IM ANFANG das Licht Und die erste Stunde
aaaaaaaaaain der noch die Lippen im Urschlamm
aaaaaaaaaaschmecken die Dinge der Welt
aaaaaGrünes Blut und golden die Knollen im Erdreich
aaaaaWunderbar in seinem Schlaf breitete auch das
aaaaaMeer
aaaaaden frischen ätherischen Flor aus
aaaaaunter Johannisbrot und den hohen Dattelpalmen
aaaaaaaaaaDort lag ich allein
aaaaaaaaaader Welt gegenüber
aaaaaaaaaaund weinte
Meine Seele suchte Signal und Herold
aaaaaaaaaaDa sah ich, ich erinnere mich
aaaaaaaaaadie drei Dunklen Moiren
aaaaaihre Hände nach Osten erheben
aaaaaihren vergoldeten Rücken und den Nebel, der zurückblieb
aaaaalangsam sich lösen
aaaaaaaaaanach rechts Sah Pflanzen in Fülle
aaaaaDie Sonne war mit ihrer Achse in mir
aaaaavielstrahlig in ihrem Rufen Und
sie die Wahrheit, die ich war, vor vielen Jahrhunderten
mitten im Feuer noch frisch, ungeschieden vom Himmel
aaaaaaaaaaIch spürte, sie kam und bückte sich
aaaaaaaaaaüber meine Wiege
Gedächtnis wurde Gegenwart
sie führte die Stimme der Bäume, der Wogen:
aaaaaaaaaa„Dein Auftrag – sprach sie – diese Welt
aaaaaaaaaaund ist dir ins Herz geschrieben
aaaaaaaaaaErkenne sie, müh’ dich
aaaaaaaaaaund kämpfe“ sprach sie
„Jeder hat seine Waffen“ sprach sie
Und hob ihre Hände, wie sie öffnet
ein junger Gott, um Leid zu schaffen zugleich mit Freude.
aaaaaHeruntergezogen mit Gewalt
aaaaaund gelöst von den Zinnen fielen zuerst
aaaaadie SIEBEN BEILE
aaaaaaaaaawie beim Sturmwind auf der Marke Null
aaaaaaaaaawenn Wohlgeruch aufsteigt
aaaaaaaaaavom Ursprung wieder ein Vogel
gereinigt strömte das Blut zurück
die Wahrzeichen trugen menschliche Züge
aaaaaaaaaaSo verständlich das Unbegreifbare
aaaaaDann kamen die Winde zusammen aus meiner Familie
die Burschen, gorgonengleich, mit den geschwellten Backen
aaaaamit den grünen breiten Rockschwänzen
aaaaaaaaaaund andere – Greise, bekannte, uralte
aaaaaaaaaalederhäutige und bärtige
aaaaaUnd sie teilten die Wolke zweimal und viermal
aaaaawas zurückblieb, hauchten sie an, schickten es nordwärts
aaaaaBreit und stolz trat ins Meer der große TURM
Die Linie des Horizonts erglänzte
deutlich und dicht und undurchdringlich
aaaaaaaaaaDIES der erste Hymnos.
Bis etwa zur Mitte unseres Jahrhunderts blieb die junge neugriechische Literatur im Ausland weitgehend unbeachtet. Erst die Gedichte von Konstantin Kavaphis (1863–1933) und die Romane von Nikos Kasantzakis (1883–1957) verschafften ihr internationales Ansehen. Im Jahre 1963 erhielt überraschend der Lyriker Giorgos Seferis (geb. 1900) den Nobelpreis. In der englisch sprechenden Welt sah man in ihm den Hauptvertreter der modernen griechischen Dichtung. In Griechenland selbst war außer Seferis ein weiterer Lyriker als Anwärter für den Nobelpreis im Gespräch: Odysseas Elytis. Elytis hatte 1960 für sein Hauptwerk TO AXION ESTI den ersten Staatspreis für Lyrik erhalten. Er galt mit seinen Gedichtbänden Orientierungen (1940) und Sonne die erste (1943) bereits seit 1943, dem Todesjahr von Kostis Palamas, als einer der führenden Lyriker Griechenlands.
Elytis (Odysseas Alepoudelis) wurde 1911 auf Kreta geboren. Die wohlhabende Familie stammte von Lesbos, das der Dichter stets als seine eigentliche Geburtsinsel ansah. Er kam mit seinen Eltern bald nach der Befreiung Kretas von türkischer Herrschaft (1912) nach Athen. Dort besuchte er das Gymnasium und schrieb noch als Schüler (1928) seine ersten Gedichte. Im Jahre 1930 begann er mit dem Jurastudium, das er aber (ähnlich wie Palamas) abbrach, um sich ganz der Dichtung und Kunst widmen zu können. Die Sommerferien verbrachte er auf verschiedenen ägäischen Inseln. Ihre Atmosphäre ging in die Thematik und Bildersprache seiner Gedichte ein. Das Erlebnis des Lichts und die Erfahrung der Inselwelt hätten den Dichter aber nur wenig über die Schranken der konventionellen griechischen Stiltradition hinausgetragen, wenn er nicht auf die französischen Symbolisten und Surrealisten gestoßen wäre, mit deren Gedichten er sich eingehend beschäftigte. In einer autobiographischen Notiz bekennt Elytis, daß der französische Surrealismus es ihm ermöglicht habe, das eigene lyrische Temperament freizuspielen, alte lyrische Formen aufzulösen und neuartige Bildreihen und Wortschöpfungen zu wagen. Den Orientierungen ist ein Motto von Rimbaud vorangestellt, den Wasseruhren des Unbekannten (1937) ein Wort von André Breton. 1935 erschienen die ersten Gedichte von Elytis in der neu gegründeten Zeitschrift Nea Grammata (Neue Texte), um deren Herausgeber (A. Karantonis und G.K. Katsimbalis) sich mit Elytis und Seferis, mit Andreas Empirikos (geb. 1901) und Giorgos Sarantaris (1908–1941) ein avantgardistischer Lyrikerkreis bildete. Dieser Kreis wurde für die Entwicklung der griechischen Literatur epochemachend. Er führte die moderne und europäische Lyrik (den französischen Surrealismus, Pound, Eliot u.a.) in Griechenland ein und vermittelte der griechischen Lyrik neue Ausdrucksmöglichkeiten. Elytis übertrug im Laufe der Jahre mehrere moderne Lyriker in Auswahl, so Rimbaud, Lautréamont (1940), Eluard (1936), P.J. Jouve (1939), Ungaretti, Lorca und Majakowski. Am stärksten wurde er von Paul Eluard (1895–1952), dem Mitbegründer der surrealistischen Bewegung, beeinflußt, von Eluards Liebesmetaphysik, von seiner geschmeidigen und klangvollen, allen Empfindungen und Erfahrungen offenen Sprache.
Die Zeit von 1935 bis 1945 nennt Elytis in seinen (noch nicht veröffentlichten) Essays die „heroische Periode“ der jungen Dichtung. Dieses Jahrzehnt zeichnete sich nicht nur durch die Intensität und Dynamik der neuen Ideen aus, die die junge Lyrikergeneration in ihren Bann schlugen, sondern auch durch die Art, wie die Realität ihr Recht forderte: durch den Krieg. 1937 besuchte Elytis die Militärschule in Kerkyra. Im albanischen Feldzug 1940 erkrankte er als Unterleutnant an Typhus und wurde nur durch das beherzte Eingreifen einer Krankenschwester vor dem sicheren Tod bewahrt. In Albanien lernte er das „Wunder“ des griechischen Freiheitswillens kennen: „In den Gesichtern meiner Soldaten sah ich das Leuchten, zu dem das Griechentum immer fähig ist, wenn es an sein Recht glaubt.“ So wurde der albanische Feldzug zur doppelten Grenzerfahrung für den Dichter. Sie spiegelt sich in dem zuerst von Studenten vervielfältigten „Helden- und Klagegesang auf den verlorenen Leutnant in Albanien“ (erschienen 1945) und in der wenig bekannten „Albaniade“ (Gedicht für zwei Stimmen, 1946 und 1950). Auch die ersten beiden Lesungen des AXION ESTI zeugen von dieser Grenzerfahrung.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Elytis – durch seine schon genannten Dichtungen als Lyriker und auch als Résistance-Dichter anerkannt – Programmdirektor des Athener Rundfunks (1945/46). Noch vor Ende des blutigen Bürgerkriegs zwischen Monarchisten und Kommunisten (1946-1949) ging er 1948 nach Paris, hörte an der Sorbonne philologische Vorlesungen und wurde mit mehreren französischen Dichtern und Malern bekannt. Nach vier Jahren kehrte er in die Heimat zurück (1952), da ihn der literarische Nachkriegsbetrieb in Paris nicht mehr befriedigte. Er machte (wie Giorgos Seferis) die Erfahrung, daß er die heimatlich griechische Umgebung brauchte, um schreiben zu können. Diese Erfahrung bestätigte oder verstärkte sich bei den anderen größeren Auslandsreisen nach London sowie – offiziell von den Regierungen eingeladen – nach Amerika (1961) und Rußland (Winter 1962/63) und später nach Bulgarien (1965) und Ägypten (1967). Nach seiner Rückkehr aus Paris übernahm Elytis 1953/54 erneut das Amt des Programmdirektors der staatlichen Rundfunkgesellschaft, 1955 bis 1958 war er als Präsident des griechischen Chorspiels tätig, 1963 wurde er Mitglied des Aufsichtsrats des Königlichen Theaters. 1960 erhielt er den Staatspreis für Lyrik, 1965 den Phönixorden. Heute lebt Elytis in Athen ziemlich zurückgezogen.
Als 1959 das AXION ESTI erschien (1948 begonnen, 1958 vollendet), wurde es von der gebildeten Welt Griechenlands sogleich als Hauptwerk des Dichters anerkannt. Das Werk hat auch neun Jahre nach der Auszeichnung von 1960 nichts von seiner literarischen Bedeutung eingebüßt. Die Vertonung längerer Partien durch den bekannten Komponisten Mikis Theodorakis (1964) hat das AXION ESTI breiten Volksschichten nahegebracht. Es ist ein Werk, das in hohem Stil die neugriechische Tradition mit der antiken und christlich-byzantinischen vereint. Das lyrische Ich spricht als Herold einer neuen Welt, in der es sich nach den Schrecken des Kriegs und den Barbareien des Friedens wieder zu leben lohnt. Diese neue Welt ist eine „Welt in der Zeit“, aber zugleich eine „Welt jenseits der Zeit“.
Vielfältig sind die Impulse, die das AXION ESTI bestimmen: das Alte Testament; Homer, Sappho, Platon, Plotin; die liturgische Literatur des byzantinischen Mittelalters (besonders der Hymnendichter Romanos); die neugriechische Dichtung (Solomos, Kalvos u.a.) und nicht zuletzt das „magische Spiel“ des Surrealismus. In unzähligen Wortzusammensetzungen, Ausdrücken und Bildern prägt Elytis in seinem Sinne um, was in der Sprache der orthodoxen Liturgie, was bei Homer, was in der neugriechischen Volkssprache oder in der Sprache der Surrealisten schon geformt war. Außerdem werden Wortzusammensetzungen oder Wortableitungen neu gebildet; Umrißskizzen und schwebende Bilder stellen sich ein, die nicht für sich allein gewertet werden wollen, sondern durch ihre frische Direktheit, ihre Klang- und Ausdruckswirkung das Zu-Sagende so enthüllen, wie etwa ein orthodoxer liturgischerText im würdigen „schönen Bezeichnen“ das Wesen göttlichen Lebens enthüllt. Der Dichter äußert sich selbst folgendermaßen über seine Lyrik:
Ich betrachte die Lyrik als eine Quelle kämpferischer UNSCHULD, die ich in meinem Bewußtsein gegen eine schuldige Welt richte, um diese unter ständigen Verwandlungen so umzuformen, daß sie mit meinen Träumen in Einklang steht. Es geht um eine moderne Art von Magie, deren magischer Mechanismus auf die Offenbarmachung unserer wahren Wirklichkeit zielt. Ich glaube – bis zur Form der Idealisierung – an die Sinne und versuche, sie in einer bis heute unerforschten Richtung zu entwickeln. Ich hoffe, daß ich so eine Freiheit, die allen Regierungen entgegengesetzt ist, und eine Gerechtigkeit, die mit dem absoluten Licht identisch ist, am Leben erhalte.
Dieses Bekenntnis, mit dem Elytis die Grundlagen seiner Lyrik deutet, enthält auch die beiden Hauptgedanken des AXION ESTI: die Idee des „reinen Menschen kämpferischer Unschuld“ und die Idee von der Verwandlung der Welt durch das Wort, die Liebe und die Träume dieses „reinen Menschen“. Eine solche Verwandlung bedeutet nicht eine radikale Strukturänderung der Welt, sondern ein Offenbarmachen der wahren irdischen und metaphysischen Bezüge. Dem Zauber des Worts, dem „magischen Mechanismus“, der die Sinne mit sich fortzieht ins Außerordentliche, ja Ekstatische, soll diese Enthüllung gelingen. Zutage tritt, daß „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“, diese höchsten Ideen des Menschen, im Absoluten wurzeln. Sie sind „mit dem absoluten Licht identisch“, wie Elytis sagt; sie sind Ausgangspunkt, Antriebskräfte und Ziel der menschlichen Entwicklung. Das AXION ESTI zeigt den Weg des „reinen Menschen“ auf der Spur dieser absoluten Freiheit und Gerechtigkeit. Das magische Wort des Dichters bemüht sich, den metaphysischen Charakter beider Ideen in bestimmten Bildern und Metaphern auszudrücken, die wohl der Welt der Bibel, der liturgischen Texte, der antiken oder modernen Dichtung nahestehen, die aber doch vor allem an der Gegenwärtigkeit griechischen Seins orientiert bleiben: an der bezwingenden Lichtfülle, die kein langes Zweifeln und Grübeln duldet, an der faszinierenden Urtümlichkeit von Gebirge und Meer, die keine verschnörkelten, komplizierten Bilder zuläßt, an der Einfachheit griechischer Lebensformen und der geographisch und historisch reichen und dennoch überschaubaren Gliederung der griechischen Landschaft, in der der Mensch dem Impuls zur Regeneration und zum Beginn eines einfachen „wahren Lebens“ besonders rein empfängt, so daß sich das magische Wort in richtiger Umgebung und zur rechten Zeit mit Andeutungen und Hinweisen begnügen kann.
Die tragende Idee, das Zentrum des Werks ist schon mit dem Titel TO AXION ESTI ausgedrückt. Das Wort AXION ist zunächst das erste Wort der Praefatio in der orthodoxen Meßliturgie (der Anfang entspricht dem lateinischen „Vere dignum est“); sodann beginnt mit der Formel AXION ESTI das Preislied zu Ehren der Gottesmutter, das in allen kirchlichen Gesängen zum Lob der Theotokos (z.B. in dem berühmten „Akathistos Hymnos“) enthalten ist. Die wörtliche Übersetzung des Preislieds lautet: „Es ist wahrhaftig würdig (Axion estin), dich in deiner Seligkeit zu preisen, Gottesgebärerin, die Ewig-Selige und Ganz-Untadelige und Mutter unseres Gottes. Ehrwürdiger als die Cherubim und unvergleichlich herrlicher als die Seraphim, die GOTT das WORT unversehrt gebar, in Tat und Wahrheit die Gottesgebärerin, dich erheben wir.“ Nach der Legende lehrte einst der Erzengel Gabriel während der Nacht einem schlecht singenden Kantor und Marienverehrer aus dem Athos-Kloster Pantokrator Text und Melodie dieses Lieds. Dies sei geschehen vor einer Marien-Ikone, die dann den Namen AXION ESTI erhalten habe. Die Ikone AXION ESTI wird als Gnadenbild an jedem Ostermontag in einer Prozession mitgeführt, die viele Gläubige nach Karyä, in die Hauptstadt der Mönchsrepublik Athos, und in die Protaton-Kirche lockt, wo sich die Gnadenikone befindet. Die Tatsache, daß sie 1963 anläßlich der Tausendjahrfeier der Athosklöster zur Verehrung nach Athen gebracht wurde, macht deutlich, daß die Ikone AXION ESTI in besonderer Weise eine „nationale“ Ikone ist, die in dem Glauben verehrt wird, daß Griechenland unter dem Schutz der Panagia, der Gottesmutter, steht. Der Titel AXION ESTI hat als tragende Idee der Dichtung zunächst also den Sinn, dem Leser zu sagen, daß er es mit einem religiösen Werk zu tun hat, das rühmen und preisen will. Nicht nur die Theotokos wird gepriesen, die ganze Schöpfung, die „Physis“, der „Kosmos“, wird gerühmt. Damit ist die Dichtung formal auf lyrische Formen eingeschränkt, die auch im religiösen Raum ein solches „Rühmen“ erlauben: auf Gesänge und Lieder hohen Stils, auf liturgische Formen. Es sind dies in der GENESIS sieben „biblische“ Gesänge, in der PASSION Psalmen, Oden (Preislieder) und Lesungen, im Schlußteil Hymnen. Das lyrische Wort ist in allen drei Teilen der Dichtung in rezitierbaren oder singbaren „liturgischen“ Text verwandelt, was der Leser beim bloßen Lesen nicht vergessen sollte. Weiterhin gibt der Titel AXION ESTI, indem er an einzelne Züge der Legende, besonders aber an die Gottesmutter in ihrer Tätigkeit als Schutzpatronin Griechenlands und aller Nationen erinnert, Hinweise auf die drei durchgehenden Linien des Werks: die individuelle, die nationale, die allgemein menschliche. Das AXION ESTI zeichnet die individuelle Entwicklung des Dichter-Kantors von seiner Geburt bis zu einer visionären Zukunft, es zeigt den Schicksalsweg des griechischen Volkes von der Befreiung Kretas (1912) bis zu einer visionären Aufhebung von Gesetzes- und Nationenschranken, und es entwirft paradigmatisch den Werdegang des im Spannungsfeld von GUT und BÖSE sich fest behauptenden Menschen, der zusammen mit der individuellen Gestalt des Dichters die oben schon genannte Idee des „reinen Menschen“ verkörpert. Diese drei Linien führen unter dem eschatologischen Aspekt der zweiten Grundidee von der Verwandlung der Welt zum Bild einer sich entwickelnden Welt-Erneuerung. Das rühmende Bekennen geht im dritten Teil des Werks, nachdem es das epische Element abgeworfen hat, in ein direktes hymnisches Preisen über.
