich – so gäbe z.B. Elytis’ Rezeption hölderlinschen Gedankengutes ein Dissertationsthema her, wobei es von Interesse ist, daß Elytis in Hölderlin nicht, wie es nahe läge, den philhellenischen Dichter des Hyperion sieht, sondern denjenigen, der für ihn, neben Rimbaud, den Dichter an sich darstellt.
Über den Einfluß französischer Lyrik, vor allem des Surrealismus, auf Elytis’ Dichtung ist viel geschrieben worden: ein Einfluß, der nur insofern wirksam wird, als er Freiheit im Ausdruck bedeutet, nicht aber als automatische Schrift oder als Präponderanz des Unbewußten. Das gilt auch für Maria Nepheli. Elytis ist, trotz der unbändigen, explosiven Kraft seines Bilderreichtums, einer der bewußtesten Dichter unserer Zeit, was ihn mit dem anderen Nobelpreisträger seines Landes, Giorgos Seferis, trotz aller Unterschiede, verbindet. In Maria Nepheli verdichtet sich seine Tendenz zum Durchdachten und Aphoristischen in jenen knappen Sentenzen, die jeweils die Rede von Maria Nepheli und der Gegenstimme abschließen.
Diese, sehr frühe, Neigung zur gedanklichen Verdichtung einer sonst bildlich-lyrischen Sprache wird in Maria Nepheli zum formellen Bestandteil, zum didaktischen Element eines reifen Werkes. Sicherlich genauso wichtig aber ist eine andere Komponente: die Fragezeichen, die bei Rückgriffen auf Gedankengänge, die jedem Kenner seines Werks geläufig sind, jetzt bisweilen gesetzt scheinen. Infragestellen früherer Einsichten? Eher Anflüge von Zweifel in einem Kampf, der schließlich doch gewonnen wird. Auch die Namenssymbolik der Titelfigur wird unter diesem Aspekt begreiflich. Maria Nepheli erfüllt nicht nur den Auftrag, der in ihrem Namen liegt. Sie besitzt darüber hinaus die Aggressivität des Uneigennützigen, sie ist ein „Messer“ und eine Waffe, deren Reichweite Äonen durchmißt, sie ist „der elfte Gesang“ der Ilias, wo Eris, die Göttin des Streits, herrscht und die schreckliche Schlacht entfacht; oder einfach ein angry young girl, würde man meinen, da sie Aussehen und Milieu mit dieser zornigen Generation teilt. Doch ihre aggressive Trauer – ein Grundbegriff im Buch – scheint von anderem Stoff zu sein, sie transzendiert ihre „Modernität“ ins allgemein Humane. Und ebenso widerspricht sie romantischen Gestimmtheiten der Weltliteratur. Nicht Selbstmitleid, nicht Weltschmerz, sondern objektive Erkenntnis, Wissen macht Maria Nepheli entschlossen und visionär: nicht dem Gretchen und nicht der Sophie von Kühn – mit der sie sich liebevoll-ironisch vergleicht – sondern eher einer Kassandra dürfte sie verwandt sein: „ich konnte den Toten schon sehen, bevor noch der Mord geschah“ („Die Gegenwart“). Und Elektra.
„Electra Bar“ und die Reise nach „Patmos“ – Es gibt mehrere assoziative Hinweise auf Mykene und auf das Schicksal der Atriden in diesem Poem. Bis Maria Nepheli, die sich selbst definiert als ein inkohärentes Wesen ohne geographischen und historischen Standort und die in Zeitparadoxa lebt – einmal ein ganzes Leben in vierundzwanzig Stunden, einmal ein Leben ausgedehnt über 6000 Jahre –, in einer jener Bars, wo sie ihr Daseinsalibi sucht, und die bezeichnenderweise „Electrabar“ heißt, griechische Wurzeln aufdeckt. Trotz ihres diachronischen Daseins, trotz ihrer Internationalität, bringt sie eine Tragik zum Ausdruck, die die Tragik Elektras fortsetzt und überbietet:
Würde mir je zuteil (und auch das ist fraglich)
die Ader in der noch rollt Agamemnons Blut
bar jeglichen Beistands des unbekannten Bruders.
Elektra ohne Orest. Jahrtausende an das Tragische gewöhnt, haben wir uns zurechtgefunden in Mitleid und Furcht, stets die Katharsis erwartend, uns auf das Kommen von Orest verlassend und auf die Wiederherstellung der gerechten Ordnung. Wir gewöhnten uns sogar an ein Dasein vielleicht ohne Gott, in „heroischern Agnostizismus“. So wirkt dieses, die tragische Geschichte Elektras, die doch noch in den sicheren Konstanten von Schuld und Sühne begreiflich wurde, weiterdenkende Gedicht als das Zeugnis einer neuen „heroischen“ Erkenntnis: ohne Gewißheit auf Katharsis, ohne die Hoffnung auf die Hilfe eines anderen Menschen. Noch in der Tradition fußend und mit ihren Mitteln formulieren wir unseren Standort jenseits dieser Tradition.
Von diesem Standort wird der Dichter Maria Nepheli wegziehen, ihren trüben Zweifel Lüge strafend. Und hier beginnen die Symbole zu wirken mit der Kraft und dem Reichtum der sprachlichen Möglichkeiten eines griechischen Dichters – und wir gewinnen wieder Boden unter den Füßen: die griechische, die tragische Auffassung von Trauer verbindet sich hier mit der modernen Problematik – nach dem Menschen ohne Gott nun auch der Mensch ohne den Menschen („geben wir unseren Füßen die Erde wieder, das Grün dem Grün, den Menschen von Neandertal dem Menschen von Neandertal“ [„Der Trojanische Krieg“]). Sie allein, die Trauer, die Elektra-Maria Nepheli trägt, treibt menschliche Geschichte weiter.
