SAHEN WIR AUF VOM BODEN DER NACHT
1
… war die gesamte Himmelswölbung wie eine einzige
schütter gedrehte Zigarette –
halbleer, halbvoll,
und eine Welle von dünnem Rauch kroch,
ungleichmäßig gebogen in gleichen Streifen,
und von oben kamen Funken geflogen…
2
oder nein:
… war das gesamte Himmelsgehölz ein einziger
Zweig, gleichmäßig gebogen in ungleichen Streifen,
auf ihm lag eine schüttere Rose:
der Mond, entwölkt / enttarnt,
aber dunkel von innen,
und Dornen kamen geflogen.
Übersetzung: Elke Erb
– Zu den Gedichten von Oleg Jurjew. –
Bislang kannten wir Oleg Jurjew, der 1959 in Leningrad geboren wurde und seit 1991 in Frankfurt am Main lebt, als Verfasser eigenwillig-großartiger Romane wie Der Frankfurter Stier (1996), Halbinsel Judatin (1999), ,Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und Greise (2003) und Die russische Fracht (2009). Nicht entgangen ist uns auch sein „kleiner kaleidoskopischer Roman“ mit dem poetischen Titel Spaziergänge unter dem Hohlmond (2002) und sein auf Deutsch geschriebener Essayband Zwanzig Facetten der russischen Natur (2008). Aber der Lyriker tauchte nur da und dort in Zeitschriften auf und – wie beiseite gesprochen – in der schmalen Gedichtauswahl Von Orten. Ein Poem (2010), während Jurjew in seiner Heimat vor allem als Dichter und Dramatiker wahrgenommen und hoch geschätzt wird.
Russische Kritiker betonen die Eigenständigkeit seiner poetischen Welt, die keinen Schulen und Traditionen verpflichtet sei (wobei Jurjew 1984 mit drei Kollegen die Leningrader Dichtervereinigung Gepäckaufbewahrung gründete), sie ergehen sich in Analysen seiner Sprache, die – anschaulich und metaphernreich – alle Stilregister (vom kolloquialen bis zum erhabenen Ton) bedient. Das klingt vertraut. Denn Jurjew brilliert auch in seiner Prosa mit enormem Sprachreichtum, zu dem originelle Wortneuschöpfungen ebenso gehören wie ironische Verfremdungen von Redewendungen und Floskeln.
Die Sprache, das steht fest, entfaltet bei Jurjew ein Eigenleben. Bevor wir uns die Frage stellen, wovon seine Gedichte handeln (wenn Gedichte überhaupt von etwas handeln), sind wir verblüfft und berührt von ihrer sprachlichen Gestalt. Unsere Aufmerksamkeit heftet sich an einzelne Worte, Formulierungen, wir geraten in den Sog einer Suggestion, die durch Rhythmus und Reim noch verstärkt wird. Manche Zeilen sind verführerisch schön, schiere Wortmusik, bis uns ein Name, eine unüberhörbare Anspielung auf den Boden der Semantik zurückholt oder eine kratzbürstige Wendung verstört. Hingabe an den Sound wird pariert durch Vertracktheiten: Jurjew hält sich nie an das Offensichtliche, er zerkämmt die Dinge, zaust und zerwühlt sie, frisiert sie neu. Manchmal gebärdet er sich auch unverschämt, mit frivoler Respektlosigkeit, um dem poetischen Stoff neue Funken zu entlocken.
Welchem Stoff? Viele Gedichte Oleg Jurjews gleichen Naturgedichten, schildern Orte, Bäume, Himmel und Erde, Wolken und Schnee, freilich auf aufregend ungewöhnliche Art. Allein schon die Metamorphosen des Mondes verzaubern: Das von der Romantik gehätschelte Gestirn erlebt bei Jurjew mannigfache ironische Verwandlungen. Der Mond ist „gehärtet“ verdünnt“, „entwölkt“, „enttarnt“, ist „himmlisches Spiegelei“, „angenagter Hartqark“ und „der Gestirne Gurkennuss“, er „grünelt auf der lichtlosen Ebene der Wolken“ und „seiht hinunter auf die Erde“, bis die Bäume ihn austrinken, als „Gewehr“ steht er „unter den tiefgehängten Sternen“. Nicht weniger facettenreich ist der Himmel selbst: er „hat jüdische Adern“ und „trägt Zigeunertand“, ist „versteinertes Delta“, „Himmelsseide“ und „Himmelsgehölz“, während „die gesamte Himmelswölbung wie eine einzige schütter gedrehte Zigarette“ erscheint.