Das Bild dieser ersehnten Erneuerung der Welt ist bereits in den ersten Gedichten von Elytis (abgedruckt in den Orientierungen) zu erkennen, zum Teil schon an den Titeln, z.B. „Klima der Entrückung“ (1935), „Zweite Natur“ und „Fenster zur fünften Jahreszeit“. In den „Liedern der Ägäis“ wird die Renovatio als Wirkung eines Eros, der alles Lebendige erfaßt, angesprochen. In den „Fenstern zur fünften Jahreszeit“ bilden Liebe, reines Fühlen, Licht und Traum eine enge Einheit; die Kraft einer „Begierde, auf deren Händen die Entrückung brennt“, wird wirksam: „Wie schön sie ist! Sie hat die Gestalt des Gedankens angenommen, der sie fühlt, wenn er empfindet, daß er ihr gewidmet ist“; oder: „Im Dienst der schwierigsten Träume ein stetiges Sich-Erneuern!“. Im siebenteiligen Gedicht „Orion“ heißt es am Schluß:
Als sei das irdische Lärmen vergangen
Als sei die Bosheit des Gedächtnisses zu Ende
Rein pocht
Unser neuer Traum
Eine unsichtbare Hand zieht uns fort
Wo makelloser Himmel zur STILLE wird
Wo sich die Seele erweist als nie wandelbar.
Alle diese Gedichte sind in jener Zeit entstanden, in der sich Elytis dem französischen Surrealismus zugewandt und als ersten Lyriker Paul Eluard übersetzt hat (1936). Bei Eluard fand Elytis, wie oben schon angedeutet, eine undogmatische, poetische Religion der Liebe. „Die Liebe ist der unvollendete Mensch“, sagt Eluard 1932 im Zyklus „La vie immediate“ (Zitate nach der Eluard-Ausgabe Ausgewählte Gedichte, 1963, Luchterhand-Verlag). Durch das Feuer der Liebe wird der Mensch vollendet, erneuert, verklärt. Das Unveränderliche in den verschiedenen Zuständen der Liebe ist ihre Reinheit. Eluards Gestalt des „rein liebenden“ Menschen, der neuen anima candida, kehrt in Elytis’ Idee des „reinen Menschen“ wieder. Diese Reinheit der Liebe ist für Eluard wie für Elytis „eins mit der Reinheit der Sprache… Die Verklärung (durch die Liebe) gibt dem surrealistischen Blütenkranz der Bilder die klare Einfachheit und Reinheit“ (Georges-Emmanuel Clancier über Eluard). Liebe und Dichtung sind identisch: L’amour la poésie (Titel eines Gedichtbandes, 1929). Beide wollen aber nicht auf das Ich beschränkt bleiben, sondern sind bestrebt, in die Welt zu wirken, Leben zu verändern. Sprechen Eluard und Elytis auch immer von neuem in der ersten Person Singular, so gilt doch auch für sie Clanciers Apologie: „Indem der Dichter im eigenen Namen spricht und seine Einsichten kündet, spricht er im Namen aller und für alle“. Eluards Liebes-Dichtung „ruft nach dem Glück für alle“. Elytis’ zweite Grundidee von der Verwandlung der Welt schließt sich hier eng an: Auch im AXION ESTI wird ein neues Glück, eine neue Unschuld, eine durch die Liebe verklärte Welt gefordert und prophezeit – ganz im Sinne des „Cours naturel“ („Natürlicher Lauf“, 1938), den Eluard in folgenden Versen festhält:
Die Erde wird wieder gestaltet sein wie unsre lebendigen Leiber
Der Wind wird uns bestehn
Sonne und Nacht werden hinziehn in unseren Augen
Ohne sie je zu verändern
Groß genug unser sicherer Raum unsre reine Luft
Den Verzug zu begleichen den die Gewohnheit höhlte
Wir werden alle ein neues Gedächtnis erreichen
Gemeinsam eine fühlende Sprache sprechen.
…………
O meine verlorenen Brüder
Ich gehe dem Leben entgegen ich habe Menschengestalt
Zu beweisen daß die Welt nach meinem Maße gemacht ist
Diese Worte entsprechen Zeile um Zeile der oben zitierten programmatischen Äußerung Elytis’ über die Aufgabe des Dichters sowie vergleichbaren Texten seiner Lyrik seit ihren Anfängen (1935), besonders aber dem AXION ESTI. Eluards lyrische Vision von der Neugestaltung und Wieder-Belebung der Erde, von einem neuen Gedächtnis, von einer neuen fühlenden Sprache unter liebenden Menschen sind in Elytis’ „prophetisches“ hymnisches Sprechen eingegangen. Offenbar wird – mit Elytis’ Worten – „unsere wahre Wirklichkeit“:
Sein wird die Welt X oder wird nicht sein
aaaaaaaGEBURT X VERKLÄRUNG EWIGE DAUER
Die ich verkündet X nach meiner seele
aaaaGerechtigkeit X der Allergerechteste
(Ode XI)
Das neue Gedächtnis ist ohne Bosheit:
Aus Hyazinthen Narzissen X schmied ich das neue
aaSchwert, das von nun an X ziert seine Helden
(Ode XII)
In der „Prophetie“ (sechste Lesung) heißt es: „Von neuem wird er“ (der Dichter, der „Menschengestalt“ hat, der „dem Leben entgegengeht“, der „beweist“, daß „die Welt nach seinem Maße gemacht ist“) – „von neuem wird er die FRAU verehren… so, wie es bestimmt ist.“ Denn – um wiederum Worte Eluards zu gebrauchen: „Es mußte so sein, daß ein Antlitz Antwort gibt auf alle Namen der Welt“ (L’amour la poésie, 1929). „Und die TRÄUME werden ihr Recht erlangen und Geschlechter erschaffen in Ewigkeit!“ (Schluß der Prophetie).
Wie sehr die Komposition des AXION ESTI – der gesamten Dichtung, aber auch der Einzelstücke – bis in letzte Feinheiten hinein durchdacht ist, wird dem Leser bei aufmerksamer Lektüre nicht entgehen. Dreierzahlen bestimmen die Hauptgruppierungen des Werks: drei Hauptteile; im zweiten Teil sechs Lesungen, zwölf Oden, achtzehn Psalmen; im dritten Teil von den zehn Hymnen zwei Dreiereinheiten (Hymnen 1–3, 8–10). Die Dreiteilung des Gesamtwerks versinnbildlicht den „Dreischritt“ der Schöpfungsgeschichte: Reinheit der Schöpfung am Anfang, dann Epoche des Abfalls, der Gottferne (Zeit der „Sünde“, der Passion) und schließlich die Rückkehr zur Reinheit in der Form der Verklärung. Daß der erste Hauptteil, die GENESIS, sieben Stücke umfaßt, die nicht numeriert, aber als liturgische Texte mit Großbuchstaben in den Anfangswörtern gekennzeichnet sind, hat seinen Grund in der biblischen Siebenzahl: Die sieben Teile sind eine Parallele zu den sieben Schöpfungstagen. Freilich konnten Reihenfolge und Geschehnisse in der Genesis des Alten Testaments (1. Buch Mose) für die Geschehnisse in der Genesis des Dichters (seiner Kindheit und Jugend) nur einen unauffälligen Rahmen abgeben. Die Beziehung zur Bibel ist im ersten und letzten Gesang der GENESIS am deutlichsten. Die Geburt eines Menschen, des Dichters, ist wie eine zweite Erschaffung der Welt:
Im Anfang das Licht
Und die erste Stunde
in der noch die Lippen im Urschlamm
schmecken die Dinge der Welt…
Meine Seele suchte Signal und Herold…
Die Sonne war mit ihrer Achse in mir…
sie kam und bückte sich
über meine Wiege.
Hier wird der Anfang der biblischen Genesis und des Johannesevangeliums zu einer Mythisierung benutzt, die über die übliche Art metaphorischer Personifizierung weit hinausgeht. Der alttestamentliche Gott und der Logos-Gott des Johannes erscheint als ein griechischer Licht- und Sonnengott, der immer wieder – als Sonne der Idee des Guten – auch platonische Züge trägt. Im siebten GENESIS-Gesang wird dann von der Uhr des Paradiesesgartens gesprochen, auf der „die Stunden sich drehten wie Tage“, und selbst die Monate drehen sich mit („Dienstag Mittwoch Donnerstag / Juni Juli August“). Die biblische Siebenzahl der Schöpfungstage umschließt auch den Sonnenlauf eines einzigen Tages in seinen wesentlichen Zeitabschnitten. Die Genesis der Dichter-Psyche dauert vom Tagesanbruch bis zum Mittag, dann fällt die Nacht ein, auf die wieder – „hinter den Kasernen krähte / der erste Hahn“, wie es am Ende des siebten Gesangs heißt – ein neuer Tagesanbruch folgt. Außerdem sind in der Siebenerordnung der Schöpfungstage auch die Etappen des Sonnenjahrs mit seinen zwölf Monaten und die Etappen der neunmonatigen inneren Reifezeit des Dichters („Im sechsten Monat trug ich die Liebe“) eingeschlossen. Am Ende der GENESIS wird der Dichter, der neue Adam, allerdings nicht vom Engel aus dem Paradies vertrieben. Vielmehr werden hier in einem Augenblick höchster Entrückung vor dem Eintritt in den Bereich des Bösen die Säulen der Akropolis als Weltsäulen sichtbar („die Aufrechten Säulen“), werden der kosmische Tierkreis („die Metope der TIERE“) und die Heiligen „im Glanz der Weisheit“ erkennbar. Der Dichter tritt in den Schutz der Sonne, die in der Wesenheit eines Engels (nicht mehr „ungeschieden vom Himmel“) zu seiner Rechten Gestalt annimmt. Der Lichtträger und „Sonnenschlürfer“ ist für den Kampf mit den versammelten „Entschlossenen“ gerüstet (Psalm I). Er vertritt wenn wir hier auch die „nationale Linie“ berücksichtigen – das griechische Volk, das sich in sich selber behaupten und gegen eine feindliche Umwelt zur Wehr setzen muß. Diese „nationale Linie“ setzte bereits im ersten GENESIS-Gesang kraftvoll mit den Worten ein: „Heruntergezogen mit Gewalt / und gelöst von den Zinnen fielen zuerst / die SIEBEN BEILE“; und dann: „Gereinigt kehrte das Blut zurück“. Im Sturz der sieben Beile – sie waren das Emblem einer türkischen Besatzungseinheit im gleichnamigen Stadtviertel Heraklions, der Geburtsstadt des Dichters – ist exakt der Moment der Befreiung Kretas festgehalten, der historische Augenblick, in dem das tyrannisierte Kreta, von seinen Fesseln gelöst, wieder zu eigener Kraft kam – ein ganz Griechenland mitreißender Vorgang.
Im zweiten Hauptteil des AXION ESTI, der PASSION, rücken die Leiden des Menschen, des Dichters und des griechischen Volkes nach dem Eintritt in die Geschichte in den Vordergrund. Elytis stellt drei liturgische Formen in eine fortlaufende Reihe: die freirhythmischen „Psalmen“ (Vorbild: die Psalmen Davids), die formal gebundeneren, im lyrischen Ton höheren „Oden“ (Gesänge), für die sowohl Formen und Bilder des byzantinischen Kirchenlieds als auch des neugriechischen Volkslieds und der Odendichtung des Andreas Kalvos (1792-1869) verwendet sind, sowie die sogenannten „Lesungen“, die den liturgischen Lesungen (lectiones) aus dem Alten und Neuen Testament entsprechen. Der Stil der Lesungen führt den Legendenstil weiter, den Dionysios Solomos, der Begründer der neugriechischen Dichtung (1798-1857), in seinem Prosafragment „Die Frau von Zakynthos“ und der Memoirenautor Joannis Makryjannis (1797-1864) in seiner Darstellung der Epanastasis (Revolution von 1821) geschaffen haben. Die Dreierzahl spielt nicht nur, wie schon erwähnt, in der Gesamtzahl der 18 Psalmen, 12 Oden und 6 Lesungen eine Rolle; sie erscheint auch als unterste Kompositionseinheit: Eine Lesung wird jeweils von zwei Oden umrahmt, und jeder Ode sind entweder zwei Psalmen voran- oder nachgestellt. Nach diesem Schema ist dann eine Zwölfereinheit aufgebaut (6 Psalmen, 4 Oden, 2 Lesungen), die sich dreimal wiederholt. Das Thema jeder Zwölfergruppe wird in zwei Lesungen unter dem nationalen Aspekt entwickelt und von den dazugehörigen Psalmen und Oden unter dem individuellen und allgemein menschlichen Aspekt vorbereitet bzw. motivisch weitergeführt.
Im ersten Teil der PASSION, der ersten Zwölfereinheit, schildern die beiden LESUNGEN, ohne die Schrecken des Kriegs direkt vorzuführen, die Leiden und Strapazen im albanischen Feldzug 1940/41, der eine vom Schicksal verhängte Bewährungsprobe für den Einzelnen wie für das Volk war. Die zweite Lesung „Der Nachschub“ ist dem Kampf gewidmet, den der Mensch im Krieg mit sich selbst gegen Angst und Zweifel führen muß, um sich „seinen Platz an der Sonne zu verdienen“. Das Thema des zweiten Teils der PASSION (diese Zwölfereinheit reicht bis zum 12. Psalm) ist die Unterdrückung Griechenlands während der Katochi (Besatzungszeit 1941/1944). Die dritte Lesung schildert die Zerschlagung einer Demonstration in Athen am 25. März 1942 durch die anonym bleibende Besatzungsmacht. Diesen Tag hatten die meist jugendlichen Demonstranten in Erinnerung an den 25. März 1821, den Beginn des großen Freiheitskampfes gegen die Türken, gewählt. In der vierten Lesung wird die barbarische Willkür der deutschen SS bloßgestellt, die bei einer Vergeltungsmaßnahme ein Dorf umstellt, die Männer zusammentreibt und auf die Zeichen eines maskierten Denunzianten hin („ER… MIT DEM ERLOSCHENEN GESICHT“) viele mißhandelt und schließlich tötet. Lefteris, die Hauptgestalt der zweiten und vierten Lesung (der Name bedeutet etwa „Sohn der Freiheit“), zeigt durch sein mutiges Verhalten bis zum Tod, welcher Glaube an eine bessere freie Welt im griechischen Volk wohnt, obwohl das Land in dieser harten Zeit genau wie der „verbannte“ Dichter (und wie Christus im Garten Gethsemane) von allen „Freunden“ verlassen ist. Das nationale Thema findet seine Fortsetzung im dritten Teil der PASSION (Zwölfereinheit bis zum 18. Psalm). Es geht in der gleichnishaften Rede der fünften und in der prophetischen Rede der sechsten Lesung um das historische Ringen für ein besseres Griechenland, das schließlich visionär Gegenwart wird. Die schlimmste Prüfung für die Einheit des Volkes in dieser „Endzeit“ war der im Gleichnis des Schafstalls (5. Lesung) geschilderte Bürgerkrieg zwischen Monarchisten und Kommunisten, der 33 Tage (Dez. 1944/Jan. 1945) bzw. 33 Monate lang tobte (1946 – 1949). Er war – wie es das Gleichnis nahelegt – durch die trügerischen Worte der Großmächte veranlaßt. In der sechsten Lesung bekennt der Dichter, daß sich das 20. Jahrhundert von der Natur und der ursprünglichen Reinheit der Schöpfung am weitesten entfernt hat: Schließlich werden alle Dinge nur noch „herrliche Ruinen“ sein. Zugleich sieht er den Augenblick, in dem er aus seiner inneren Emigration zurückkehren kann, um zwischen diesen herrlichen Ruinen zu wohnen. „Ich sehe die Gendarmen ihr Blut hingeben zum Opfer für die Reinheit des Himmels“. Im Geiste dieser „Reinheit des Himmels“, der der Dichter – „REIN bin ich von Grenze zu Grenze“ – stets treu blieb, wird das neue Hellas, die neue Welt begründet.
