KARO HEMDEN
von einem Herbst tanze
ich in den nächsten
meine Sarg und Sänger Zeit
mein Tonights the Night meine
Äpfel und Kastanien
Jean Paul ist im Dorf will
Zeit verbringen unterm
Zug der Nachtgänse im Haus
der harten Mutter
wir wollen Geschichte nicht enden
nicht abschreiben den immer gleichen
Mist wer hier geht hat andere
Ziele
riecht manchmal noch die Ställe
die Sudkeller das alte Karohemd
des Nordwestens
Ich glaube, es war gegen Ende der achtziger Jahre, als ich Olaf Velte kennen gelernt habe. Während einer Veranstaltung im Frankfurter Literaturbüro las der Autor Gedichte, wenn ich mich recht entsinne, aus einem Band, den der damalige Germanistikstudent kurz zuvor im Selbstverlag herausgebracht hatte. Ich besitze das Buch nicht, es ist auch weder liefer- noch auffindbar, ich kann also jene frühen Texte nicht nachlesen. Ich erinnere mich nur, dass die Gedichte, die der Autor vortrug, mir auf eine gewisse Art „doppelstimmig“ vorkamen.
Es waren Gedichte, die einerseits in die damalige „Szene“ passten. In die Szene einer Stadt, die noch ein Ort der späten Achtundsechziger und schon die Stadt der Banken war. Literatur war eine eindeutig urbane Angelegenheit. Weitläufigkeit und Weltoffenheit passten nur zu Metropolen, nicht zur Provinz. Dem Konservativismus des Bürgerkünstlers stellten „die Jungen“ ihre Vorstellungen von dem entgegen, was sie für das „richtige Leben“ hielten. Man hinterfragte den überlieferten Kanon, man sprengte überkommene Formen und lieh sich neue von anderswo aus, man ging nicht in die Alte Oper sondern in die Batschkapp, man unterhielt sich nicht gepflegt beim angesagten Italiener sondern man diskutierte und stritt erbittert im Club Voltaire. Formale Anleihen bei den amerikanischen Poeten der Beat Generation waren häufig, Rolf Dieter Brinkmann glomm in den Texten der Jüngeren nach. Was „angesagt“ war, passierte nicht im Vordergrund der mondänen Buchmesse, sondern im Untergrund, in Magazinen wie dem Kozmic Blues (benannt nach einem Song von Janis Joplin) oder im Holunderground des verstorbenen Hadayatullah Hübsch.
Auch Olaf Veltes frühe Texte passten in dieses Generationsmuster. Einerseits. Und wäre sein Leben anders verlaufen – wer weiß, ob er nicht heute, im Erfolgsfall, zu den Allgegenwärtigen des Literaturbetriebs gehörte. Seine Berufsbiographie beginnt er jedenfalls mit den typischen Schritten des jungen Intellektuellen, der einen, seinen Platz im Kultur- und Medienbetrieb sucht. Er hat studiert, am Frankfurter Schauspiel hospitiert und in Verlagen und Zeitungsredaktionen gearbeitet.
Es sollte aber anders kommen. Der heute gut fünfzigjährige Olaf Velte ist nicht in der Metropole (als die man Frankfurt mit sehr viel Wohlwollen bezeichnen könnte) ansässig geworden; er verdient seinen Unterhalt nicht unter der Käseglocke des Kultur- und Medienbetriebs (auch wenn Zeitungsarbeit ihm bis heute wichtig ist), sondern als „Betriebsleiter der väterlichen Schafzucht“. Bei den landauf, landab stattfindenden Lyrikfesten und Kulturparties trifft man ihn nur selten. Seine Weltläufigkeit stellt er nicht mit Vorträgen über seine ästhetischen Methoden und deren Verbindungen mit der dominierenden Literatur unseres Zeitalters, sprich: der amerikanischen Literatur unter Beweis. Wer ihn um Auskunft über Person und Werk bittet, bekommt, was er verdient:
Nein
keine Fragen zu
Herkunft Abstammung
nichts von Vorlieben
Steckenpferden Zielen
Götter zuhauf
die Wälder Bäume
Vögel
das bisschen Leben
wie Musik
Wie schon gesagt: Die Gedichte von Olaf Velte kamen mir schon vor über zwanzig Jahren irgendwie „doppelstimmig“ vor. Auf der einen Ebene waren es Kompositionen in der Tonart einer, seiner Generation, in ihnen sprach der Autor in Inhalt und Form zu und mit dieser Generation: urban, verwurzelt in der Jugendkultur der Zeit, geschmeidig. Doch auf einer anderen Tonspur meinte ich damals schon etwas zu hören, was anders war. Dieses Andere war nicht geschmeidig, sondern sperrig; nicht intellektuell, sondern authentisch; nicht geleitet von Ironie, sondern begleitet von Pathos; weltoffen nicht im Sinn des Mondänen, sondern in dem der Existenz. Auf der einen Tonspur spricht der Autor als Repräsentant eines Wir, seiner Generation, zu „den anderen“, die sich ebenfalls vorrangig als Repräsentanten eines Wir, ihrer Generation, verstehen; und auf der anderen Tonspur spricht der Autor, ein Mensch, ein Ich – zu den anderen, zu Menschen, und jeder dieser Menschen ist ein Anderer und, ebenso wie der Autor, ein Ich.