Klischees erleiden bei Jurjew Havarien – zugunsten frischer Anschaulichkeit. Ein Meister des Sehens, belebt er das Unbelebte, bewegt er das Reglose, verfremdet er das Gewohnte. Nur bei Jurjew gibt es „Eidechsenhautplatanen“, „achtflügelige Hinkelibellen“, Zikaden als „Gottnähmaschinchen“ und „die Kampfkutsche Hummel“, nur bei ihm finden wir „August-Pulver“, „Rebenfurchen-Dunkel“, ,,Wattesterne“ und ,,Albigenserfichten“. In seinen Versen führen Bäume wie „blasse Bajonette“ einen „Feldzug“ im Winter, Pferde mit „Traumlinsen“ weinen, „da wo die käsige Nacht klar wird“. Elektrisierend das Feuerwerk der Metaphern, und immer wieder frappant, wie Dinge (Situationen, Stimmungen) ins Groteske verzerrt werden. Die unverfängliche Natur reizt dazu ebenso wie flüchtige Straßenszenen, als lauerte hinter allen Erscheinungen ein bitterer Kern.
Dieser Bitterkeit (Bedrohlichkeit) wäre auf den Grund zu gehen. Jurjew, als Kind jüdischer Eltern in der kommunistischen Sowjetunion aufgewachsen, weiß um ein doppeltes Stigma, sein Heimatbegriff ist mehr als angekränkelt. Illusionen macht er sich weder in Bezug auf Menschen noch auf den Lauf der Geschichte, ein tief sitzendes Gefühl des Misstrauens trifft in ihm auf eine metaphysische Sehnsucht. Solche emotionale Gemengelage bringt zwangsläufig Komplexes hervor, um in der Sprache der Lyrik zu bleiben: oxymoronische Mischungen. Süßes und Bitteres, Groteskes und Elegisches, Ironisches und Sentimentales gehen ungewohnte Verbindungen ein. Nicht selten vor dem Hintergrund einer bestimmten Form oder Tradition (wie der Ode oder dem Chor der antiken Tragödie), mit denen Jurjew ein subtiles Vexierspiel treibt.
Ich wünschte mir die grünen Sterne
seufzten im Flaum der Nacht,
und ich wünschte, die grauen Berge
von der bebenden Glutnaht auf ihnen entfacht
doch Schwarzpulver rieselt als schütterer Schatten,
herab aus den Wolkengoldkronen:
Diese Welt wird unterworfen von oben
wo im Himmel das Tosen und das Nachgrollen wohnen
mit den Flugzeugen, die wie mit Scheuklappen glosen,
und der Blasmusik von dem Zur-Nacht-Bestatten…
So lautet die erste Hälfte des Gedichts „Ode“, das in altertümlich verfremdetem Tonfall moderne Bedrohung und den Wunsch nach ihrer Vernichtung beschwört. Im zweiten Teil reiben sich Groteske und heimliches Lamento und bringen die Erhabenheit der Gattung in Schieflage:
Der angenagte Hartquark, der Mond,
der Gestirne Gurkennuss
bleiben hängen in den Hebewerkgattern
der unhebbar gestaffelten Flüsse;
die Roste schnattern,
Räderchen hüsteln,
und jemandes Zug überquert den Fluss
die Schneise entlang durch die schwarze Röhre;
der Fluss aber macht mit dem Durchlassen Schluss
und winkelt sich ab in die bitteren Meere
Je tiefer wir in Jurjews poetischen Kosmos eindringen, desto spürbarer wird sein herber Grund. Hinter der betörenden Vielfalt der Erscheinungen verbirgt sich ein fundamentaler Mangel, der am Glauben nagt und die Hoffnung vergiftet. Freilich inszeniert Jurjew diese Ernüchterung mit Verve und Leichtigkeit, als eine Trotzdem-Hommage an die Sinne, wie etwa das Gedicht „Frauen nachts, mit Brillen“ zeigt:
Diese Frauen nachts, mit Brillen,