Der dritte Teil des AXION ESTI ist ein einziger Lobpreis der „reinen“ Schöpfung. An den zehn Hymnen wird klar, wie sehr die belebte und unbelebte Natur, wie sehr auch bestimmte (jungfräuliche) Menschen die Natur der Reinheit in einer Weise verkörpern, daß sich in ihnen schon jetzt die Verklärung der Welt ankündigt. Dieser Lobpreis, dem Elytis statt des gedruckten Titels „TO AXIONESTI“ den neuen Titel „Doxastikon“, d.h. „Lobgesang“, zu geben beabsichtigt, umfaßt wie die PASSION wiederum drei Teile. In der ersten Dreiergruppe werden die Winde und die Inseln gepriesen, der längere dritte Hymnus schließt mit einer Vergöttlichung der Gestalt der Jungfrau (Parthenos). Die Vierergruppe enthält den Lobgesang auf die Blumen, die Mädchen, die Schiffe; sie schließt im längeren siebten Hymnus mit der Erhebung des Dichters. Die folgende Dreiergruppe rühmt die Berge und die Bäume und steigert sich im letzten Hymnus zu einer großartigen Bildmetaphysik, in der die Ewigkeit der Schöpfung aufleuchtet: „Jetzt der dichte Insektenschwarm, der sich brodelnd ergießt / Ewig der Mysterien Licht, das die Welt überfließt“. Die biblische Siebenzahl der GENESIS kehrt wieder in der Siebenzahl der gleichlangen Hymnen (1, 2; 4, 5, 6; 8, 9), in denen sieben „Dinge“ gepriesen werden, die – nach dem Gefühl des Griechen – die Grundstruktur der Schöpfung am reinsten in sich tragen. In den drei längeren Hymnen, deren jede auffällig in sieben Zweizeilern gipfelt, findet die nationale (im dritten), die individuelle (im siebten) und die allgemein menschliche Linie (im zehnten) ihr Ende. Im dritten Hymnus singen die Priester und Vögel (die ganze Natur) das neue Ave zu Ehren der Panagia, der Beschützerin Griechenlands, und zu Ehren der „kleinen Jungfrau“ Hellas. Beide Gestalten gehen auf im Bild der neuen Frau, die durch die Kette der Namen und Bestimmungen, die ihr beigelegt werden, zum Inbegriff alles wesenhaft Weiblichen in der Schöpfung wird. Die Form dieser parallel rhythmisierten, in Assonanz oder Reim endenden und syntaktisch gleich gebauten Verspaare stammt von den Ave-Gesängen der orthodoxen Liturgie, vor allem aus der Liturgie des „Akathistos Hymnos“ (Elytis verwendet lediglich – entsprechend der „Schöpfungszahl“ – sieben statt sechs Verspaare). Im siebten Hymnus, der die Wesensbestimmung des Poeta bringt, gibt es im ersten Zweizeiler Aussagen über den Dichter, die man zunächst als übertriebenes Pathos oder als Anmaßung empfinden könnte: „Denn er ist der Tod und er ist das Leben / Er ist die Zukunft und er das Gesetz“. In diesen abstrakten Definitionen erreicht die individuelle Linie des Dichters ihren Kulminationspunkt. Ihre eigentliche Bedeutung offenbart sich durch die Bilder der folgenden sechs Verspaare. In höchst kunstvoller Weise gelingt es darin Elytis, im bildhaften Paradoxon das „Wesen“ des Dichters einzufangen: Der Dichter ist der echte Nachkomme des Ion, des typischen Joniers, der das Maß der Dinge sieht und an der Küste Kleinasiens zum Philosophen wird; er ist aber auch der wundergläubige Pygmalion, der sich in eine weibliche Statue verliebt, die von Aphrodite zum Leben erweckt wurde; er ist ferner die Vereinigung der verführerischen, Not und Tod bringenden Schlange mit der Leben und Segen spendenden Ähre; er ist schließlich „die lockende Tollheit“ und zugleich „aller Lichtregen klarste Frühlingsreinheit“. Erst ein Bewußtsein, in dem sich alle paradoxen Aussagen und Bilder ineinanderfügen, so daß sie eine einzige dynamische Wirklichkeit hervorbringen, wird diesem Hymnus gerecht. Die Ave-Verspaare der drei Langhymnen stehen an der Grenze des Sagbaren. Sie sind wie die liturgischen Ave-Gesänge Texte der mystischen Feier oder der Meditation. Am meisten gilt dies für den letzten Hymnus des AXION ESTI. Das „Jetzt der Welt“ ist auf die Ewigkeit ausgerichtet. Der Schleier hebt sich, das zweite Antlitz des „Mörders“, sein Gesicht als Geschöpf wird sichtbar (Kompositionsendpunkt der „allgemein menschlichen Linie“). Der Mensch findet in der „scharfen Bewußtseinshelle“ innerhalb der erneuerten Natur der Welt „Speise“ für seine Seele: jene Freiheit und Gerechtigkeit des Seins, auf deren Spur er von Geburt an war.
Es muß der wissenschaftlichen Forschung vorbehalten bleiben, genaue Einzelinterpretationen vorzulegen und in ihnen die vielfältigen Beziehungen, Einflüsse, Assoziationen zu klären, die mit jeder Verszeile, jedem Bild, jeder Anspielung im Text gegeben sind.
(…)
Bei der vorliegenden Übersetzung hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, die Stilhöhe des Hymnischen in den verschiedenen Einzelformen des AXION ESTI zu treffen, aber auch den frischen Schwung und die quirlige Lebendigkeit des Originals zu erhalten. Gelegentlich mußte ich, um den Versfluß nicht zu unterbrechen, auf eine philologisch exakte Übersetzung verzichten. Das AXION ESTI ist schon wegen der Vielschichtigkeit seiner Sprache schwer übersetzbar. Es besteht – wie bei den Gedichten von Paul Eluard – die Gefahr, daß eine nicht recht eingestimmte Übersetzung die „magische Atmosphäre“ des Worts zerstört oder in hohl klingende Banalität auflöst. Es ist zudem aus den verschiedensten Gründen unmöglich, das Zusammenspiel der drei Sprachfaktoren im AXION ESTI (des antik-homerischen, byzantinischen und neugriechischen) in sinnvoller Weise im Deutschen „nachzuahmen“. Am leichtesten lassen sich noch die neuen Wortzusammensetzungen übertragen, für die Elytis bei Homer und im Kirchengesang formale Vorbilder fand. Denn das Deutsche steht, was die Fähigkeit zu Wortkonstruktionen anbelangt, dem Griechischen in nichts nach.
Die Originalität des Dichters besteht vor allem in der schöpferischen Umprägung traditioneller Bilder sowie in der durchsichtigen Einfachheit neuartiger Metaphern. Die flimmernde Leichtigkeit der vielschichtigen Bilder, mag sich in ihr auch die Erfahrung des „magischen Surrealismus“ widerspiegeln, ist einem äußerst strengen Kompositionsplan unterworfen, von dem schon die Rede war (Elytis hat ihn z.B. für jede Hymne des dritten Teils mit Zahlen, Farben und geometrischen Figuren ausgearbeitet). Die den Aufbau und die Metaphorik beherrschende Grundidee der Dichtung, die Idee vom neuen „freien“ Menschen und der erneuerten Schöpfung, ist weder rein christlich-eschatologisch noch rein antik-platonisch oder gar neuplatonisch-plotinisch. Auch die modernen Einflüsse dürfen nicht überschätzt werden; gleichartige Ideen finden sich nicht nur bei Paul Eluard (lohnend wäre in diesem Zusammenhang für den deutschen Leser ein Vergleich des AXION ESTI mit der Ding-Mystik Rainer Maria Rilkes). Der Dichter des AXION ESTI ist in erster Linie als Grieche „mystisch“ am Erlebnis des griechischen Lichts orientiert, in das der Mensch aus dem Norden sich erst eingewöhnt, zu dem er sich, um einen Gedanken Karl Kerényis anzuführen, erst erziehen muß. Es ist ein „Licht von innen in flimmernder Helle“ (8. Hymnos). Es ist eine Helligkeit, die das Gegensätzliche aufzeigt, die es beläßt und im Belassen eint und aufhebt. Eine Helligkeit, die zunimmt und nicht verloren geht. Eine Helligkeit, die Einsicht verleiht in das, was wahrhaft ist: „Selig, wer die Geheimschrift des Makellosen entziffert“ (18. Psalm). Sie ergibt eine plötzliche Hellsichtigkeit, eine „hellsichtige Bewußtheit“, wie sie auf ihre Weise Sappho von Lesbos besaß (so Max Treu in seiner Sappho-Ausgabe, München, 1963). Von den antiken Dichtern ist Sappho die einzige, die von Elytis mit einem ganzen Vers direkt zitiert wird. Die „zehnte Muse“, die Begründerin der „subjektiven Lyrik“, ist auch der einzige antike Autor, den Elytis bisher übertragen hat (Übersetzung unveröffentlicht). Ihr Bewußtsein ist „strahlend wie Sommerfülle“ (2. Hymne), denn sie bekennt: „Ich aber liebe die Fülle: die Liebe zur Sonne hat auch mir dies schöne und leuchtende Los zuteil werden lassen“. Die „Liebe zur Sonne“ ist auch das Schicksal des „Sonnenschlürfers“ und „Sonnenanbeters“ Elytis. Sie ist das Lebensmark seiner Gedichte. Sie hat auch das AXION ESTI hervorgebracht. Denn dieses Werk vermittelt ein überraschend helles, beglückendes Sehen der Dinge, es vermittelt, wie es im Gedichtband SONNE DIE ERSTE (1943) heißt, einen „Blick zur Welt, die entsteht nach dem Maß des Herzens in der Schönheit des Ursprungs“.
Günter Dietz, Nachwort
– Odysseus Elytis und sein Hauptwerk To Axion esti. –
Mit seinen Gedichtbänden Orientierung (1940) und Sonne die erste (1947), gilt Odysseus Elytis, der dieses Jahr überraschend den Nobelpreis für Literatur zugesprochen erhielt, als einer der ersten Lyriker Griechenlands. Für sein Hauptwerk To Axion esti erhielt er 1969 den griechischen Staatspreis für Lyrik. Dieser dreiteilige, grosse Gedichtzyklus entstand zwischen 1948 und 1958. Längere Partien aus diesem umfangreichen Werk hat Mikis Theodorakis vertont und seinem breiten griechischen Publikum bekanntgemacht. Elytis, zunächst als Résistance-Dichter geschätzt, lebte 1948 bis 1952 in Paris, brauchte aber die griechische Umwelt, wie Georgio Seferis, der ebenfalls den Literatur-Nobelpreis erhielt, um weiter schreiben zu können. In seiner Heimat übernahm Elytis 1953/54 erneut das Amt eines Programmdirektors der staatlichen Rundfunkgesellschaft. 1955 bis 1958 war er Präsident des griechischen Chorspiels, 1963 wurde er Mitglied des Aufsichtsrates des königlichen Theaters. Als Uebersetzer führte er in der neugegründeten Zeitschrift Nea Grammata seit 1935 Rimbaud, Lautréamont, Eluard, P.J. Jouve, Ungaretti, Lorca und Majakowski in die griechische Literatur ein. 1979 schliesslich wurde ihm von der königlichen Schwedischen Akademie der Literaturnobelpreis zuerkannt.
Personalität
Im ersten Teil des Triptychons, der „Genesis“, gedenkt der Dichter seiner eigenen Geburt, die wie eine zweite Erschaffung der Welt empfunden wird. Die sieben liturgischen Gesänge beginnen mit den Versen:
Im Anfang das Licht
Und die erste Stunde
in der noch die Lippen im Urschlamm
schmecken die Dinge der Welt…
Zentral ist schon hier das Erlebnis des Lichts, das an den Anfang des Johannes-Evangeliums gemahnt. Der Logos und der alttestamentliche Schöpfergott ist zugleich ein griechischer Gott des Lichtes und der Sonne, auch ein Gott des platonischen Guten. Im siebenten Gesang, am Ende der „Genesis“, steift die kosmische Weisheit den Dichter vor die Konfrontation mit der Welt.
Elytis schrieb einmal:
Ich betrachte die Lyrik als eine Quelle kämpferischer Unschuld, die ich in meinem Bewusstsein gegen eine schuldige Welt richte, um diese unter ständigen Verwandlungen so umzuformen, dass sie mit meinen Träumen in Einklang steht. Es geht um eine Art von Magie, deren magischer Mechanismus auf die Offenbarmachung unserer wahren Wirklichkeit zielt. Ich glaube – bis zur Form der Idealisierung – an die Sinne und versuche, sie in einer bis heute unerforschten Richtung zu entwickeln. Ich hoffe, dass ich so eine Freiheit, die allen Regierungen entgegengesetzt ist, und eine Gerechtigkeit, die mit dem absoluten Licht identisch ist, am Leben erhalte.
In seinem Hauptwerk macht Elytis mit seiner kämpferischen Unschuld und seinem Ziel, durch sein Wort, seine Liebe und seine Träume diese Welt im metaphysischen Sinne zu verändern, zunächst als Grieche für sein eigenes Land Ernst.
Geschichtlichkeit
Im ersten Gesang der „Genesis“ sprach der Dichter vom Sturz der „Sieben Beile“, das bedeutet die Befreiung Kretas vom türkischen Joch, wie er sie in seiner Kindheit leibhaft erlebte. Der zweite Teil des Triptychons ist die „Passion“, eine Auseinandersetzung mit dem Schicksal Griechenlands während des Zweiten Weltkriegs. Die beiden ersten Lesungen, die an die alt- und neutestamentlichen Lesungen des Gottesdienstes und an die neugriechische Tradition des Legendenstils anknüpfen, schildern Stimmungsbilder aus dem albanischen Feldzug, in dem der Dichter fast auf den Tod erkrankte.
Nur wer mit der Finsternis in sich selber kämpft, verdient sich morgen einen Platz an der Sonne.
In den weiteren Lesungen ist von der Unterdrückung Griechenlands während der Besatzungszeit von 1941 bis 1944 die Rede. Die dritte Lesung gedenkt des 25. März 1942, als eine Gruppe von Jugendlichen in Athen zerschlagen wurde. In der vierten Lesung wird dargestellt, wie die SS ein Dorf aus Vergeltung umstellt, die Männer zusammentreibt und auf das Zeichen eines Denunzianten hin misshandelt und tötet. Lefteris, hier wie in der zweiten Lesung Hauptgestalt, bleibt mutig bis in den Tod, ein Opfer für Griechenland. Die fünfte Lesung berichtet im Gleichnis des Schafstalls vom Bürgerkrieg zwischen Monarchisten und Kommunisten. Die sechste Lesung bringt eine gewaltige Prophetie:
Lange Zeit nach der Sünde, die man in den Kirchen Tugend nannte und segnete…
Ein Blick fällt auf unsere Zeit:
Aber zuvor wird der schöne Narziss, der sich an den Strassenecken bewunderte, ein Philipp werden, ein Robert. Sie werden die Ringe verkehrt tragen, ihr Haar mit Nägeln kämmen, ihre Brust mit Totenköpfen schmücken, um die Weiber zu verführen…
Elytis sieht Sinnbilder der Reinheit nach den Schrecken der Zukunft:
Ich seh die Jünglinge und Mädchen bei der jährlichen Auslösung der Paare.
Ich seh im Aether hoch das Erechtheion der Vögel.
Dann kehrt die Stunde des Dichters wieder, der dann von neuem die Frau verehrt, wie die Träume es verlangen. Die Bosheit wird aus der neugewordenen Welt verschwunden sein. Elytis berührt sich in dieser Sicht sehr mit Paul Eluard.
Im siebenten Hymnus des dritten Teils seines Triptychons zeichnet der Autor das Bildnis des Dichters der Zukunft, in einer leidenschaftlichen Sprache surrealistischer Helligkeit und Ueberwachheit. Im dritten Hymnus preist er die Gottesmutter in einer mythischen Ekstatik. Vergangenheit und Zukunft kumulieren im Zeitlosen. So wie er die Gottesmutter, die Panagia, die Schutzherrin Griechenlands, in mythischer Rückwärtswendung „Prophetische Daedalin“ nennt, in kosmischem Vollzug als „Meerbewegerin und Sternhüterin“ bezeichnet, so ruft er sie in endzeitlicher Spannung als „Brennende, Nieverderbende“ an. Der Dichter ist für ihn „Ion der Wogenbetrachter, aller Wunder Pygmalion“, wobei Vergangenes aktualisiert wird in einer verwandelnden Gegenwart. Er ist Dunkel und Helle, wobei etwas Kosmisches zum Klingen kommt, das Leben und Tod der beseelten Kreatur gleicherweise mit einschliesst, und er nimmt apokalyptisch vorweg:
Er ist der Durst jenseits der Brunnen und Flüsse
Er ist der Kampf jenseits der Friedensschlüsse.
Doxologie
War der erste Teil einigermassen liturgisch und hymnisch, so wechselte der zweite Teil zwischen chronikalischer und legendenhafter Chronik und Oden, von denen der Schluss der elften wiedergegeben sei:
Sein wird die Welt X oder wird nicht sein
Geburt X Verklärung ewige Dauer
Die ich verkündet X nach meiner Seele
Gerechtigkeit X der Allergerechteste.
Das griechische X oder Chi ist dabei als eine Anrufung Christi zu verstehen, was wiederum zeigt, wie diese Gesänge eigentlich gottesdienstlicher Art sind. Und wenn wir weiter lesen: „In fernes Land, weit und ohne Fehl, zieh ich hinab“ – so erinnert das fast wortwörtlich an ein Abendgebet der orthodoxen Kirche, so wie es auch der Anfang der sechsten Ode tut:
Unvorstellbare Sonne der Gerechtigkeit X
und du, würdiger Myrtenzweig
niemals vergesst, bitt ich euch X
niemals mein Land!
Der Dichter überschreibt die acht Hymnen des dritten Teils mit der Bezeichnung „Gepriesen sei“. Sie sind als eigentliches „Doxastikon“, das heisst als Lobgesang und christlicher Hymnus gedacht. Griechenland wird dabei zu einem messianischen Bereich in der Einbildungskraft des Dichters. Er gedenkt der Winde, der Inseln, der Blüten, der Mädchen, der Schiffe, der Berge, der Bäume Griechenlands. Das wird zur hymnischen Kosmographie. Verehrt wird erneut die Muttergottes, die den Zug der Frauen anführt, angefangen mit der Geliebten des Dichters: Marina, deren Name an den gleichlautenden des Gedichtes T.S. Eliots erinnert. Es ist die Welt einer grossen dichterischen Erneuerung, einer Verklärung in Frieden. Da wird die grundlose Träne gepriesen, die Hand, die endgültig vom Mord zurückkehrt, sich bekehrt und das Ewige begreift.
So lautet der Höhepunkt der achten Hymne, in der ausgezeichneten Uebertragung, die Günter Dietz vom Axion esti 1969 im Claassen-Verlag herausgegeben hat:
Jetzt die wilde Erregung der Myrte
Jetzt die Schreie des Mai
Ewig die scharfe Bewusstseinshelle unerschöpflich und frei
Jetzt der täuschende Schein und des Schlafes mimisches Spiel
Ewig ewig das Wort und ewig der Sterne Kiel
Jetzt der dichte Insektenschwarm, der sich brodelnd ergiesst
Ewig der Mysterien Licht, das die Welt überfliesst
− Odysseas Elytis’ großes Spätwerk. −
Sich einen Namen machen – diese oft gedankenlos gebrauchte Redewendung hat bei dem großen Lyriker Odysseas Elytis (1911 bis 1996) einen schönen Doppelsinn. Seine Eltern, die aus Lesbos stammten, hatten ihm einen Vornamen gegeben, an dem der Dichter nur wenig zu ändern fand: Odyssefs. Der junge Herr Alepoudelis, wie er von Haus aus hieß, debütierte nach einem abgebrochenen Jurastudium als Maler und Dichter. Die Poesie sollte siegen, zumal er nach Erprobung verschiedener Pseudonyme ein besonders sprechendes fand. Seit 1935 signierte Odyssefs Alepoudelis als Odysseas Elytis.