Ich habe hier Gegensatzpaare hingestellt, die es, wenn es um wirkliche Kunst geht, gar nicht gibt. Ein Kunstwerk ist immer geschmeidig und sperrig; intellektuell und authentisch; ironisch und pathetisch; der Welt und der Gegenwart zugewandt und im Existentiellen verwurzelt; von einem Ich kommend, das es für sich allein gar nicht geben kann, und an ein Wir gerichtet, das ohne ein Ich gar nicht gedacht werden kann.
Ein weiteres Gegensatzpaar wird gern bemüht, wenn es um Autoren wie Olaf Velte geht: „das Kosmopolitische“ und „die Provinz“. Weltläufigkeit, Offenheit, Modernität wird zumeist nur dem Kosmopoliten zugetraut; jedenfalls denkt man das Adjektiv „kosmopolitisch“ nie als Schimpfwort, ganz im Unterschied zu „provinziell“. Dass dies ein intellektueller Trugschluss ist, liegt dabei auf der Hand. Einige der größten Romane von Tolstoi und Dostojewski spielen eben nicht in Moskau oder Petersburg, sondern in der russischen Provinz. Walt Whitmans Leaves of Grass formen nicht den intellektuellen Kitsch der mondänen Salons von Manhattan, sondern den Geist, den nur erahnt, wer einmal die menschenleere Weite etwa des Mittleren Westens durchstreift hat.
Dem Thema „Provinz“ hat Olaf Velte in diesem Gedichtband gleich drei Gedichte gewidmet. Das dritte davon beginnt so:
mein Glück
ist mir unheimlich
(…)
Um was für ein Glück es sich da wohl handeln mag? Das Leben in der Provinz, auf dem Land („im Land / regieren Regen Schimmel / ein mörderisches / Gemisch“) – wie kann es Glück bereiten, wenn auch ein unheimliches? Und warum wohl schreibt einer Gedichte „über Hessen“? Doch nicht nur, weil der Zufall ihn hier das Licht der Welt hat erblicken lassen? Und sind die Gedichte, die auch im Titel explizit auf Orte in Hessen Bezug nehmen („Kirdorfer Dom“, „Jenseits des Limes / Niemandsland“, „Haubergsgrund“, „Usinger Land“, „Zur Capersburg“), wirklich Gedichte, die das Lokalkolorit einer Ortschaft oder eines Landstrichs, und nicht mehr, mit den Mitteln der Lyrik nachbilden – also, um es mal deutlich zu sagen, „Heimatgedichte“? Ich könnte es mir einfach machen und sagen: Jedes wirklich gute Gedicht ist ein Heimatgedicht. Es ist ein Gedicht, das das Da-Sein (dort, wo man ist) feiert oder beklagt.
Olaf Veltes Gedichte sind aber nicht einfach, man kann nicht mit Begriffen aus Schubladen über sie sprechen. Vielleicht sind seine Gedichte tatsächlich Heimatgedichte. Dann aber handelt es sich bei seiner Heimat nur vordergründig und sozusagen rein zufällig um eine ländliche Gegend irgendwo im Hessischen; Olaf Veltes Heimat ist der Ort, wo er ist. Nicht nur der äußere, der geographische – aber auch nicht nur der innere, der geistige Ort. Die Beschreibung des einen, des äußeren Ortes wäre die Reportage – und die Beschreibung des anderen wäre ein lntellektuellenreport. Es kommt mir vor, als sei Veltes Heimat der Ort, an dem er nicht allein ist; und gleichzeitig der Ort, den er physisch und moralisch durch sein Da-Sein verändert. Seine Heimat ist also die Welt. Sein Da-Sein in der Welt teilt er mit anderen. Mit Menschen, mit Tieren, mit Wörtern. Menschen, Tiere und Wörter: Sie werden geboren, in die Welt gezerrt oder gesetzt – und sie sterben, sie verschwinden, schreiend oder lautlos, meist unter Schmerzen. Olaf Veltes Gedichte handeln also vom Glück und vom Unglück des Daseins. Für ihn, und nur für ihn, hat es eine besondere Bedeutung, dass dieses Dasein im Hessischen verortet werden kann. Für uns, seine Leser, ist das Hessische eine notwendige Kulisse – nicht mehr. Das ist Heimat, schwer auszuhalten zumeist, dass immer beides da ist, dort, wo wir sind: Glück und Unglück. Es gibt ein Gedicht von Velte, das vordergründig von seiner Arbeit als Schafzüchter handelt. Der Titel lautet „Die ewige Schur“. Es handelt, noch einmal, von etwas, was wir mit Schafen tun:
vor einer Woche haben wir
Schafe geschoren
je in jedes mit seiner Nummer
bemalt
(…)
vor einem Jahr haben wir
Schafe geschoren
jede Nummer mit einem Kuss
gesegnet
let me be your shelter from
the storm outside
Man kann das Gedicht aber auch anders lesen als einen Bericht über den Arbeitsvorgang eines Schäfers. Der Mensch ist ein Wesen, das andere Wesen vor dem Schlachten mit seiner Nummer bemalte:
let me be your shelter…
Ich kann mir vorstellen, dass Olaf Velte manchmal, „als Autor“ sozusagen, gefragt wird, „was zur Schäferei gehört“. Die Antwort darauf gibt er, mit Wahrhaftigkeit und Ironie, in einem Gedicht, das aus nichts als der Auflistung von Wörtern besteht (siehe Seite 22). Auch was zum Schreiben gehört: nichts als Wörter. Und dennoch: Die Arbeit, als Schäfer wie als Dichter, hat etwas zu tun mit der Aufgabe, den Geschöpfen, mit denen wir leben (Menschen und Tiere), einen Ort für ihr Dasein zu geben. Im Stall, in der Sprache. Auch die Welt, die sogenannte große Welt ist ein Stall, voll von Kreaturen, die Trost brauchen nach der ewigen Schur und in der Ahnung der Vergänglichkeit.