medusenäugig,
schreiten in Wölkchen aus Licht,
als deren dunkle Kerne –
ihr feines, feines Haar in der Glut,
die Lippen zum Kniff geformt,
und gekleidet – wie in eine Säbelscheide –
ihre Beine ins Schwarz der Stiefel,
ihre Arme – röter als dieses Schwarz –
greifen in ihrem Glanz nach mir:
aus den Dreiecken der Alleen
gehen sie hinaus in den Erdkreis,
erlöschen
Dieser ergreifende Schluss reißt zeitlich-räumliche Dimensionen auf, in einer Jähheit, wie wir sie von Joseph Brodsky kennen. Doch die Zeit ist nicht Jurjews Thema, mag er auch da und dort ins Frankfurt von 1840, zu Vergil oder in die Leningrader 60er Jahre abschweifen. Anders als Brodsky sinniert er selten über die Vergänglichkeit, über die Historie mit ihren Zufällen und Gesetzmäßigkeiten; es sind vor allem Jetztbilder, die ihn umtreiben. Jurjew reagiert auf seine Umgebung, auf Orte zu bestimmten Tages- und Nachtzeiten. (In seinem deutsch geschriebenen Zyklus Von Orten. Ein Poem, der 2010 im Frankfurter Gutleut Verlag erschien, wird diese Arbeitsweise besonders evident.) Während die Auseinandersetzung mit Geschichte zu Reflexionen zwingt, lässt sich Jurjew von der Anschauung anregen. Er ist ein Dichter des Auges, der Gesehenes in Imagination überführt. Dass seine Wahrnehmung dabei Erfahrungen aufgreift und verarbeitet, dass sie an Erinnerungen andockt, gibt manchen Gedichten eine persönlich-existenzielle Note. Wieder wären wir beim „bitteren“ Grund, bei Fremde und Leere, und wieder bei der Geste des Dennoch, wie sie fast triumphal das „Alexandrialied“ abschließt:
– Gut. Ich bin noch nicht tot und begraben.
Ich schaue noch immer verliebt in
Diese steinerne, krüpplige, schäbige
Welt, die mich aufzog und nährte.
Ohne Liebe ginge es nicht. Jurjew behandelt sie diskret, doch ist seinen Versen anzumerken, dass sie den heimlichen Gegenpol zur „Bitterkeit“ darstellt. Liebe als Neugier, Zärtlichkeit, Weltzugewandtheit, als erotische Triebkraft, verschwistert mit dem Sinn für Schönheit. Nicht zuletzt Jurjews Sprache vibriert vor leidenschaftlicher Anspannung: da ist Wort-Eros im Spiel, eine schöpferische Intensität, die sich in Neubildungen und ungewohnten Fügungen, in oxymoronischen Bildern und kühnen Metaphern Luft macht, die aber auch den Klang und das Echo nicht scheut. Als Experimentator würde sich Jurjew nicht sehen wollen, ein Avantgardist wollte er nie sein. Doch die Art, wie er sich der Sprache bedient, indem er neben Neologismen auch Archaismen zulässt indem er seinen Ton gelegentlich mit dem Tonfall antiker Tragödien oder russischer Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts mischt macht ihm so schnell keiner nach. Freilich sind solche Stilanleihen im russischen Original besser zu fassen und zu verorten, da tut sich die deutsche Übersetzung schwer. (Leicht hat sie es auch nicht bei der Entscheidung, wie mit Versmaß und Reim umzugehen sei.) Jurjew ist ein Dichter des Raffinements und der Virtuosität, subtiler Spiele und noch subtilerer Spiegelungen. Gäbe es eine Neuauflage des historischen Manierismus, dürfte er sich getrost dazurechnen. Mit all seinen verbalen Trompe-l’Œuils.