Vom alten Familiennamen Alepoudelis behielt er das Suffix; wobei „eli“ („ely“) auf „lyo“ (lösen, auflösen) verweist. Elytis, der „Löser“ – kein schlechtes Omen für Dichter-Beruf und -Berufung. Mehr noch. Die Anfangsbuchstaben des neuen Namens brachten gewichtige Assoziationen ins Spiel: Griechenland, Hoffnung, Freiheit und Helena (El-las, El-pis, El-ephtheria, El-eni). Wo soviel Sinn konzentriert scheint, haben die Liebhaber des Dichters in „Elytis“ weitere Anklänge gefunden. Nämlich an El-uard, El-iot, Hölder-lin. Der Surrealist Eluard, bekannte Elytis, habe ihm geholfen, alte lyrische Formen aufzulösen. T.S. Eliot hat ihn so beeindruckt, daß sein frühes Gedicht „Marina der Felsen“ (1940) auf dessen „Marina“ (1930) anspielt. Hölderlin schließlich erschien Elytis als „unser ferner Bruder“ und wird von ihm mehrfach deutsch zitiert.
Als die Schwedische Akademie 1979 dem Achtundsechzigjährigen den Nobelpreis zuerkannte, konsakrierte sie des Dichters Pseudonym, indem sie es als „komprimierte Programmerklärung“ verstand. Aber natürlich pries sie nicht bloß ein Programm, sondern ein Werk, das die Vielstelligkeit des Namens entfaltet hatte. Elytis hatte etwas Überpersönliches geschaffen, nämlich einen neuen griechischen Mythos. Nicht daß um 1930, als Elytis anfing, nicht genügend Mythologeme zur Hand gewesen wären. Nach der Befreiung aus türkischer Oberhoheit bestand ein enormer Bedarf an nationaler Rechtfertigung. Das Europa des neunzehnten Jahrhunderts hatte den Neugriechen ihre „Gräzität“ abgesprochen. Es waren die Dichter, welche diese wiedergewannen, ohne die nationale Illusion von einem Großgriechenland zu bedienen. 1975 bekannte Elytis in einem Interview: „Ich und meine Generation – und hierzu zähle ich auch Seferis – haben dafür gekämpft, das wahre Gesicht Griechenlands zu finden.“
Worin Elytis’ Anteil an diesem Kampf besteht, zeigt immer noch am besten sein 1959 erschienenes Hauptwerk To Axion Esti (Würdig ist), das 1969 als Gepriesen sei in einer Übersetzung von Günter Dietz erschien und nun in einer überarbeiteten und vorzüglich kommentierten Neuausgabe vorliegt. Mit Axion esti beginnt die orthodoxe Meßliturgie, beginnt der Eingang der Lobpreisungen in der Grabesklage am Karfreitag, beginnt das kirchliche Preislied zu Ehren der Gottesmutter. Axion esti heißt die Marienikone, die zu Ostern auf Athos verehrt wird zum Zeichen, daß Griechenland unter dem Schutz der Gottesmutter steht. Begreiflich, daß bei so weitreichenden Symbolbezügen das Gedicht des Odysseas Elytis zu einer nationalen Ikone wurde. Mikis Theodorakis, der Teile davon 1964 als Volksoratorium vertonte, nannte das Poem „die Bibel der griechischen Nation“.
Die erneute Lektüre zeigt, daß To Axion Esti immer noch zu beeindrucken vermag. Zwar hat die auf Zahlensymbolik fußende Struktur etwas Hieratisches, einen gewissen Überschuß an Organisation und Gestaltungswillen. Aber viele lyrische Details haben ihre Frische behalten, und auch das zeithistorische Moment ist immer noch nachvollziehbar. Die Dreizahl (Genesis, Passion, Lobgesang) bestimmt übers Religiöse hinaus auch die säkularen Aspekte des Gedichts. Der Mythos integriert die Befreiung des griechischen Volkes von der türkischen Herrschaft. Aber auch seine Passion während der deutschen Besatzung, so die Schilderung einer Vergeltungsaktion der SS in einem griechischen Dorf. Auch für Elytis ist der Tod ein „Meister aus Deutschland“. Doch von Celan wie von einem Großteil der modernen Lyrik überhaupt trennt ihn das Vertrauen in die Existenz einer letztlich heilen Welt. Stark, ja triumphierend tönt es aus dem „Lobgesang“ des Schlusses. Eine ungemein aktuelle Strophe lautet:
Gepriesen die Hand, die endlich zurückkehrt
vom gräßlichen Mord, die für immer begreift
die Welt in Wahrheit, die übermächtige
das Jetzt der Welt und die Ewigkeit.
Elytis ist ein Dichter der Liebe und der Hoffnung. Das zeigt sich selbst in der Zivilisationskritik des szenischen Gedichts „Maria Nepheli“ und findet seinen reinsten Ausdruck in dem Band Lieder der Liebe (beide deutsch 1981). Die Titel der Originale bezeugen des Dichters Lust am mehrfachen Schriftsinn. „Maria Nepheli“ verweist auf die Wolkengöttin Nephele, die Tod und Trübsal bringt, aber auch auf die Gottesmutter Maria. Und was im Deutschen recht konventionell als „Lieder der Liebe“ daherkommt, heißt im Original heiter und spielerisch „Ta Rho tu Erota“, was vielleicht mit „Das L in Liebe“ zu übersetzen wäre.
Die Verleihung des Nobelpreises hatte auch die deutsche Elytis-Rezeption in Gang gebracht. 1984 erschien noch ein Auswahlband Neue Gedichte, dann aber wurde es in Deutschland um den Dichter still. „Der Nobelpreis ist die Eintrittskarte zum eigenen Begräbnis. Niemand hat je danach noch etwas geschaffen“ – sollte Eliot mit seiner bissigen Formulierung recht gehabt haben? Eliot blieben nach dem Nobelpreis keine sieben Jahre, Elytis dagegen gut anderthalb Jahrzehnte. Er hat sie genutzt. Als er den Preis erhielt, gab er nicht einmal seine kleine Wohnung im Stadtteil Kolonaki auf und äußerte: „Ich will mich auf das Wesentliche beschränken.“ Er schrieb weiter an seinem Werk. Nach zwei Lyrikbänden, deren Übersetzung noch aussteht, veröffentlichte Elytis die beiden größeren Zyklen Oxópetra-Elegien (1991) und Westlich der Trauer (1995).
Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.10.2001
Diese Rezension bezieht sich auf eine überarbeitete Neuausgabe im Elfenbein Verlag.
Bis etwa zur Mitte unseres Jahrhunderts blieb die junge neugriechische Literatur im Ausland weitgehend unbeachtet. Erst die Gedichte von Konstantin Kavafis (1863–1933) und die Romane von Nikos Kazantzakis (1883–1957) verschafften ihr internationales Ansehen. Im Jahre 1963 erhielt überraschend der Lyriker Giorgos Seferis (geb. 1900) den Nobelpreis. In der englisch sprechenden Welt sah man in ihm den Hauptvertreter der modernen griechischen Dichtung. In Griechenland selbst war außer Seferis ein weiterer Lyriker als Anwärter für den Nobelpreis im Gespräch: Odysseas Elytis. Elytis hatte 1960 für sein Hauptwerk TO AXION ESTI den ersten Staatspreis für Lyrik erhalten. Er galt mit seinen Gedichtbänden Orientierungen (1940) und Sonne die erste (1943) bereits seit 1943, dem Todesjahr von Kostis Palamas, als einer der führenden Lyriker Griechenlands.
Elytis (Odysseas Alepoudelis) wurde 1911 auf Kreta geboren. Die wohlhabende Familie stammte von Lesbos, das der Dichter stets als seine eigentliche Geburtsinsel ansah. Er kam mit seinen Eltern bald nach der Befreiung Kretas von türkischer Herrschaft (1912) nach Athen. Dort besuchte er das Gymnasium und schrieb noch als Schüler (1928) seine ersten Gedichte. Im Jahre 1930 begann er mit dem Jurastudium, das er aber (ähnlich wie Palamas) abbrach, um sich ganz der Dichtung und Kunst widmen zu können. Die Sommerferien verbrachte er auf verschiedenen ägäischen Inseln. Ihre Atmosphäre ging in die Thematik und Bildersprache seiner Gedichte ein. Das Erlebnis des Lichts und die Erfahrung der Inselwelt hätten den Dichter aber nur wenig über die Schranken der konventionellen griechischen Stiltradition hinausgetragen, wenn er nicht auf die französischen Symbolisten und Surrealisten gestoßen wäre, mit deren Gedichten er sich eingehend beschäftigte. In einer autobiographischen Notiz bekennt Elytis, daß der französische Surrealismus es ihm ermöglicht habe, das eigene lyrische Temperament freizuspielen, alte lyrische Formen aufzulösen und neuartige Bildreihen und Wortschöpfungen zu wagen. Den Orientierungen ist ein Motto von Rimbaud vorangestellt, den Wasseruhren des Unbekannten (1937) ein Wort von André Breton. 1935 erschienen die ersten Gedichte von Elytis in der neu gegründeten Zeitschrift Nea Grammata (Neue Texte), um deren Herausgeber (A. Karantonis und G. K. Katsimbalis) sich mit Elytis und Seferis, mit Andreas Empirikos (geb. 1901) und Giorgos Sarantaris (1908–1941) ein avantgardistischer Lyrikerkreis bildete. Dieser Kreis wurde für die Entwicklung der griechischen Literatur epochemachend. Er führte die moderne und europäische Lyrik (den französischen Surrealismus, Pound, Eliot u.a.) in Griechenland ein und vermittelte der griechischen Lyrik neue Ausdrucksmöglichkeiten. Elytis übertrug im Laufe der Jahre mehrere moderne Lyriker in Auswahl, so Rimbaud, Lautréamont (1940), Eluard (1936), P.J. Jouve (1939), Ungaretti, Lorca und Majakowski. Am stärksten wurde er von Paul Eluard (1895–1952), dem Mitbegründer der surrealistischen Bewegung, beeinflußt, von Eluards Liebesmetaphysik, von seiner geschmeidigen und klangvollen, allen Empfindungen und Erfahrungen offenen Sprache.
Die Zeit von 1935 bis 1945 nennt Elytis in seinen (1969 noch nicht veröffentlichten) Essays die „heroische Periode“ der jungen Dichtung. Dieses Jahrzehnt zeichnet sich nicht nur durch die Intensität und Dynamik der neuen Ideen aus, die die junge Lyrikergeneration in ihren Bann schlugen, sondern auch durch die Art, wie die Realität ihr Recht forderte: durch den Krieg. 1937 besuchte Elytis die Militärschule in Kerkyra. Im albanischen Feldzug 1940 erkrankte er als Unterleutnant an Typhus und wurde nur durch das beherzte Eingreifen einer Krankenschwester vor dem sicheren Tod bewahrt. In Albanien lernte er das „Wunder“ des griechischen Freiheitswillens kennen:
In den Gesichtern meiner Soldaten sah ich das Leuchten, zu dem das Griechentum immer fähig ist, wenn es an sein Recht glaubt.
So wurde der albanische Feldzug zur doppelten Grenzerfahrung für den Dichter. Sie spiegelt sich in dem zuerst von Studenten vervielfältigten Helden- und Klagegesang auf den verlorenen Leutnant in Albanien (erschienen 1945) und in der wenig bekannten Albaniade (Gedicht für zwei Stimmen, 1946 und 1950). Auch die ersten beiden Lesungen des AXION ESTI zeugen von dieser Grenzerfahrung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Elytis – durch seine schon genannten Dichtungen als Lyriker und auch als Resistance-Dichter anerkannt – Programmdirektor des Athener Rundfunks (1945/46). Noch vor Ende des blutigen Bürgerkriegs zwischen Monarchisten und Kommunisten (1946–1949) ging er 1948 nach Paris, hörte an der Sorbonne philologische Vorlesungen und wurde mit mehreren französischen Dichtern und Malern bekannt. Nach vier Jahren kehrte er in die Heimat zurück (1952), da ihn der literarische Nachkriegsbetrieb in Paris nicht mehr befriedigte. Er machte (wie Giorgos Seferis) die Erfahrung, daß er die heimatlich griechische Umgebung brauchte, um schreiben zu können. Diese Erfahrung bestätigte oder verstärkte sich bei den anderen größeren Auslandsreisen nach London sowie – offiziell von den Regierungen eingeladen – nach Amerika (1961) und Rußland (Winter 1962/63) und später nach Bulgarien (1965) und Ägypten (1967). Nach seiner Rückkehr aus Paris übernahm Elytis 1953/54 erneut das Amt des Programmdirektors der staatlichen Rundfunkgesellschaft, 1955 bis 1958 war er als Präsident des griechischen Chorspiels tätig, 1963 wurde er Mitglied des Aufsichtsrats des Königlichen Theaters. 1960 erhielt er den Staatspreis für Lyrik, 1965 den Phönixorden. Heute lebt Elytis in Athen ziemlich zurückgezogen.
Als 1959 das AXION ESTI erschien (1948 begonnen, 1958 vollendet), wurde es von der gebildeten Welt Griechenlands sogleich als Hauptwerk des Dichters anerkannt. Das Werk hat auch neun Jahre nach der Auszeichnung von 1960 nichts von seiner literarischen Bedeutung eingebüßt. Die Vertonung längerer Partien durch den bekannten Komponisten Mikis Theodorakis (1964) hat das AXION ESTI breiten Volksschichten nahegebracht. Es ist ein Werk, das in hohem Stil die neugriechische Tradition mit der antiken und christlich-byzantinischen vereint. Das lyrische Ich spricht als Herold einer neuen Welt, in der es sich nach den Schrecken des Kriegs und den Barbareien des Friedens wieder zu leben lohnt. Diese neue Welt ist eine „Welt in der Zeit“, aber zugleich eine „Welt jenseits der Zeit“.
Vielfältig sind die Impulse, die das AXION ESTI bestimmen: das Alte Testament; Homer, Sappho, Platon, Plotin; die liturgische Literatur des byzantinischen Mittelalters (besonders der Hymnendichter Romanos); die neugriechische Dichtung (Solomos, Kalvos u.a.) und nicht zuletzt das „magische Spiel“ des Surrealismus. In unzähligen Wortzusammensetzungen, Ausdrücken und Bildern prägt Elytis in seinem Sinne um, was in der Sprache der orthodoxen Liturgie, was bei Homer, was in der neugriechischen Volkssprache oder in der Sprache der Surrealisten schon geformt war. Außerdem werden Wortzusammensetzungen oder Wortableitungen neu gebildet; Umrißskizzen und schwebende Bilder stellen sich ein, die nicht für sich allein gewertet werden wollen, sondern durch ihre frische Direktheit, ihre Klang- und Ausdruckswirkung das Zu-Sagende so enthüllen, wie etwa ein orthodoxer liturgischer Text im würdigen „schönen Bezeichnen“ das Wesen göttlichen Lebens enthüllt. Der Dichter äußert sich selbst folgendermaßen über seine Lyrik:
Ich betrachte die Lyrik als eine Quelle kämpferischer UNSCHULD, die ich in meinem Bewußtsein gegen eine schuldige Welt richte, um diese unter ständigen Verwandlungen so umzuformen, daß sie mit meinen Triumph in Einklang steht. Es geht um eine moderne Art von Magie, deren magischer Mechanismus auf die Offenbarmachung unserer wahren Wirklichkeit zielt. Ich glaube – bis zur Form der Idealisierung – an die Sinne und versuche, sie in einer bis heute unerforschten Richtung zu entwickeln. Ich hoffe, daß ich so eine Freiheit, die allen Regierungen entgegengesetzt ist, und eine Gerechtigkeit, die mit dem absoluten Licht identisch ist, am Leben erhalte.
Dieses Bekenntnis, mit dem Elytis die Grundlagen seiner Lyrik deutet, enthält auch die beiden Hauptgedanken des AXION ESTI: die Idee des „reinen Menschen kämpferischer Unschuld“ und die Idee von der Verwandlung der Welt durch das Wort, die Liebe und die Träume dieses „reinen Menschen“. Eine solche Verwandlung bedeutet nicht eine radikale Strukturänderung der Welt, sondern ein Offenbarmachen der wahren irdischen und metaphysischen Bezüge. Dem Zauber des Worts, dem „magischen Mechanismus“, der die Sinne mit sich fortzieht ins Außerordentliche, ja Ekstatische, soll diese Enthüllung gelingen. Zutage tritt, daß „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“, diese höchsten Ideen des Menschen, im Absoluten wurzeln. Sie sind „mit dem absoluten Licht identisch“, wie Elytis sagt; sie sind Ausgangspunkt, Antriebskräfte und Ziel der menschlichen Entwicklung. Das AXION ESTI zeigt den Weg des „reinen Menschen“ auf der Spur dieser absoluten Freiheit und Gerechtigkeit. Das magische Wort des Dichters bemüht sich, den mataphysischen Charakter beider Ideen in bestimmten Bildern und Metaphern auszudrücken, die wohl der Welt der Bibel, der liturgischen Texte, der antiken oder modernen Dichtung nahestehen, die aber doch vor allem an der Gegenwärtigkeit griechischen Seins orientiert bleiben: an der bezwingenden Lichtfülle, die kein langes Zweifeln und Grübeln duldet, an der faszinierenden Urtümlichkeit von Gebirge und Meer, die keine verschnörkelten, komplizierten Bilder zuläßt, an der Einfachheit griechischer Lebensformen und der geographisch und historisch reichen und dennoch überschaubaren Gliederung der griechischen Landschaft, in der der Mensch den Impuls zur Regeneration und zum Beginn eines einfachen „wahren Lebens“ besonders rein empfängt, so daß sich das magische Wort in richtiger Umgebung und zur rechten Zeit mit Andeutungen und Hinweisen begnügen kann.