Bereits im Hohelied und im Gepriesen sei ragte diese gleiche Grundstruktur elytischen Denkens heraus. Nicht die Trauer an sich, nicht die Passion als solche war je Gegenstand dieser Lyrik. Sondern Passion und ihre sinngebende Preisung als Einheit. Der Leidensweg und seine Glorifizierung.
Als der Dichter Maria Nepheli die Hand reicht, hebt er die andere geöffnet gen Himmel und definiert dadurch seinen Standort als den Schnittpunkt zwischen „Hybris“ und „Gestirn“ („Standortermittlung“). Wer den Psalm 15 „Du hast mich gewollt, Gott“ aus der „Passion“ in Gepriesen sei daraufhin liest, sieht, wie widerstandsfähig Dichtung ist, wenn sie als prometheische Haltung verstanden wird. Elytis ist der gleiche geblieben; der, der die Hybris, die menschlich überhebliche Auflehnung wagt, der, der die Ordnung Gottes umstößt, der Mensch für den Menschen, der gleichwohl für diesen Menschen Göttliches erretten will, die „Dimension des Traums“, Und dies ist nur möglich, solange zumindest die Sehnsucht nach Göttlichem, der Wille nach Offenbarung in Sprache gefaßt werden kann. Maria Nepheli macht sich zweimal vergeblich auf die Reise, strebt zur heiligen Insel, wo Johannes die göttliche Offenbarung zuteil wurde. „Patmos“ erreicht sie nicht. Sie bleibt auf dem Wege dorthin auf Mykonos hängen, verloren in Alkohol und Zigarettenqualm, im vorgewärmten Bett eines Hotels („Patmos“). Mykonos, die Insel des Massentourismus, pax Santropezana auf griechisch, und Patmos, nahe gelegen, doch unerreichbar. – „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott“: Die ersten Verse eines der gleichnamigen Gedichte von Hölderlin klingen hier mit in diesem modernen kykladischen Bild, wo Heiliges und Profanes so nah an- und so fern voneinander gezeichnet werden. Elytis kennt diese Gedichte, er zitiert in „Mit offenen Karten“ auf deutsch die nächsten zwei Verse des „Patmos“-Gedichtes von Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch“, Unverkennbar ist hier der Bezug der erwähnten Grundstruktur elytischen Denkens. Ein noch widerstandsfähiger Kern europäischen Idealismus’.
Maria Nepheli ist ein modernes Gedicht im Sinne von Weltliteratur, von Lyrik, die den heutigen Menschen so gut wie überall erreichen und betreffen kann. Das, worum da in ewiger Zuversicht gewettet wird, ließe sich in einigen Wertbegriffen unseres konventionellen Moralismus ausdrücken – ob Freiheit des Menschen, ob Gerechtigkeit, ob Erneuerung. Möglich scheint es jedenfalls nur durch das Wort, denn es wird
„… in ein Laubwerk griechischer Worte gekleidet gefeit sein“ („Die Ewige Wette“).
Also unbesiegbarer Logos. Dichtung im Sinn von Kreativität. Thema ihrer selbst?
„In ein Laubwerk griechischer Worte gekleidet“ – fast ein Jahr nach dem Erscheinen von Maria Nepheli brachte Odysseas Elytis bei der Verleihung des Nobelpreises, wie er selbst sagte, einige griechische Worte mit nach Stockholm, die seit 3000 Jahren unverändert geblieben sind. Elytis sieht die griechische Sprache als Einheit, in der die unveränderbare und unvergängliche Idiosynkrasie Griechenlands lebt und sich darstellt. Den Dienst an dieser Sprache, um die Ungaretti ihn beneidete, versteht er nicht als eine günstige Folge seiner Herkunft, sondern als Verpflichtung gegenüber dem Geist, der mit und in dieser Sprache begonnen hat und in der Welt, in der wir leben, weiter ist. Unter diesem Aspekt ist die moderne, nicht in geographische Grenzen einzuzwängende Symbolik dieses Poems zu verstehen. „Mehr weiß ich nicht, und jeder kann fortfahren in seiner Weise. Wenn die Dichtung nicht in unserem Körper verwurzelt wäre und in der Welt, in der wir leben, wäre sie ein kurzlebig Ding; ein kurzlebig Ding, wenn sie hier aufhörte. Wir wissen nicht, wo Dichtung aufhört“, bekennt auch Giorgos Seferis.
Danae Coulmas, Nachwort
Diskussionsforum zu diesem Buch.
Danae Coulmas: „Mein Himmel ist tief und unaustauschbar“. Odysseas Elytis – der Schöpfer eines neuen griechischen Mythos, Merkur, Heft 401, November 1981
Asteris Kutulas erinnert sich an seine Besuche bei Odysseas Elytis
Manuel Gogos: Der Schaumgeborene
Neue Zürcher Zeitung, 5.11.2011
Hansgeorg Hermann: Kämpferische Unschuld
junge Welt, 2.11.2011
Odysseas Elytis: AXION ESTI in einer Version von Mikis Theodorakis im Lycabetus Theater in Athen im August 1977.
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