Solches Können genügt sich aber nicht selbst, ist frei von Selbstbezüglichkeit und Originalitätssucht. In einem Interview bekennt der Autor, er schreibe Gedichte, um seinen Erfahrungshorizont, die Welt um sich herum, zu erweitern. Das beginnt mit der Wahrnehmung – und mündet nie in eine resümierbare Botschaft. Jurjews Kunst besteht darin, uns ein neues Sehen beizubringen, uns scheinbar Bekanntes in völlig neuem Licht, in nie geahnten Konstellationen vorzuführen. Realitätserweiterung, Realitätsverwandlung – beides trifft zu. Der Imagination sind keine Grenzen gesetzt, oder präziser: der Wahrnehmung unter dem Diktat der Sprache. Denn das Sagen hat allemal die Sprache. Folgen wir als Leser ihrer Fährte, sind wir spannend unterwegs und können auf Augenöffnendes gefasst sein. So ergehe es ihm selbst, meint Jurjew mit schalkhaftem Understatement.
Ich schreibe Gedichte, um zu erfahren, wovon sie handeln.
Ilma Rakusa, Nachwort
aus Sprachgewalt und Zartheit sind die Romane von Oleg Jurjew. Dass seine in der russischen Heimat hoch gepriesenen Gedichte bisher kaum auf Deutsch zu lesen waren, ist ein editorischer Mangel, der jetzt endlich behoben wird. Der Band In zwei Spiegeln versammelt Gedichte aus über dreißig Jahren, er zeigt Oleg Jurjews poetische Weltvermessung zwischen Bitterkeit und Ironie, zwischen dem Erhabenen und dem Alltäglichen und nicht zuletzt zwischen den Lebensstationen Leningrad und Frankfurt. Virtuos bewegen sich die Gedichte durch Stile und Zeiten, sie rufen russische Lyriker als literarische Kronzeugen auf und gewinnen bei alledem eine ganz eigene Sprache. Über uns das „versteinerte Delta“ des Himmels, neben uns die „Kampfkutsche Hummel“ oder die „blassen Bajonette“ der Bäume. Wenn Oleg Jurjew über die Natur, die Kunst oder die Geschichte schreibt, dann schimmern seine Metaphern metaphysisch, um sich am Ende doch keinen Illusionen hinzugeben. Dass Oleg Jurjews In zwei Spiegeln gleich noch einmal gespiegelt wird, verdankt sich großartigen Übersetzern wie Olga Martynova, Elke Erb und Gregor Laschen, die ihrerseits Dichter sind.
Jung und Jung Verlag, Klappentext, 2012
Jan Kuhlbrodt: Gedanken zu Oleg Jurjews: In zwei Spiegeln
poetenladen.de, 27.6.2012
– Zu den Gedichten von Oleg Jurjew. –
Ich hatte einmal einen Einfall, der mich lange Zeit verfolgte: Ich wollte eine Strophe von einem „naiven“ Autor nehmen – und so tun, als ob seine unbeholfenen Zeilen das ganze Genom der Menschheitskultur beinhalteten. Ich wollte sie in der Art erklären, wie ein außerirdischer Interpret es täte, zu dem – ins Außerirdische – nur einige wenige irdische Artefakte und Wissensfetzen durchgedrungen waren, um damit die ganze menschliche Zivilisation zu erklären. Meine Annahme bestand darin, dass die Versform als solche fähig sei, kulturelle Informationen zu kodieren; dass man mit Hilfe einer präzise ausgewählten Methode das ganze, riesengroße Bild in all seinen kulturwissenschaftlichen, sozialen, geschichtlichen und ästhetischen Aspekten ausrollen könne. Heute verstehe ich, dass mein Projekt (das unglücklicher-, oder eher sogar glücklicherweise nicht zustande gekommen ist) einen wesentlichen Fehler hatte: Unbewusst nahm ich an, dass ich Bescheid wisse, was Poesie ist, oder zumindest, was poetische Form ist.