Die tragende Idee, das Zentrum des Werks ist schon mit dem Titel TO AXION ESTI ausgedrückt. Das Wort AXION ist zunächst das erste Wort der Praefatio in der orthodoxen Meßliturgie (der Anfang entspricht dem lateinischen ,Vere dignum est‘); sodann beginnt mit der Formel AXION ESTI das Preislied zu Ehren der Gottesmutter, das in allen kirchlichen Gesängen zum Lob der Theotokos (z.B. in dem berühmten „Akathistos Hymnos“) enthalten ist. Die wörtliche Übersetzung des Preislieds lautet: „Es ist wahrhaftig würdig (Axion estin), dich in deiner Seligkeit zu preisen, Gottesgebärerin, die Ewig-Selige und Ganz-Untadelige und Mutter unseres Gottes. Ehrwürdiger als die Cherubim und unvergleichlich herrlicher als die Seraphim, die GOTT das WORT unversehrt gebar, in Tat und Wahrheit die Gottesgebärerin, dich erheben wir.“ Nach der Legende lehrte einst der Erzengel Gabriel während der Nacht einem schlecht singenden Kantor und Marienverehrer aus dem Athos-Kloster Pantokrator Text und Melodie dieses Lieds. Dies sei geschehen vor einer Marien-Ikone, die dann den Namen AXION ESTI erhalten habe. Die Ikone AXION ESTI wird als Gnadenbild an jedem Ostermontag in einer Prozession mitgeführt, die viele Gläubige nach Karyä, in die Hauptstadt der Mönchsrepublik Athos, und in die Protaton-Kirche lockt, wo sich die Gnadenikone befindet. Die Tatsache, daß sie 1963 anläßlich der Tausendjahrfeier der Athosklöster zur Verehrung nach Athen gebracht wurde, macht deutlich, daß die Ikone AXION ESTI in besonderer Weise eine „nationale“ Ikone ist, die in dem Glauben verehrt wird, daß Griechenland unter dem Schutz der Panagia, der Gottesmutter, steht. Der Titel AXION ESTI hat als tragende Idee der Dichtung zunächst also den Sinn, dem Leser zu sagen, daß er es mit einem religiösen Werk zu tun hat, das rühmen und preisen will. Nicht nur die Theotokos wird gepriesen, die ganze Schöpfung, die „Physis“, der „Kosmos“, wird gerühmt. Damit ist die Dichtung formal auf lyrische Formen eingeschränkt, die auch im religiösen Raum ein solches „Rühmen“ erlauben: auf Gesänge und Lieder hohen Stils, auf liturgische Formen. Es sind dies in der GENESIS sieben „biblische“ Gesänge, in der PASSION Psalmen, Oden (Preislieder) und Lesungen, im Schlußteil Hymnen. Das lyrische Wort ist in allen drei Teilen der Dichtung in rezitierbaren oder singbaren „liturgischen“ Text verwandelt, was der Leser beim bloßen Lesen nicht vergessen sollte. Weiterhin gibt der Titel AXION ESTI, indem er an einzelne Züge der Legende, besonders aber an die Gottesmutter in ihrer Tätigkeit als Schutzpatronin Griechenlands und aller Nationen erinnert, Hinweise auf die drei durchgehenden Linien des Werks: die individuelle, die nationale, die allgemein menschliche. Das AXION ESTI zeichnet die individuelle Entwicklung des Dichter-Kantors von seiner Geburt bis zu einer visionären Zukunft, es zeigt den Schicksalsweg des griechischen Volkes von der Befreiung Kretas (1912) bis zu einer visionären Aufhebung von Gesetzes- und Nationenschranken, und es entwirft paradigmatisch den Werdegang des im Spannungsfeld von GUT und BÖSE sich fest behauptenden Menschen, der zusammen mit der individuellen Gestalt des Dichters die oben schon genannte Idee des „reinen Menschen“ verkörpert. Diese drei Linien führen unter dem eschatologischen Aspekt der zweiten Grundidee von der Verwandlung der Welt zum Bild einer sich entwickelnden Welt-Erneuerung. Das rühmende Bekennen geht im dritten Teil des Werks, nachdem es das epische Element abgeworfen hat, in ein direktes hymnisches Preisen über.
Das Bild dieser ersehnten Erneuerung der Welt ist bereits in den ersten Gedichten von Elytis (abgedruckt in den Orientierungen) zu erkennen, zum Teil schon an den Titeln, z.B. „Klima der Entrückung“ (1935), „Zweite Natur“ und „Fenster zur fünften Jahreszeit“. In den „Liedern der Ägäis“ wird die Renovatio als Wirkung eines Eros, der alles Lebendige erfaßt, angesprochen. In den „Fenstern zur fünften Jahreszeit“ bilden Liebe, reines Fühlen, Licht und Traum eine enge Einheit; die Kraft einer „Begierde, auf deren Händen die Entrückung brennt“ (II), wird wirksam: „Wie schön sie ist! Sie hat die Gestalt des Gedankens angenommen, der sie fühlt, wenn er empfindet, daß er ihr gewidmet ist“ (III); oder: „Im Dienst der schwierigsten Träume ein stetiges Sich-Erneuern!“ (VII). Im siebenteiligen Gedicht „Orion“ heißt es am Schluß:
Als sei das irdische Lärmen vergangen
Als sei die Bosheit des Gedächtnisses zu Ende
Rein pocht
Unser neuer Traum
Eine unsichtbare Hand zieht uns fort
Wo makelloser Himmel zur STILLE wird
Wo sich die Seele erweist als nie wandelbar.
Alle diese Gedichte sind in jener Zeit entstanden, in der sich Elytis dem französischen Surrealismus zugewandt und als ersten Lyriker Paul Eluard übersetzt hat (1936). Bei Eluard fand Elytis, wie oben schon angedeutet, eine undogmatische, poetische Religion der Liebe. „Die Liebe ist der unvollendete Mensch“, sagt Eluard 1932 im Zyklus „La vie immédiate“ (Zitate nach der Eluard-Ausgabe Ausgewählte Gedichte, 1963, Luchterhand-Verlag). Durch das Feuer der Liebe wird der Mensch vollendet, erneuert, verklärt. Das Unveränderliche in den verschiedenen Zuständen der Liebe ist ihre Reinheit. Eluards Gestalt des „rein liebenden“ Menschen, der neuen anima candida, kehrt in Elytis’ Idee des „reinen Menschen“ wieder. Diese Reinheit der Liebe ist für Eluard wie für Elytis „eins mit der Reinheit der Sprache… Die Verklärung (durch die Liebe) gibt dem surrealistischen Blütenkranz der Bilder die klare Einfachheit und Reinheit“ (Georges-Emmanuel Clancier über Eluard). Liebe und Dichtung sind identisch: L’amour la poésie (Titel eines Gedichtbandes, 1929). Beide wollen aber nicht auf das Ich beschränkt bleiben, sondern sind bestrebt, in die Welt zu wirken, Leben zu verändern. Sprechen Eluard und Elytis auch immer von neuem in der ersten Person Singular, so gilt doch auch für sie Clanciers Apologie:
Indem der Dichter im eigenen Namen spricht und seine Einsichten kündet, spricht er im Namen aller und für alle.
Eluards Liebes-Dichtung ruft nach dem Glück für alle. Elytis’ zweite Grundidee von der Verwandlung der Welt schließt sich hier eng an: Auch im AXION ESTI wird ein neues Glück, eine neue Unschuld, eine durch die Liebe verklärte Welt gefordert und prophezeit – ganz im Sinne des Cours naturel (Natürlicher Lauf, 1938), den Eluard in folgenden Versen festhält:
Die Erde wird wieder gestaltet sein wie unsre lebendigen Leiber
Der Wind wird uns bestehn
Sonne und Nacht werden hinziehn in unseren Augen
Ohne sie je zu verändern.
Groß genug unser sicherer Raum unsre reine Luft
Den Verzug zu begleichen den die Gewohnheit höhlte
Wir werden alle ein neues Gedächtnis erreichen
gemeinsam eine fühlende Sprache sprechen.
……
O meine verlorenen Brüder
Ich gehe dem Leben entgegen ich habe Menschengestalt
Zu beweisen daß die Welt nach meinem Maße gemacht ist.
Diese Worte entsprechen Zeile um Zeile der oben zitierten programmatischen Äußerung Elytis’ über die Aufgabe des Dichters sowie vergleichbaren Texten seiner Lyrik seit ihren Anfängen (1935), besonders aber dem AXION ESTI. Eluards lyrische Vision von der Neugestaltung und Wieder-Belebung der Erde, von einem neuen Gedächtnis, von einer neuen fühlenden Sprache unter liebenden Menschen sind in Elytis’ „prophetisches“ hymnisches Sprechen eingegangen. Offenbar wird mit Elytis’ Worten – „unsere wahre Wirklichkeit“:
Sein wird die Welt X oder wird nicht sein
GEBURT X VERKLÄRUNG EWIGE DAUER
Die ich verkündet X nach meiner Seele
Gerechtigkeit X der Allergerechteste
(Ode XI)
Das neue Gedächtnis ist ohne Bosheit:
Aus Hyazinthen Narzissen X schmied ich das neue
Schwert, das von nun an X ziert seine Helden
(Ode XII)
In der „Prophetie“ (sechste Lesung) heißt es: „Von neuem wird er“ (der Dichter, der „Menschengestalt“ hat, der „dem Leben entgegengeht“, der „beweist“, daß „die Welt nach seinem Maße gemacht ist“) – „von neuem wird er die FRAU verehren… so, wie es bestimmt ist.“ Denn – um wiederum Worte Eluards zu gebrauchen: „Es mußte so sein, daß ein Antlitz Antwort gibt auf alle Namen der Welt“ (L’amour la poésie, 1929). „Und die TRÄUME werden ihr Recht erlangen und Geschlechter erschaffen in Ewigkeit!“ (Schluß der Prophetie)
Wie sehr die Komposition des AXION ESTI – der gesamten Dichtung, aber auch der Einzelstücke – bis in letzte Feinheiten hinein durchdacht ist, wird dem Leser bei aufmerksamer Lektüre nicht entgehen. Dreierzahlen bestimmen die Hauptgruppierungen des Werks: drei Hauptteile; im zweiten Teil sechs Lesungen, zwölf Oden, achtzehn Psalmen; im dritten Teil von den zehn Hymnen zwei Dreiereinheiten (Hymnen 1-3, 8-10). Die Dreiteilung des Gesamtwerks versinnbildlicht den „Dreischritt“ der Schöpfungsgeschichte: Reinheit der Schöpfung am Anfang, dann Epoche des Abfalls, der Gottferne (Zeit der „Sünde“, der Passion) und schließlich die Rückkehr zur Reinheit in der Form der Verklärung. Daß der erste Hauptteil, die GENESIS, sieben Stücke umfaßt, die nicht numeriert, aber als liturgische Texte mit Großbuchstaben in den Anfangswörtern gekennzeichnet sind, hat seinen Grund in der biblischen Siebenzahl: Die sieben Teile sind eine Parallele zu den sieben Schöpfungstagen. Freilich konnten Reihenfolge und Geschehnisse in der Genesis des Alten Testaments (1. Buch Mose) für die Geschehnisse in der Genesis des Dichters (seiner Kindheit und Jugend) nur einen unauffälligen Rahmen abgeben. Die Beziehung zur Bibel ist im ersten und letzten Gesang der GENESIS am deutlichsten. Die Geburt eines Menschen, des Dichters, ist wie eine zweite Erschaffung der Welt:
Im Anfang das Licht
Und die erste Stunde
in der noch die Lippen im Urschlamm
schmecken die Dinge der Welt…
Meine Seele suchte Signal und Herold…
Die Sonne war mit ihrer Achse in mir…
sie kam und bückte sich
über meine Wiege.
Hier wird der Anfang der biblischen Genesis und des Johannesevangeliums zu einer Mythisierung benutzt, die über die übliche Art metaphorischer Personifizierung weit hinausgeht. Der alttestamentliche Gott und der Logos-Gott des Johannes erscheint als ein griechischer Licht- und Sonnengott, der immer wieder – als Sonne der Idee des Guten – auch platonische Züge trägt. Im siebten GENESIS-Gesang wird dann von der Uhr des Paradiesesgartens gesprochen, auf der „die Stunden sich drehten wie Tage“, und selbst die Monate drehen sich mit („Dienstag Mittwoch Donnerstag / Juni Juli August“). Die biblische Siebenzahl der Schöpfungstage umschließt auch den Sonnenlauf eines einzigen Tages in seinen wesentlichen Zeitabschnitten. Die Genesis der Dichter-Psyche dauert vom Tagesanbruch bis zum Mittag, dann fällt die Nacht ein, auf die wieder – „hinter den Kasernen krähte / der erste Hahn“, wie es am Ende des siebten Gesangs heißt – ein neuer Tagesanbruch folgt. Außerdem sind in der Siebenerordnung der Schöpfungstage auch die Etappen des Sonnenjahrs mit seinen zwölf Monaten und die Etappen der neunmonatigen inneren Reifezeit des Dichters (Im sechsten Monat trug ich die Liebe“) eingeschlossen. Am Ende der GENESIS wird der Dichter, der neue Adam, allerdings nicht vom Engel aus dem Paradies vertrieben. Vielmehr werden hier in einem Augenblick höchster Entrückung vor dem Eintritt in den Bereich des Bösen die Säulen der Akropolis als Weltsäulen sichtbar („die Aufrechten Säulen“), werden der kosmische Tierkreis („die Metope der TIERE“) und die Heiligen „im Glanz der Weisheit“ erkennbar. Der Dichter tritt in den Schutz der Sonne, die in der Wesenheit eines Engels (nicht mehr „ungeschieden vom Himmel“) zu seiner Rechten Gestalt annimmt). Der Lichtträger und „Sonnenschlürfer“ ist für den Kampf mit den versammelten „Entschlossenen“ gerüstet (Psalm 1). Er vertritt – wenn wir hier auch die „nationale Linie“ betücksichtigen – das griechische Volk, das sich in sich selber behaupten und gegen eine feindliche Umwelt zur Wehr setzen muß. Diese „nationale Linie“ setzte bereits im ersten GENESIS-Gesang kraftvoll mit den Worten ein: „Heruntergezogen mit Gewalt / und gelöst von den Zinnen fielen zuerst / die SIEBEN BEILE“; und dann „Gereinigt kehrte das Blut zurück“. Im Sturz der sieben Beile – sie waren das Emblem einer türkischen Besatzungseinheit im gleichnamigen Stadtviertel Heraklions, der Geburtsstadt des Dichters – ist exakt der Moment der Befreiung Kretas festgehalten, der historische Augenblick, in dem das tyrannisierte Kreta, von seinen Fesseln gelöst, wieder zu eigener Kraft kam – ein ganz Griechenland mitreißender Vorgang.
Im zweiten Hauptteil des AXION ESTI, der PASSION, rücken die Leiden des Menschen, des Dichters und des griechischen Volkes nach dem Eintritt in die Geschichte in den Vordergrund. Elytis stellt drei liturgische Formen in eine fortlaufende Reihe: die freirhythmischen „Psalmen“ (Vorbild: die Psalmen Davids), die formal gebundeneren, im lyrischen Ton höheren „Oden“ (Gesänge), für die sowohl Formen und Bilder des byzantinischen Kirchenlieds als auch des neugriechischen Volkslieds und der Odendichtung des Andreas Kalvos (1792-1869) verwendet sind, sowie die sogenannten „Lesungen“, die den liturgischen Lesungen (lectiones) aus dem Alten und Neuen Testament entsprechen. Der Stil der Lesungen führt den Legendenstil weiter, den Dionysios Solomos, der Begründer der neugriechischen Dichtung (1798–1857), in seinem Prosafragment „Die Frau von Zakynthos“ und der Memoirenautor Joannis Makryjannis (1797–1864) in seiner Darstellung der Epanastasis (Revolution von 1821) geschaffen haben. Die Dreierzahl spielt nicht nur, wie schon erwähnt, in der Gesamtzahl der 18 Psalmen, 12 Oden und 6 Lesungen eine Rolle; sie erscheint auch als unterste Kompositionseinheit: Eine Lesung wird jeweils von zwei Oden umrahmt, und jeder Ode sind entweder zwei Psalmen voran- oder nachgestellt. Nach diesem Schema ist dann eine Zwölfereinheit aufgebaut (6 Psalmen, 4 Oden, 2 Lesungen), die sich dreimal wiederholt. Das Thema jeder Zwölfergruppe wird in zwei Lesungen unter dem nationalen Aspekt entwickelt und von den dazugehörigen Psalmen und Oden unter dem individuellen und allgemein menschlichen Aspekt vorbereitet bzw. motivisch weitergeführt.