Olaf Veltes Gedichte legen Zeugnis ab von der Vergänglichkeit all dessen, was ist; von der Verletzlichkeit der Kreatur (auch von der des Menschen). Sie öffnen den Blick für das, was den Menschen mit dem Geringgeschätzten seiner Welt verbindet. Sie „halten“, um es mit den Worten des Dichters zu sagen, „was zu versinken droht“. Sie sind gleichzeitig Zeugnis einer Auflehnung gegen diese Vergänglichkeit, also Verlautbarungen eines Dichters, der seinesgleichen sucht. Zum Beispiel in einem der schönsten Gedichte dieses Bandes. Sein Titel verrät, welchen Dichter, seinesgleichen, der Dichter Velte besucht:
MITTE DES LEBENS
auch ich ein Friedhof
unter einigen Bäumen
ach was Schmerz und
Schreck
nur die Taghelle bleicht
das bisschen Leib
redet von großer Aufwallung
Werner Söllner, Januar 2013, Nachwort
– Olaf Veltes ganz ohne Betulichkeit hessen- und heimatverbundene Gedichte in zwei kleinen Bänden thematisiert ewige Zyklen. Die Landstücke des Autoren sind nah an der Vergänglichkeit. –
Usinger Land, Capersburg, Kirdorfer Dom, der Limes und das Fachwerk: Olaf Veltes Gedichte, Werner Söllner weist in seinem schönen Nachwort zu einem weiteren Band darauf hin, sind hessenverwurzelt. Man könnte sie Heimatgedichte nennen, hätte das Wort nicht so einen falschen Beigeschmack, von Nostalgie und Betulichkeit. Das aber sind sie gar nicht, vielmehr werfen sie scharfe Blitzlichter auf das Leben auf dem Land, auf seine Mühen, seine Rauheiten und sein Sterben. Weit weg ist mittlerweile für die allermeisten in Deutschland lebenden Menschen, wovon Olaf Velte so knapp und doch so eindrücklich spricht. Etwa in „Opferfest“:
nicht zu vergessen den
roten Eimer klebrig und
wie er sich füllt
Am Ende sind da „die Beine gehackt ein / kleiner Berg für viele / Tage Suppe“.
Velte, Jahrgang 1960, arbeitet als Landwirt (in der Schafzucht) und als Journalist, die Leser dieser Zeitung werden seinem Namen schon begegnet sein und weiter begegnen. Er schreibt auch Essays und Erzählungen. Und er schreibt Gedichte, weiß Gott, wo er die Zeit dafür hernimmt. Mit der Axt heißt der schmale, bei der Stadtlichter Presse erschienene Band, für den der Schriftsteller Werner Söllner das Nachwort geschrieben hat. Die (hessische) Landschaft spielt darin eine Rolle, das „bisschen Mittelgebirge“, die „Furt aus Steinen“, „zerstobnes Gras“ und die „nassen Wiesen“, das summende Wespennest unter dem Gebälk, die Wildsau und die Bauernversammlung, der „Schlangensommer“. In der Stadt mag man leicht vergessen, dass das Gegenwart ist. Aber auch daran erinnert Olaf Velte, wenn im Gedicht „Die ewige Schur“ der Elektromotor auftaucht, das unbestimmte Musikgerät, aus dem Maria McKee singt.
Von den ewigen Zyklen handelt dieses Gedicht in all seiner Kürze, vom Rhythmus des Schafe-Scherens, das eine Woche oder ein Jahr zurückliegt, sich aber gewiss wiederholen wird. Die Landstücke des Olaf Velte sind nah an der Vergänglichkeit. „Fäulnis wächst“, heißt es einmal.
(…)
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