Ich muss gestehen: Meine Idee kam mir in den Sinn, nachdem ich mich mit dem dichterischen Werk meiner älteren Hausnachbarin in Moskau vertraut gemacht hatte. Die gute Frau bekam im hohen Alter eine eigene (das heißt in dem Falle eine doch staatliche, aber nur für sie alleine bestimmte) Wohnung zugewiesen und begann, aus der damit verbundenen Euphorie heraus, zu reimen: zum Tag des Kosmonauten, zum Frauentag am 8. März, zum 1. Mai, und dann auch bald ohne gesellschaftlichen Anlass – nur so, über den Frühling, Gefühle… Sämtliche Hefte mit ihren Versen habe ich aufmerksam gelesen, und diese waren zahlreich und dick.
Zunächst amüsierte ich mich und gab zur Unterhaltung meiner Freunde auch einige unfreiwillig komische Zeilen zum Besten. Dann begann ich, ernsthaft darüber nachzudenken. Schließlich erklärte ich mich bereit, zu demonstrieren, dass die kulturelle Information, die der Dichtung meiner Nachbarin zu entnehmen wäre, ungeheuer wertvoll sei. Wenn wir sie als Kulturcode ansehen würden. Was ich beweisen zu können glaubte, war, dass es völlig egal sei, ob wir ernste oder laienhafte Dichtung nehmen, um die richtigen kulturgeschichtlichen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Die Falle wartete auf mich allerdings nicht bei dilettantischen Gedichten. Hier würde – das glaube ich auch heute noch – alles hervorragend funktionieren: Kulturcode etc. Die Überraschung steckte in den Gedichten von Oleg Jurjew, die seit mehr als 30 Jahren geschrieben werden, aber in einem zufriedenstellenden Umfang in dem erst 2004 in Moskau erschienenen Buch Isbrannyje stichi i chory (Ausgewählte Gedichte und Chöre) gesammelt sind.
Für einige Zeit war ich vollkommen desorientiert, als sei ich völlig meiner Fähigkeit beraubt worden, das Oben und das Unten zu unterscheiden. Ich hatte aufgehört zu verstehen, was Lyrik eigentlich ist, und obwohl es keine Tradition gibt, mit der Jurjews Gedicht bricht, wie auch keine dichterische Technik, die diesem Gedicht unbekannt wäre, sehe ich in ihm eine der Wörtlichkeit ausweichende Neuheit und Ungewöhnlichkeit, die den Leser nicht nur in Erstaunen versetzt, sondern ihm bisweilen auch Angst einjagt: Wer hat diesem Menschen diese Zeilen diktiert, die so deutlich mit anderen, nicht zu uns gehörenden – und wenn transzendenten, dann nicht nach unserem „normalen“ Verständnis transzendenten – Inhalten gefüllt sind? Ja, das ist ein Dichter. Aber ein Andersdichtender.
Um gleich zu verstehen, wovon ich sprechen will, hören wir aufmerksam hin zumal es um das Oben und das Unten geht):
CHOR VOM HÖREN UND SEHEN
Strophe
Das Klirren vom Regen und das Knistern vom Schnee,
Das raue Knirschen der Hagelkörner –
Das war was bis jetzt im Himmel
Den Tag über gehört wurde,
Aber was nicht:
I. Das Aufbrummen des Onkels in Päon;
II. Das Geklopfe der Straßenbahn-Reptilien,
aa Die Büschel von Funken aussäen;
III. Das Knurren in den Luftgräben, ihre
aa Bögen, die mit dem Kaminrauch verglichen wurden;
IV. Der Klappaltar in der Kirche, der knarrt…
– All das von oben nicht zu hören.
Gegenstrophe
Gellender Strahl, von Wolken insgeheim verhüllt,
– Zusammengedrehte Rose, Hafis zur Freude, –,
Das war was bis jetzt von unten
Den Tag über gesehen wurde,
Aber von unten nicht:
1. Der Tag nimmt die Erdlinse auseinander;
2. Die Oberhaut, vom Sonnenschleim
a Gelöscht, geführt in eine gebogene Dunkelheit;
3. Die obere, die neblig-krumme Eisscholle
a Ergibt sich dem Tauen, dem Abbruch:
4. Der Engel reißt seinen Ornat, die eigene Haut ab…
– Das ist den Tag über nicht zu sehen.