Im ersten Teil der PASSION, der ersten Zwölfereinheit, schildern die beiden LESUNGEN, ohne die Schrecken des Kriegs direkt vorzuführen, die Leiden und Strapazen im albanischen Feldzug 1940/41, der eine vom Schicksal verhängte Bewährungsprobe für den einzelnen wie für das Volk war. Die zweite Lesung „Der Nachschub“ ist dem Kampf gewidmet, den der Mensch im Krieg mit sich selbst gegen Angst und Zweifel führen muß, um sich „seinen Platz an der Sonne zu verdienen“. Das Thema des zweiten Teils der PASSION (diese Zwölfereinheit reicht bis zum 12. Psalm) ist die Unterdrückung Griechenlands während der Katochi (Besatzungszeit 1941/1944). Die dritte Lesung schildert die Zerschlagung einer Demonstration in Athen am 25. März 1942 durch die anonym bleibende Besatzungsmacht. Diesen Tag hatten die meist jugendlichen Demonstranten in Erinnerung an den 25. März 1821, den Beginn des großen Freiheitskampfes gegen die Türken, gewählt. In der vierten Lesung wird die barbarische Willkür der deutschen SS bloßgestellt, die bei einer Vergeltungsmaßnahme ein Dorf umstellt, die Männer zusammentreibt und auf die Zeichen eines maskierten Denunzianten hin („ER… MIT DEM ERLOSCHENEN GESICHT“) viele mißhandelt und schließlich tötet. Lefteris, die Hauptgestalt der zweiten und vierten Lesung (der Name bedeutet etwa „Sohn der Freiheit“), zeigt durch sein mutiges Verhalten bis zum Tod, welcher Glaube an eine bessere freie Welt im griechischen Volk wohnt, obwohl das Land in dieser harten Zeit genau wie der „verbannte“ Dichter (und wie Christus im Garten Gethsemane) von allen „Freunden“ verlassen ist. Das nationale Thema findet seine Fortsetzung im dritten Teil der PASSION (Zwölfereinheit bis zum 18. Psalm). Es geht in der gleichnishaften Rede der fünften und in der prophetischen Rede der sechsten Lesung um das historische Ringen für ein besseres Griechenland, das schließlich visionär Gegenwart wird. Die schlimmste Prüfung für die Einheit des Volkes in dieser „Endzeit“ war der im Gleichnis des Schafstalls (5. Lesung) geschilderte Bürgerkrieg zwischen Monarchisten und Kommunisten, der 33 Tage (Dez. 1944/Jan. 1945) bzw. 33 Monate lang tobte (1946–1949). Er war – wie es das Gleichnis nahelegt – durch die trügerischen Worte der Großmächte veranlaßt. In der sechsten Lesung bekennt der Dichter, daß sich das 20. Jahrhundert von der Natur und der ursprünglichen Reinheit der Schöpfung am weitesten entfernt hat: Schließlich werden alle Dinge nur noch „herrliche Ruinen“ sein. Zugleich sieht er den Augenblick, in dem er aus seiner inneren Emigration zurückkehren kann, um zwischen diesen herrlichen Ruinen zu wohnen. Ich sehe die Gendarmen ihr Blut hingeben zum Opfer für die Reinheit des Himmels“. Im Geiste dieser „Reinheit des Himmels“, der der Dichter – „REIN bin ich von Grenze zu Grenze“ stets treu blieb, wird das neue Hellas, die neue Welt begründet.
Der dritte Teil des AXION ESTI ist ein einziger Lobpreis der „reinen“ Schöpfung. An den zehn Hymnen wird klar, wie sehr die belebte und unbelebte Natur, wie sehr auch bestimmte (jungfräuliche) Menschen die Natur der Reinheit in einer Weise verkörpern, daß sich in ihnen schon jetzt die Verklärung der Welt ankündigt. Dieser Lobpreis, dem Elytis statt des gedruckten Titels TO AXION ESTI den neuen Titel Doxastikon, d.h. Lobgesang, zu geben beabsichtigt, umfaßt wie die PASSION wiederum drei Teile. In der ersten Dreiergruppe werden die Winde und die Inseln gepriesen, der längere dritte Hymnus schließt mit einer Vergöttlichung der Gestalt der Jungfrau (Parthenos). Die Vierergruppe enthält den Lobgesang auf die Blumen, die Mädchen, die Schiffe; sie schließt im längeren siebten Hymnus mit der Erhebung des Dichters. Die folgende Dreiergruppe rühmt die Berge und die Bäume und steigert sich im letzten Hymnus zu einer großartigen Bildmetaphysik, in der die Ewigkeit der Schöpfung aufleuchtet: „Jetzt der dichte Insektenschwarm, der sich brodelnd ergießt / Ewig der Mysterien Licht, das die Welt überfließt“. Die biblische Siebenzahl der GENESIS kehrt wieder in der Siebenzahl der gleichlangen Hymnen (1, 2; 4, 5 ,6; 8, 9), in denen sieben „Dinge“ gepriesen werden, die – nach dem Gefühl des Griechen – die Grundstruktur der Schöpfung am reinsten in sich tragen. In den drei längeren Hymnen, deren jede auffällig in sieben Zweizeilern gipfelt, findet die nationale (im dritten), die individuelle (im siebten) und die allgemein menschliche Linie (im zehnten) ihr Ende. Im dritten Hymnus singen die Priester und Vögel (die ganze Natur) das neue Ave zu Ehren der Panagia, der Beschützerin Griechenlands, und zu Ehren der „kleinen Jungfrau“ Hellas. Beide Gestalten gehen auf im Bild der neuen Frau, die durch die Kette der Namen und Bestimmungen, die ihr beigelegt werden, zum Inbegriff alles wesenhaft Weiblichen in der Schöpfung wird. Die Form dieser parallel rhythmisierten, in Assonanz oder Reim endenden und syntaktisch gleich gebauten Verspaare stammt von den Ave-Gesängen der orthodoxen Liturgie, vor allem aus der Liturgie des „Akathistos Hymnos“ (Elytis verwendet lediglich – entsprechend der „Schöpfungszahl“ – sieben statt sechs Verspaare). Im siebten Hymnus, der die Wesensbestimmung des Poeta bringt, gibt es im ersten Zweizeiler Aussagen über den Dichter, die man zunächst als übertriebenes Pathos oder als Anmaßung empfinden könnte. „Denn er ist der Tod und er ist das Leben / Er ist die Zukunft und er das Gesetz“. In diesen abstrakten Definitionen erreicht die individuelle Linie des Dichters ihren Kulminationspunkt. Ihre eigentliche Bedeutung offenbart sich durch die Bilder der folgenden sechs Verspaare. In höchst kunstvoller Weise gelingt es darin Elytis, im bildhaften Paradoxon das „Wesen“ des Dichters einzufangen: Der Dichter ist der echte Nachkomme des Ion, des typischen Joniers, der das Maß der Dinge sieht und an der Küste Kleinasiens zum Philosophen wird; er ist aber auch der wundergläubige Pygmalion, der sich in eine weibliche Statue verliebt, die von Aphrodite zum Leben erweckt wurde; er ist ferner die Vereinigung der verführerischen, Not und Tod bringenden Schlange mit der Leben und Segen spendenden Ähre; er ist schließlich „die lockende Tollheit“ und zugleich „aller Lichtregen klarste Frühlingsreinheit“. Erst ein Bewußtsein, in dem sich alle paradoxen Aussagen und Bilder ineinanderfügen, so daß sie eine einzige dynamische Wirklichkeit hervorbringen, wird diesem Hymnus gerecht. Die Ave-Verspaare der drei Langhymnen stehen an der Grenze des Sagbaren. Sie sind wie die liturgischen Ave-Gesänge Texte der mystischen Feier oder der Meditation. Am meisten gilt dies für den letzten Hymnus des AXION ESTI. Das „Jetzt der Welt“ ist auf die Ewigkeit ausgerichtet. Der Schleier hebt sich, das zweite Antlitz des „Mörders“, sein Gesicht als Geschöpf wird sichtbar (Kompositionsendpunkt der „allgemein menschlichen Linie“). Der Mensch findet in der „scharfen Bewußtseinshelle“ innerhalb der erneuerten Natur der Welt „Speise“ für seine Seele: jene Freiheit und Gerechtigkeit des Seins, auf deren Spur er von Geburt an war.
Es muß der wissenschaftlichen Forschung vorbehalten bleiben, genaue Einzelinterpretationen vorzulegen und in ihnen die vielfältigen Beziehungen, Einflüsse, Assoziationen zu klären, die mit jeder Verszeile, jedem Bild, jeder Anspielung im Text gegeben sind.
(…)
Bei der vorliegenden Übersetzung hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, die Stilhöhe des Hymnischen in den verschiedenen Einzelformen des AXION ESTI zu treffen, aber auch den frischen Schwung und die quirlige Lebendigkeit des Originals zu erhalten. Gelegentlich mußte ich, um den Versfluß nicht zu unterbrechen, auf eine philologisch exakte Übersetzung verzichten. Das AXION ESTI ist schon wegen der Vielschichtigkeit seiner Sprache schwer übersetzbar. Es besteht – wie bei den Gedichten von Paul Eluard – die Gefahr, daß eine nicht recht eingestimmte Übersetzung die „magische Atmosphäre“ des Worts zerstört oder in hohl klingende Banalität auflöst. Es ist zudem aus den verschiedensten Gründen unmöglich, das Zusammenspiel der drei Sprachfaktoren im AXION ESTI (des antik-homerischen, byzantinischen und neugriechischen) in sinnvoller Weise im Deutschen „nachzuahmen“. Am leichtesten lassen sich noch die neuen Wortzusammensetzungen übertragen, für die Elytis bei Homer und im Kirchengesang formale Vorbilder fand. Denn das Deutsche steht, was die Fähigkeit zu Wortkonstruktionen anbelangt, dem Griechischen in nichts nach.
Die Originalität des Dichters besteht vor allem in der schöpferischen Umprägung traditioneller Bilder sowie in der durchsichtigen Einfachheit neuartiger Metaphern. Die flimmernde Leichtigkeit der vielschichtigen Bilder, mag sich in ihr auch die Erfahrung des „magischen Surrealismus“ widerspiegeln, ist einem äußerst strengen Kompositionsplan unterworfen, von dem schon die Rede war (Elytis hat ihn z.B. für jede Hymne des dritten Teils mit Zahlen, Farben und geometrischen Figuren ausgearbeitet). Die den Aufbau und die Metaphorik beherrschende Grundidee der Dichtung, die Idee vom neuen „freien“ Menschen und der erneuerten Schöpfung, ist weder rein christlich-eschatologisch noch rein antik-platonisch oder gar neuplatonisch-plotinisch. Auch die modernen Einflüsse dürfen nicht überschätzt werden; gleichartige Ideen finden sich nicht nur bei Paul Eluard (lohnend wäre in diesem Zusammenhang für den deutschen Leser ein Vergleich des AXION ESTI mit der Ding-Mystik Rainer Maria Rilkes). Der Dichter des AXION ESTI ist in erster Linie als Grieche „mystisch“ am Erlebnis des griechischen Lichts orientiert, in das der Mensch aus dem Norden sich erst eingewöhnt, zu dem er sich, um einen Gedanken Karl Kerenyis anzuführen, erst erziehen muß. Es ist ein „Licht von innen in flimmernder Helle“ (8. Hymnos). Es ist eine Helligkeit, die das Gegensätzliche aufzeigt, die es beläßt und im Belassen eint und aufhebt. Eine Helligkeit, die zunimmt und nicht verlorengeht. Eine Helligkeit, die Einsicht verleiht in das, was wahrhaft ist: „Selig, wer die Geheimschrift des Makellosen entziffert“ (18. Psalm). Sie ergibt eine plötzliche Hellsichtigkeit, eine „hellsichtige Bewußtheit“, wie sie auf ihre Weise Sappho von Lesbos besaß (so Max Treu in seiner Sappho-Ausgabe, München, 1963). Von den antiken Dichtern ist Sappho die einzige, die von Elytis mit einem ganzen Vers direkt zitiert wird. Die „zehnte Muse“, die Begründerin der „subjektiven Lyrik“, ist auch der einzige antike Autor, den Elytis bisher übertragen hat (Übersetzung unveröffentlicht). Ihr Bewußtsein ist „strahlend wie Sommerfülle“ (2. Hymne), denn sie bekennt: „Ich aber liebe die Fülle: die Liebe zur Sonne hat auch mir dies schöne und leuchtende Los zuteil werden lassen“. Die „Liebe zur Sonne“ ist auch das Schicksal des „Sonnenschlürfers“ und „Sonnenanbeters“ Elytis. Sie ist das Lebensmark seiner Gedichte. Sie hat auch das AXION ESTI hervorgebracht. Denn dieses Werk vermittelt ein überraschend helles, beglückendes Sehen der Dinge, es vermittelt, wie es im Gedichtband SONNE DIE ERSTE (1943) heißt, einen „Blick zur Welt, die entsteht nach dem Maß des Herzens in der Schönheit des Ursprungs“.
Günter Dietz, aus: Odysseas Elytis: Gepriesen sei, Coron-Verlag
– Über den Lyriker Odysseas Elytis. –
aaaaaGEPRIESEN SEI das Licht und das erste
Gebet des Menschen, gehauen in Fels
aaaaaUrkraft des Tiers im Aufbruch der Sonne
Pflanze, die sang, und der Tag erblühte
aaaaaLand, das in Fluten den Nacken erhebt
steinernes Pferd, das reitet der Meergott
aaaaaMyriaden die kleinen Stimmen der Bläue
das große weiße Haupt Poseidons
aaaaaGEPRIESEN die Hand der Gorgonenmadonna
Boot, das sie hält, als ob sie es schütze
aaaaaals ob sie’s den Winden weihe und darbringe
als sagte sie: „Nehmt!“ und behielte es dennoch
aaaaaDer zierliche Reiher der weißen Kapelle
neun Uhr am Morgen wie Bergamotten
aaaaaKiesel geläutert in den Tiefen der See
des klaren Himmels Gärten und Dächer
aaaaaWINDE DIE KÜNDER zelebrierende Priester
erheben das Meer wie die GOTTESMUTTER
aaaaaentzünden und rührn den Orangenbaum
Wind im Gebirg Da erscheinen
aaaaaDie bartlosen jungen Ritter der Sturmflut
Kuriere, die des Himmels Bahnen durcheilten
aaaaaHermesboten mit spitzem Hut
und dunklem Rauch als Heroldzeichen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaMaistros, Levantes, Garbis
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaPounentes, Graigos, Schirokko
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaTramontana und Ostria
aaaaaGEPRIESEN SEI der schmucklose Holztisch
goldner Wein mit dem Mal der Sonne
aaaaaSpiele des Wassers auf spiegelnder Decke
blättriger Eckbaum im Dienst des Tags
aaaaaBänder von Wogen und Steinterrassen
Schritte im Sand, die Weisheit erbrachten
aaaaaZikade, die tausend Antworten schuf
Bewußtsein strahlend wie Sommerfülle
aaaaaGEPRIESEN die mächtige Hitze, die brütet
unter der Brücke auf herrlichen Steinen
aaaaadie Notdurft der Kinder und grüne Fliege
das schäumende Meer die endlose Brandung
aaaaaBoot, das die sechzehn Fischer hinabziehn
unermüdliches Gleiten der Möwe
aaaaaherrenlos frei die Laute der Stille
huschend, an Mauern vorbei, der Schatten
aaaaaINSELN mit Mennig und Ruß bei den Kähnen
Säulenbrocken aus Tempeln des Zeus
aaaaaInseln mit einsamen Werftarsenalen
Sanfte Vulkane in bläulicher Ferne
aaaaaInseln, die fahrn dem Meltemi entgegen
Inseln, die steuern im Tal des Garbis
aaaaaringsum schäumend an den Gestaden
mit blauen Kieseln und Sonnenblumen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSiphnos, Amorgos, Alonissos
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaThasos, Ithaka, Santorin
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaKos, Ios, Sikinos
„Gepriesen sei…“ (To Axion Esti) ist ein dreiteiliges Langgedicht von Odysseas Elytis, das Hauptwerk des griechischen Lyrikers, der im Oktober des vergangenen Jahres den Nobelpreis für Literatur erhielt. Das Gedicht, an dem Elytis mehr als zehn Jahre arbeitete und das 1959 erschien, ist in Griechenland, nicht zuletzt durch eine Vertonung von Mikis Theodorakis aus dem Jahre 1964, außerordentlich bekannt, ja sogar populär geworden. Theodorakis hat es einmal als die „Bibel des neuen Griechenland“ bezeichnet. Und in der Tat kann man To Axion Esti als ein Nationalgedicht ansehen, als eine umfassende Darstellung griechischen Lebens. Natur und Geschichte, Landschaft und Kosmos, Mythos und Religion, Antike und Byzanz, Türkenzeit und Befreiung, Weltkrieg und Bürgerkrieg werden hier in 47 dithyrambischen Gesängen von Elytis beschworen. Aber To Axion Esti ist zugleich ein Weltgedicht. Noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, versucht ein zeitgenössischer Dichter, die Dimensionen des Universums poetisch zu umfassen.
Dies vor allem mag die Schwedische Akademie bei ihrer Nobelpreisverleihung im Auge gehabt haben. Gleichwohl war ihre Entscheidung in mehrfacher Hinsicht überraschend: einmal, weil nicht berühmte Autoren wie Graham Greene oder Doris Lessing ausgezeichnet wurden; zum zweiten, weil der Preis nur 16 Jahre nach Giorgos Seferis erneut an einen Griechen fiel; und zum dritten, weil er dem international wenig bekannten Elytis zuerkannt wurde und nicht seinem sehr viel bekannteren griechischen Kollegen Jannis Ritsos.
Seferis und Elytis haben, bei aller Eigenständigkeit, auch viele Gemeinsamkeiten, beide haben eine spezifisch griechische Lyrik-Tradition mit den Errungenschaften des europäischen Surrealismus zu verbinden gesucht. Dies könnte auch für Ritsos gelten, aber dieser ist zugleich ein Dichter des Volkes, sozialkämpferisch engagiert, immens produktiv, ein Lyriker von Weltrang, der den Vergleich mit Pablo Neruda nahelegt. So kann bei der Entscheidung des Nobelkomitees für Elytis und gegen Ritsos heute, da dieser zum zweitenmal unterlegen ist, ein ideologisches Moment nicht ausgeschlossen werden. Das mag auch Elytis veranlaßt haben, nach der Preisverleihung zu erklären, mit ihm sei nicht ein einzelner Dichter, sondern die ganze griechische Literatur ausgezeichnet worden.
Als Giorgos Seferis 1963 den Nobelpreis erhielt, schrieb der Kritiker der Washington Post: „Ein griechischer Dichter von monumentaler Unberühmtheit bekam den Literatur-Nobelpreis zugesprochen.“ Der Satz ließe sich heute, mit Blick auf Elytis, leicht wiederholen. Wieder einmal wurden die Kommentatoren und Kritiker durch eine Entscheidung aus Stockholm in Verlegenheit gesetzt. Wieder einmal zeigte sich die Enge unseres literarischen Horizonts. Der Begriff „Weltliteratur“ wurde zwar in Deutschland erfunden, aber die weltliterarischen Kenntnisse blieben bis heute gering. Wer sich rasch über Elytis informieren wollte, hatte wenig Glück: nur ein paar Zeilen im Lexikon, ein einziger Artikel im Zeitungsarchiv, ein einziger schmaler Gedichtband auf dem Buchmarkt. Dabei ist Elytis weder ein Außenseiter noch ein Dichter zweiter Größe. Aber er teilt das Schicksal der gesamten griechischen Literatur, jenseits der Landesgrenzen kaum bekannt zu sein.
Die große Ausnahme ist Nikos Kazantzakis. Fast alle seine Bücher wurden ins Deutsche übersetzt, darunter der Roman Alexis Zorbas, der ein riesiger Film-Erfolg wurde. Im Schatten von Kazantzakis stehen die großen griechischen Lyriker des Jahrhunderts: Palamas, Sikelianos und Varnalis, die Altmeister; der formstrenge Kavafis; der erste Nobelpreisträger Seferis; die beiden großen Zeitgenossen Ritsos und Elytis.
Der griechische Beitrag zur modernen Lyrik ist kaum geringer als der französische, italienische oder deutsche. Aber Griechenland ist ein kleines Land, nur wenige Ausländer sprechen die neugriechische Sprache, und die Gedichte der großen Lyriker sind schwer verständlich, schwer übersetzbar und – nach den Kalkulationen der Verleger – schwer verkäuflich.
Doch die Misere, von der hier zu reden ist, hat nicht nur mit ökonomischen Fragen zu tun oder mit der bornierten Egozentrik unseres Kulturbetriebs. Sie reicht tiefer und ist älter. Sie hängt zusammen mit den Voraussetzungen, unter denen in Griechenland Literatur entsteht, und mit den Bedingungen, unter denen griechische Literatur hierzulande rezipiert wird. Der Kritiker Argyris Sfountouris bemerkte: „Es ist schwer, Neugrieche zu sein.“ Das aber heißt: seit Generationen „ist das Bild gemacht“, haben wir eine unverrückbare Griechenland-Vorstellung. Troja und Knossos, Homer und Aeschylos haben darin mehr Realität als Griechenlands zeitgenössische Kultur. Eine versunkene Antike überlagert eine lebendige Gegenwart. Es ist eine fragwürdige Hypothek, aber jeder griechische Autor, Elytis nicht ausgenommen, hat sie zu tragen. Davon wird zunächst die Rede sein müssen, wenn wir einem Dichter wie Elytis gerecht werden wollen.
Goethe, der seine Iphigenie das Land der Griechen mit der Seele suchen ließ, gab das Stichwort. Ob als Land der Seele oder des Mythos, als „Symbol der Menschheit“ oder als Gegenstand des politischen Philhellenismus, Griechenland wurde stets in idealistischer Verklärung, nie in seiner konkreten sozialen und politischen Realität aufgefaßt. Selbst die leidenschaftliche Teilnahme am griechischen Freiheitskampf, etwa bei Hölderlin oder Byron, war vornehmlich ein Instrument der eigenen politischen Bewußtseinsbildung. Als der Wittelsbacher Otto 1832 auf den griechischen Königsthron berufen wurde, erwies sich sein Philhellenismus bald als Schwärmerei für antike Säulen und Statuen. Das neue Griechenland hat auf diese Weise seine eigene, nicht einzuholende große Vergangenheit auf dem Umweg über Europa importiert.
Die Widerstände im Land selber waren nicht groß. Die griechische Intelligenz verstand sich von je als Sachwalter des antiken und byzantischen Erbes. In der Gelehrtensprache, der Katharevoussa, wurde dieses Erbe literarisch konserviert, bis es dann in diesem Jahrhundert, unter veränderten politischen Vorzeichen, zur „neugriechischen Ideologie“ pervertierte, zu dem, was unter den Namen „Griechentum“ (Romiossini) und „griechische Seele“ (elliniki psychi) zum zentralen Thema der Literatur, zum Garanten griechischer Eigenart und Autarkie, der geistigen Besonderheit, wurde.
Nur in scheinbarem Widerspruch dazu steht die Tatsache, daß die griechischen Schriftsteller schon im ersten Drittel des Jahrhunderts durchweg die Volks- und Alltagssprache, die Dimotiki, benutzten. Denn war der Sprachenstreit um Katharevoussa und Dimotiki anfangs ein Streit zwischen Fortschritt und Reaktion, ein Kampf also mit politischen Implikationum, so wurde daraus bald ein Scheingefecht. Das erste große Wörterbuch der Volkssprache entstand ausgerechnet unter der faschistischen Diktatur des Generals Metaxas in den 30er Jahren. Nicht an der Sprache läßt sich, zumal nach 1945, die Grenzlinie von Reaktion und Fortschritt ablesen (wie Vagelis Tsakiridis noch 1968 in der Literaturzeitschrift Akzente meinte).
An der inhaltlichen Orientierung der griechischen Literatur änderte auch die Benutzung der Volkssprache wenig. Die Literatur reflektierte weiterhin die Erwartungen, die Europa an Griechenland zu stellen sich gewöhnt hatte. Die bürgerlichen Schriftsteller – sie allein konnten für die griechische Literatur bis in die 50er Jahre als repräsentativ gelten – vertraten eine unpolitische Haltung, verstanden sich als unabhängig, jenseits der in Griechenland scharf ausgeprägten Klassengegensätze stehend, und indem sie die Wirklichkeit überhöhten, auswichen in die Fiktion eines ewig-unveränderlichen Griechentums, bestätigten sie de fakto das Bestehende und waren oft genug bereit, mit den jeweils herrschenden Mächten zu paktieren. Daher die monotone Reproduktion ideologischer Muster, die pseudogeistige Kulturattitude, die epigonale Fortschreibung antiker Formen.
Das hier Gesagte gilt nicht für bedeutende Autoren wie Seferis, Vrettakos oder Kazantzakis. Hier begegnen wir eher dem Gefühl geistiger Heimatlosigkeit, einer ziellosen, selbstquälerischen Unruhe, die man aber auch als Ausdruck politischer und sozialer Frustrationen interpretieren kann und die – nach einem Wort von Giorgos Tsouyopoulos – „in eine leidenschaftliche Beschäftigung mit Scheinproblemen“ führt. Dies zeigt sich an den Romanen von Venesis und Myrivilis mit ihren liebevollen Schilderungen des Volkslebens, in den Romanen von Prevelakis, in denen die Helden sich aus der schlechten Wirklichkeit in den Mythos flüchten, in der dionysischen Ekstatik von Kazantzakis, dessen Alexis Zorbas – eine Mischung von einfachem Fischer und Übermensch – das griechische Ideal popularisieren half.
Auf den kritischen Leser muß die Leidenschaft, mit der hier um die „griechische Seele“ gerungen wird, befremdend wirken, gerade im Zeitalter des Massentourismus. Die soziale Rückständigkeit wird aber nicht selten gedeutet als Vorsprung des Griechen im Geistigen, als Ausdruck seiner Nähe zum Absoluten, zum Ursprünglichen, zum Mythos, oder anders, historisch, ausgedrückt: zur Antike. Da aber von einer historischen Kontinuität von Alt- und Neugriechenland kaum die Rede sein kann, wird eine geistige und seelische Kontinuität des griechischen Menschen konstruiert. Das Substitut solcher Kontinuität ist die Natur, die griechische Landschaft, in der Zeit und Geschichte aufgehoben scheinen, zumal die sichtbaren Rückstände des Alten, die Säulen und Tempel, die Zeitlosigkeit imaginieren helfen. Das konkrete Elend des Volkes, das sich inmitten der zeitlosen Landschaft begibt, wirkt da schon fast peinlich. Wenn Isidora Rosenthal-Kamarinea, die einflußreichste Vermittlerin griechischer Gegenwartsliteratur in der Bundesrepublik, über die Dichtung von Seferis bemerkte, hier werde „das schwere Schicksal des leidgeprüften griechischen Volkes … zum Sinnbild des ewigen Leids erhoben“, dann wird das Seferis zwar nicht gerecht, aber der daseinsvergeistigende, politischen Inhalten abschwörende Impetus seiner Dichtung kommt einer solchen Interpretation entgegen.
Erst Dichter wie Jannis Ritsos und Kostas Varnalis haben die Hypothek der Antiken-Tradition abzuwerfen versucht. Varnalis, in seiner Jugend ein formalistischer Traditionalist, schrieb später einen Essay, in dem er den Mythos, dieses Zentrum der neugriechischen Ideologie, „als Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Disziplinierung der Massen“ bezeichnete und empfahl, Vokabeln wie „Gott, das Leben, die Natur, das Wahre…“ auf den Müll zu werfen.
Ein Dichter wie Odysseas Elytis ist dieser Empfehlung nicht gefolgt. Er ist ein Dichter der Natur, des Mythos, des Absoluten geblieben, ohne aber dadurch zum epigonalen Traditionalisten zu werden. Er verstand es, mit den traditionellen Formen virtuos umzugehen, nachdem er sich den Einflüssen der europäischen Avantgarde und des Surrealismus geöffnet hatte. Und er hat auch die konkrete geschichtliche Erfahrung seiner Epoche in seine Dichtung hineingenommen.
Odysseas Elytis wurde 1911 in Iraklion auf Kreta geboren, das damals noch von den Türken besetzt war. Schon als Kind kam er nach Athen, wo er die Schule besuchte und 1930 ein Jura-Studium begann, das er jedoch bald aufgab, um sich ganz der Literatur zu widmen. Elytis fand Kontakt zum Dichterkreis der Zeitschrift Nea Grammata, die in den Jahren von 1935-40 ein betont avantgardistisches Programm vertrat. Elytis übersetzte Rimbaud, Lautreamont, Eluard, Ungaretti und Lorca ins Griechische aber auch Majakowski und Brechts Kaukasischen Kreidekreis. Besonders an den französischen Surrealisten schulte er sich, von ihnen lernte er die hochartistischen Methoden. In einer autobiographischen Notiz hat Elytis bekannt, daß erst dieser Einfluß es ihm ermöglicht habe, das eigene lyrische Temperament freizuspielen, alte lyrische Formen aufzulösen und neuartige Bildreihen und Wortschöpfungen zu wagen.
Bereits 1935 war sein erster Gedichtband Prosanatolismoi, auf deutsch: Orientierungen, erschienen, dem ein Motto von Rimbaud vorangestellt war. Vier Jahre später erschien der Band Die Wasseruhren des Unbekannten, der André Breton zitiert. Beide Bände enthalten erstaunlich virtuose und fast schon bedenklich leichtfüßige Landschaftsgedichte von großem koloristischen Reiz. Elytis erweist sich darin als Platoniker, der sich an sonnendurchfluteten Landschaften und schönen Körpern berauscht. In diesen frühen Gedichten finden wir, wie Aris Diktäos schrieb, „die Einheit mit dem Kosmos in einer Empfindung jünglingshafter Frische“:
In vielgestaltigen Kombinationen von Farben aus zerfließenden Wellen, Wolkenfetzen, ägäischem Morgendunst und Mädchenstimmen… gestaltet Elytis seinen Weg, auf dem er sich mit dem Kosmos und seinen heidnischen Göttern vereint.
Zumindest inhaltlich klingt das sehr konventionell, wenn auch die Leichtigkeit und Freiheit, mit der Elytis arbeitet, etwas Neues in der griechischen Poesie war. Nachdenklichkeit kündigte sich in dem Gedichtband Ilios o protos (Sonne die erste) von 1943 an. Elytis hatte damals eine schwere Krankheit und die Erfahrung des Albanien-Krieges hinter sich. Wieder zurück in Athen, schrieb er den Helden- und Klagegesang auf den in Albanien gefallenen Leutnant, der 1945 erschien. Es ist das einzige große Gedicht von Elytis, in dem er auf den konkreten geschichtlichen Augenblick, die Zeit der deutschen Besatzung, Bezug nimmt. Das Gedicht wurde noch während des Krieges in zahllosen Abschriften verbreitet und begründete Elytis’ Ruhm. Der Formkünstler wurde darin zum Dichter der Resistance.
Nach dem 2. Weltkrieg war Elytis zunächst Direktor des Athener Rundfunks, Reisen führten ihn in zahlreiche Länder. Vier Jahre lebte er in Paris, wo er Philologie studierte. Mitte der 50er Jahre kehrte er nach Griechenland zurück, wo er seither verschiedene hohe Ämter in der Kulturpolitik innehatte. Während der sieben Jahre Militärdiktatur unter Papadopoulos lebte Elytis zurückgezogen in Athen. Seit 1960 ließ er in rascher Folge zahlreiche Bände mit Gedichten und Essays erscheinen, einige mit Illustrationen von Picasso, Matisse oder von Elytis selbst. Die wichtigsten Titel: Körper des Sommers (1960), Die Sonne des Sonnenherrschers (1971), Das Monogramm (1972) und der Essayband Offene Karten (1974).
International bekannt wurde Elytis vor allem durch das Langgedicht To Axion Esti, für das er sofort nach seinem Erscheinen im Jahre 1959 den griechischen Staatspreis erhielt. Es ist ein sehr komplexes, vielschichtiges Gedicht, das fast alle Form- und Traditionselemente kunstvoll verbindet: antiken Mythos und byzantinische Liturgie, soziales Pathos und religiöse Mystik, Naturhymnik und surrealistische Bilderwelt. Es handelt sich um ein – im weitesten Sinn – religiöses Gedicht: mit den Worten „Axion Esti“ beginnt die Praefatio der orthodoxen Meßliturgie, so heißt aber auch eine berühmte Ikone der Gottesmutter in der Mönchsrepublik Athos, und schließlich stehen diese Worte auch am Anfang des kirchlichen Preislieds auf die Gottesmutter.
Diesem Preislied entspricht das Gedicht auch in seinem formalen Aufbau. Es ist in drei Teile gegliedert, die „Genesis“, „Passion“ und „Lobgesang“ überschrieben sind. Die Dreiteilung steht sinnbildlich für den Dreischritt der Schöpfungsgeschichte: Reinheit der Schöpfung, Zeit des Abfalls und der Gottesferne, Rückkehr zur Reinheit der Natur. Aber die Dreizahl kehrt auch wieder in der Binnengliederung des Gedichts bis hinein in seine Feinstruktur. Der erste Hauptteil „Genesis“ besteht aus sieben biblischen Gesängen, entsprechend den sieben Schöpfungstagen; der zweite Teil „Passion“ aus 18 Psalmen, 12 Oden und 6 Prosa-Lesungen; der Schlußteil schließlich aus 10 Hymnen. Drei durchgehende Linien werden, wie Günter Dietz, Elytis’ deutscher Übersetzer, schrieb, kunstvoll miteinander verknüpft: die individuelle des Dichters, die nationale Griechenlands und die allgemein menschliche.
Doch was in dieser Darstellung vielleicht wie ein weltgewandter Dichtungskosmos erscheinen könnte, bleibt, genauer betrachtet, auf die konkrete griechische Wirklichkeit bezogen. Schon im ersten Genesis-Gesang wird mit den Worten „Im Anfang das Licht“ eine griechische Landschaft evoziert: Kreta, die Heimat des Dichters; der „breit und stolz ins Meer tretende große Turm“ ist das venezianische Kastell von Iraklion; und wenn es im Gedicht heißt „mit Gewalt… gelöst von den Zinnen fielen… die SIEBEN BEILE“, dann ist hier, am Anfang der „Genesis“, nicht mythisch-geschichtslose Vorzeit gemeint, sondern der konkrete Augenblick geschichtlicher Befreiung: das Jahr 1912. Die sieben Beile waren ein Emblem der türkischen Besatzung auf Kreta.
IM ANFANG das Licht Und die erste Stunde
aaaaaaaaaain der noch die Lippen im Urschlamm
aaaaaaaaaaschmecken die Dinge der Welt
aaaaaGrünes Blut und golden die Knollen im Erdreich
aaaaaWunderbar in seinem Schlaf breitete auch das Meer
aaaaaden frischen ätherischen Flor aus
aaaaaunter Johannisbrot und den hohen Dattelpalmen
aaaaaaaaaaDort lag ich allein
aaaaaaaaaader Welt gegenüber
aaaaaaaaaaund weinte
Meine Seele suchte Signal und Herold
aaaaaaaaaaDa sah ich, ich erinnere mich
aaaaaaaaaadie drei Dunklen Moiren
aaaaaihre Hände nach Osten erheben
aaaaaihren vergoldeten Rücken und den Nebel, der zurückblieb
aaaaalangsam sich lösen
aaaaaaaaaanach rechts Sah Pflanzen in Fülle
aaaaaDie Sonne war mit ihrer Achse in mir
aaaaavielstrahlig in ihrem Rufen Und
sie die Wahrheit, die ich war, vor vielen Jahrhunderten
mitten im Feuer noch frisch, ungeschieden vom Himmel
aaaaaaaaaaIch spürte, sie kam und bückte sich
aaaaaaaaaaüber meine Wiege
Gedächtnis wurde Gegenwart
sie führte die Stimme der Bäume, der Wogen:
aaaaaaaaaa„Dein Auftrag – sprach sie – diese Welt
aaaaaaaaaaund ist dir ins Herz geschrieben
aaaaaaaaaaErkenne sie, müh’ dich
aaaaaaaaaaund kämpfe“ sprach sie
„Jeder hat seine Waffen“ sprach sie
Und hob ihre Hände, wie sie öffnet
ein junger Gott, um Leid zu schaffen zugleich mit Freude.
aaaaaHeruntergezogen mit Gewalt
aaaaaund gelöst von den Zinnen fielen zuerst
aaaaadie SIEBEN BEILE
aaaaaaaaaawie beim Sturmwind auf der Marke Null
aaaaaaaaaawenn Wohlgeruch aufsteigt
aaaaaaaaaavom Ursprung wieder ein Vogel
gereinigt strömte das Blut zurück
die Wahrzeichen trugen menschliche Züge
aaaaaaaaaaSo verständlich das Unbegreifbare
aaaaaDann kamen die Winde zusammen aus meiner Familie
aaaaadie Burschen, gorgonengleich, mit den geschwellten Backen
aaaaamit den grünen breiten Rockschwänzen
aaaaaaaaaaund andere – Greise, bekannte, uralte
aaaaaaaaaalederhäutige und bärtige
aaaaaUnd sie teilten die Wolke zweimal und viermal
aaaaawas zurückblieb, hauchten sie an, schickten es nordwärts
aaaaaBreit und stolz trat ins Meer der große TURM
Die Linie des Horizonts erglänzte
deutlich und dicht und undurchdringlich
aaaaaaaaaaDIES der erste Hymnos.
Mikis Theodorakis, der große Teile aus To Axion Esti von Elytis vertont hat, hat das in 4jähriger Arbeit entstandene Oratorium als die Summe seiner künstlerischen Bestrebung bezeichnet. Er schuf damit eine Form, die er „metasinfonisch“ nannte und in der er die verschiedenen nationalen Traditionen, die religiöse, die folkloristische und die politisch-geschichtliche zusammenfassen wollte. Für das Werk ist ein großes Ensemble aus Sinfonieorchester, Bouzouki-Orchester, Chor, Solosänger und Erzähler vorgeschrieben. In seiner kompositorischen Vielschichtigkeit bleibt es hinter der Dichtung von Elytis nicht zurück. Und da Elytis das Gedicht mit seiner hymnischen Deklamation im Grunde bereits musikalisch konzipiert hat, kommt es zu einer glücklichen Ergänzung.
Auf To Axion Esti treffen jene vier Merkmale zu, die nach Theodorakis für das Entstehen eines modernen Volksoratoriums erforderlich sind: die Vereinigung der Volksmusik mit der zeitgenössischen Dichtung; die Erweiterung des Gedichts zur zyklischen Form; die Entwicklung einer „metasinfonischen“ musikalischen Großform; schließlich die Behandlung eines zeitgeschichtlichen Stoffes auf der Grundlage der Volksmusik.
Den zeitgeschichtlichen Stoff fand Theodorakis im Mittelteil des Elytis-Gedichts. Elytis handelt hier unter der Überschrift „Passion“ von der griechischen Geschichte der Jahre 1940-47: Albanien-Krieg, Weltkrieg, deutsche Besatzung und Bürgerkrieg. Die Darstellung dieser Ereignisse in der Form von 6 Prosa-Lesungen hat Elytis einem Sprecher übertragen: die dritte Lesung etwa berichtet von der Hinrichtung dreißig junger Athener nach einer Demonstration am 25. März 1942, die vierte Lesung von einer Vergeltungsaktion der deutschen SS in einem griechischen Dorf. Daneben stehen Psalmen und Oden, die das Geschehen deuten und geschichtlich überhöhen. Theodorakis, der in der Genesis die komplexeren Mittel der Kunstmusik und der orthodoxen Liturgie einsetzte, verwendet hier vor allem Mittel der Volksmusik: Liedform, Marschrhythmen, Anklänge an russische Chormusik, Bouzouki-Begleitung.
aaaaaES KAMEN
verkleidet wie Freunde
aaaaameine Feinde zahllose Male
traten auf uraltes Land.
aaaaaAber die Erde verband sich nie mit dem Druck ihrer Ferse.
Sie brachten
aaaaaden WEISEN, den GRÜNDER, den FELDVERMESSER
Bibeln mit Zahlen und Schriftzeichen
aaaaaden strengen GEHORSAM, die strikte GEWALT,
das uralte Licht zu regieren.
aaaaaAber das Licht verband sich nie mit dem Dach ihrer Herrschaft.
Nicht eine Biene summte ihr goldenes Spiel
aaaaakein einziger Zephyr blähte die hellen Frauenschürzen.
Sie bauten und setzten
aaaaaauf die Gipfel der Berge, ins Tal, in die Häfen
kraftvolle Burgen, mächtige Schlösser
aaaaaBoote und Schiffe, zu steuern dem Wind;
Gesetze, die ihnen Nutzen brachten,
aaaaawandten sie an auf uraltes Maß.
Aber das MASS verband sich nie mit dem Sitz ihres Denkens.
aaaaaNicht eine Schablone von Gott, die einen Abdruck zurückließ
nicht eine Nymphe blickte nach ihrem Wort.
aaaaaSie kamen
verkleidet wie Freunde
aaaaameine Feinde zahllose Male
brachten die uralten Geschenke.
aaaaaDoch waren ihre Gaben nichts
nur Feuer und Schwert.
aaaaaIn ihren Fingern, die warteten,
nur Waffen und Eisen und Feuer.
aaaaaNur Waffen, Feuer und Schwert.
Der 3. Hauptteil ist ein Preislied auf die reine Schöpfung. Den sieben Hymnen entsprechen sieben Gegenstände: Winde, Inseln, Blumen, Mädchen, Schiffe, Berge, Bäume. Aber auch hier zielt der Hymnus nicht auf eine „heile“ Natur, ein geschichtsloses Jenseits, sondern auf konkrete geschichtliche Utopie, etwa wenn es heißt:
aaaaaGEPRIESEN die Hand, die endlich zurückkehrt
vom gräßlichen Mord, die für immer begreift
aaaaadie Welt in Wahrheit, die unvergleichliche
das Jetzt der Welt und die Ewigkeit…
Drei längere Hymnen vervollständigen den Schlußteil. In ihnen werden Themen und Motive der beiden ersten Teile aufgenommen und zu Ende geführt. Die siebte der insgesamt zehn Hymnen entwirft in bildhaften Paradoxen das Bild und das Selbstbild des Dichters:
aaaaaGEPRIESEN SEI daß du bist der einsame
herbe, längst verlorene DICHTER
aaaaaPOET, der führt mit der unvergänglichen
dritten Hand die scharfe Klinge:
aaaaaDENN ER ist der Tod und er ist das Leben
Er ist die Zukunft und er das Gesetz
aaaaaEr die Linie der Pflanze, die den Leib durchschneidet
Er der Brennpunkt der Linse, die den Geist entzündet
aaaaaEr ist der Durst jenseits der Brunnen und Flüsse
Er ist der Kampf jenseits der Friedensschlüsse
aaaaaEr ist Ion der Wogenbetrachter
Er aller Wunder Pygmalion
aaaaaEr die Zündschnur, an den Lippen entzügelt
Er der Stollen, der Hades überflügelt
aaaaaEr der Räuber der Lust, der nicht gekreuzigte
Er die Schlange, die mit der Ähre vereinigte
aaaaaEr das Dunkel und er die lockende Tollheit
Er aller Lichtregen klarste Frühlingsreinheit
In keinem anderen europäischen Land könnten heute wahrscheinlich noch solche Zeilen geschrieben, ein solches „Bild des Dichters“ gewagt werden. Möglich ist dies allein in Griechenland, wo die Vorstellung vom „trunkenen Dichter“, vom „Dichter als Heros“ niemals ganz verlorengegangen ist.
Der Dichtung von Elytis, aber auch von Seferis und ihren großen Vorgängern, fehlt, so vielfältig sie von Westeuropa beeinflußt sein mag, der Zweifel an sich selbst, die kluge Bescheidenheit, das skeptische Bewußtsein, das schlechte Gewissen. Idealismus und Magie – poetische Eigenschaften, die bei uns sogleich den Ideologieverdacht auf sich ziehen, sie finden wir bei Elytis in einer fast unproblematischen Verbindung. Das macht die Größe, aber auch die Fragwürdigkeit seiner Dichtung aus. Aber sogar wenn es sich um einen Anachronismus handelt, ist er fast bewunderungswürdig. Denn daß es sich um einen Begriff von Dichtung und das Selbstverständnis eines Dichters handelt, die von des Gedankens Blässe kaum angekränkelt sind, das geht auch aus den Sätzen hervor, die Elytis selber über seine Lyrik geschrieben hat:
Ich betrachte die Lyrik als eine Quelle kämpferischer UNSCHULD, die ich in meinem Bewußtsein gegen eine schuldige Welt richte, um diese unter ständigen Verwandlungen so umzuformen, daß sie mit meinen Träumen im Einklang steht… Ich hoffe, daß ich so eine Gerechtigkeit am Leben erhalte, die mit dem absoluten Licht identisch ist.
*
aaaaaJetzt der Erde Begrenzung und der Mächtigen strikte Gewalt
ewig die Speise der Seele und der fünffache Wesenshalt
aaaaaJetzt das Fleckfieber des Monds mit seinen heillosen Malen
Ewig der Milchstraße Gold und ewig ihr bläuliches Wallen
aaaaaJetzt der Völker Vermengung und jetzt ihre dunkle Zahl
Ewig die Säule des RECHTS und ewig des AUGES Strahl
aaaaaJetzt der Götter Erniedrigung, des Menschen versinkende Asche
Jetzt ist das Nichts
aaaaaaaaaaaaaaaund Ewig die Welt die kleine die GROSSE!
Hanjo Kesting, die horen, Heft 117, 1. Quartal 1980
Aus dem Griechischen übertragen von Isidora Rosenthal-Kamarinea
Von meiner Wohnung im Athener Kolonaki-Distrikt aus kann man den Sonnenuntergang hinter der Akropolis beobachten, wenn die Stadt aus ihrer Siesta erwacht und die Auspuffgase der Autos im Abendlicht eine große Wolke an den Himmel hängen, die alle Häuser der Skoufa-Straße und den Berg Hymettos in weinrotes Licht taucht. Man hat mich gefragt, ob es mir nicht schwerfalle, in dieser großstädtischen Atmosphäre Gedichte über die Ägäischen Inseln zu schreiben. Darauf kann ich nur erwidern, daß ich nicht unmittelbar vor mir zu sehen brauche, was ich schildern will. Ich leihe mir die Bilder aus meiner Einbildungskraft.
Manche Leute beobachten, andere lesen. Ich benutze meine Phantasie und komponiere im Geist die Eindrücke, die ich auf meinen Reisen durch Griechenland sammle. Häufig setze ich die Phänomene der Natur symbolisch ein. Ich wende mich an die Natur, um die Quellen der Mythen zu entdecken, die mein Volk seit Äonen geschaffen hat.
Als ich in meiner Jugend die alten Gedichte von Archiolcos und Sappho las, ging mir auf, daß beide – obwohl sie mehrere tausend Jahre vor mir gelebt haben – in vieler Hinsicht von den gleichen Voraussetzungen begonnen hatten wie wir Heutigen. Sie griffen beim Erschaffen ihrer Mythen auf die gleichen Quellen zurück – nämlich auf die Zeit. Wörter wie „Sommer, Baum, Mädchen“ hatten eine Bedeutung, die unmittelbar mit dem Gefühl verbunden war.
Sonne und Licht sind schon immer zentrale Begriffe in meinem Land gewesen. Die klare Sonne war Symbol der Gerechtigkeit und Unbeflecktheit. Ich versuche, nun, materielle Dinge ethisch und moralisch „aufzuladen“. In dem Gedicht „Axion Esti“ schreibe ich: „Ich gieße Limonensaft über mein Gewissen.“ Zitrusfrüchte gedeihen üppig in Griechenland. Die Limone oder Zitrone ist antiseptisch, und wie manche Leute Zitronensaft ins Wasser gießen, um es zu desinfizieren, so gieße ich den Saft in mein Gewissen, um es zu reinigen. Auf diese Weise lade ich materielle Dinge mit moralischen Kräften auf.
Man hat mich oft gefragt, ob ich ein Naturlyriker sei. Das bin ich bestimmt nicht im Sinn eines Anbeters der Natur. Ich will vielmehr die gefühlsmäßigen Analogien der verschiedensten natürlichen Phänomene festhalten. Für uns Griechen eröffnen meiner Meinung nach Wörter wie „Olive, Sonne, Meer“ ganz andere Aussichten als für Nordeuropäer. Uns ist das Meer nahe und vertraut. Ich habe es in meinen Gedichten oft mit einem Garten verglichen.
Ich glaube überhaupt, daß die Natur im menschlichen Leben eine überwältigende Rolle spielt, die leider in den technokratischen Gesellschaften des Westens verdrängt wird.
Mein Tagesablauf ist streng nach Routine eingeteilt und ganz der Arbeit gewidmet. Was die Geselligkeit betrifft, bin ich am liebsten mit jungen Menschen zusammen. Nur so kann man begreifen und begriffen werden. Mit Leuten meines eigenen Alters finde ich schwer Kontakt. Irgendwo habe ich gelesen, daß Menschen über vierzig sich kaum noch jung erhalten können. Ich hoffe, daß ich eine Ausnahme bilde.
Warum – ich zitiere wiederum eine Frage gibt es so viele große Dichter in einem so kleinen Land? Nun, geographisch haben wir zwar nur eine kleine Fläche, aber dafür eine viel größere „historische Fläche“. Im Verlauf von Jahrhunderten hat das griechische Volk gelernt, sich durch Dichtung auszudrücken. Seit den Tagen Homers hat es vor allem in Gedichten und Volksgesängen gelebt. Das ist für uns ein riesiges kulturelles Erbe geworden. Der heutige griechische Dichter kann aus einem unendlichen Fundus schöpfen, und er kann in vielen linguistischen und historischen Tonarten spielen. Das Erbe gibt dem Dichter aber auch Verantwortlichkeiten und Probleme auf, die es in anderen Ländern vielleicht nicht gibt.
Ein wichtiger Unterschied zwischen damals und heute ist, daß das Griechische früher eine internationale Sprache war. Dichtung war auch eng mit der Musik verbunden. Diese Bindung hat sich im Laufe der Jahrtausende gelöst. Seit einigen Jahrzehnten jedoch bahnt sich eine Umkehr an, und es gibt wieder engere Beziehungen zwischen Komponisten und Dichtern.
Als ich 1962 Axion Esti veröffentlichte, hatte ich das Gefühl, daß Mikis Theodorakis, der beste oder zumindest dynamischste Komponist, den wir haben, auf seinem Gebiet vor dem gleichen Problem stand wie ich: Er suchte nach einer neuen musikalischen Form, die auf der populären Tradition basierte, aber die symphonischen Fortschritte des Westens einschloß. Theodorakis hat mir selbst gesagt, daß gerade zu diesem Zeitpunkt die Veröffentlichung eines poetischen Werks, das seinen Absichten entgegenkam, ihm sehr geholfen habe. Dank seiner Musik wurde Axion Esti innerhalb kurzem zum Eigentum des ganzen griechischen Vokes. Durch seine Musik erreichte die Dichtkunst wieder das Volk.
Wie waren meine Gefühle, als ich erfuhr, daß mir der Nobelpreis verliehen worden war? Es wäre eine Lüge, wenn ich sagte, es hätte mich nicht bewegt. Inzwischen fühle ich mehr Genugtuung als Freude. Ich habe nie nach offiziellen Ehrungen gestrebt. Ich habe jahrelang in meiner kleinen Wohnung gesessen und gearbeitet. Ich danke der schwedischen Akademie dafür, daß sie trotz aller Hindernisse sprachlicher und anderer Art zu dieser Entscheidung gelangt ist – und zwar deshalb, weil ich sie als eine Auszeichnung für das gesamte griechische Volk sehe.
Große Freude hat mir auch bereitet, wie meine Landsleute die Verleihung des Preises begrüßten. Ich habe unglaublich viele Telegramme, selbst aus den kleinsten Dörfern, von Leuten bekommen, die das Gefühl hatten, sie seien persönlich belohnt worden. Das griechische Volk hat jahrhundertelang schwer gelitten, ohne je belohnt zu werden. Wie ich in Axion Esti geschrieben habe: „Ich habe nie eine Belohnung erhalten, man hat mich immer ungerecht behandelt.“ Deshalb bereitet mir auch die kleinste Anerkennung solche Genugtuung, daß meine Freude über die Freude meines Volkes größer ist als meine eigene.
aaaaaGEPRIESEN SEI die grundlose Träne
die langsam aufgeht in schönen Augen
aaaaaJugend, die fühlt, deren Hände sich finden
der Blick zueinander und helles Schweigen
Odysseas Elytis, die horen, Heft 117, 1. Quartal 1980
(Aus dem Griechischen übertragen von Isidora Rosenthal-Kamarinea)
Danae Coulmas: „Mein Himmel ist tief und unaustauschbar“. Odysseas Elytis – der Schöpfer eines neuen griechischen Mythos, Merkur, Heft 401, November 1981
Asteris Kutulas erinnert sich an seine Besuche bei Odysseas Elytis
Manuel Gogos: Der Schaumgeborene
Neue Zürcher Zeitung, 5.11.2011
Hansgeorg Hermann: Kämpferische Unschuld
junge Welt, 2.11.2011
Odysseas Elytis: AXION ESTI in einer Version von Mikis Theodorakis im Lycabetus Theater in Athen im August 1977.
“Da aber von einer historischen Kontinuität von Alt- und Neugriechenland kaum die Rede sein kann, wird eine geistige und seelische Kontinuität des griechischen Menschen konstruiert. Das Substitut solcher Kontinuität ist die Natur, die griechische Landschaft, in der Zeit und Geschichte aufgehoben scheinen, zumal die sichtbaren Rückstände des Alten, die Säulen und Tempel, die Zeitlosigkeit imaginieren helfen. Das konkrete Elend des Volkes, das sich inmitten der zeitlosen Landschaft begibt, wirkt da schon fast peinlich.”
Mit fallmerayischer haltloser Polemik setzen Sie sich auf eine Stufe mit der Propaganda der Nationalsozialisten und den deuschen Medien welche solche Lügen entgegen aller Fakten bis heute vertreten. Elytis beschreibt sehr wohl auch die (nicht von ihm konstruierte) historische Kontinuität der Griechen welche von der geistigen und seelischen nicht zu trennen ist.
Auszug über Fallmerayer aus der Wikipedia: “Hochumstritten war seine unabhängig davon später aufgestellte These, dass die antiken Griechen ausgestorben seien und durch Slawen und Albaner verdrängt wurden. Die These gilt als wissenschaftlich widerlegt und wurde in der NS-Propaganda als Rechtfertigung für die Verbrechen während der Griechenland-Besetzung instrumentalisiert.”
Peinlich…