Nehmen wir an, dass wir alles gehört und gesehen haben, was uns vorgeführt wurde, nehmen wir auch anmaßenderweise an, dass wir alles verstanden haben, was man uns zeigte und was man uns hören ließ. Nun überlegen wir uns, wer uns all das erzählt, von welchem Punkt er blickt, „wohin er singt“ (auch ein Jurjew-Zitat), wo er hört und warum er das kann: das wissen, was von oben nicht zu hören ist (von wem?), das wahrnehmen, was für die Menschen unsichtbar bleibt?
Die „Himmlische Liste“, die mit römischen Ziffern gekennzeichnet ist (I, II, III, IV), berichtet uns, dass sie oben (im Himmel) für menschliche Taten unempfindlich sind: dort kennen sie weder Gedichte, die die Liste der zivilisatorischen Funktionen („Das Aufbrummen des Onkels in Päon“) eröffnen, noch Technik, noch die schmutzige Umwelt, nicht einmal die Appelle an Gott. Und unten, gemäß der Liste mit den arabischen Ziffern (1, 2, 3, 4), weiß man nichts über die unerträgliche ätzende Kraft des Himmels, über die gleichgültige Schonungslosigkeit dieser Kraft – sie ist unbeobachtbar, weil ein gellender Strahl von Wolken sie insgeheim verhüllt, und nur so erlaubt sie, die Rose eines Hafis zu pflegen und vom Wind bewegen zu lassen.
Anton Tschechow sagte einmal, dass er Shakespeare möge, Slatowratsky (einen drittrangigen russischen Belletristen aus den 1890er Jahren) hingegen nicht – die Gründe seiner Vorliebe für Shakespeare konnte er allerdings in keiner Weise erklären. Ein Literaturkritiker ist verpflichtet, zumindest zu beschreiben, was seine Bewunderung oder Bestürzung hervorruft. Ich versuche immer, meine Meinung irgendwie zu belegen, bin mir aber ziemlich sicher, dass ich dabei nicht den Unparteiischen spielen kann, sieht mir doch der Leser sofort meine Liebe zu dieser Poesie an. Eine Liebe – zu einem Gedicht wie zu einem Menschen – ist meistens unreflektiert. Doch die Versuchung, die Zeilen zu reflektieren, die dich erschüttert haben, ist sehr stark. Ab und an genauso stark wie ein eigener kreativer Impuls:
– Siehst du es? – Wie der Weiher vom leuchtenden
Kamm entzweigeteilt wird…
Das sehe auch ich, und wäre ich metaphorisch gut trainiert, dann könnte ich wahrscheinlich auch selbst es so sagen. Aber die Antwort, die folgt:
– Ich seh’ es. Wie einer dein Herz vom
Grund gehoben hat und es reibt.
Das sehe ich nicht mehr. Das ist herzzerreißend, aber zu sehen ist es nur, wenn du von einem außergewöhnlichen Führer geführt bist. Sogar ein sehr sehvermögender Mensch, selbst wenn er mit einem sehr guten optischen Gerät ausgestattet wäre, kann das nicht sehen. Hier findet ein so intensives seelisches Eintauchen in die Landschaft statt, dass der Rezipient es beinahe als physisches Leiden empfindet. Es ist zu sehen durch unbekannte Rezeptoren, genauso wie das Hörbare in der nächsten Strophe nicht nur durch die Hörorgane zu hören ist:
– Hörst du es? – Das Geplätscher überm Wasser,
diese kümmerlichen goldenen Kreise…
– Ich hör’ es. Wie jemand dein Herz auf den
Grund fallen ließ – plumps! –
(„Der Scheitel / Der Weiher“)
Syntaktisch, Interpunktions- und intonationsmäßig haben wir hier ein Gespräch, einen Dialog. In Wirklichkeit hat der Autor hier keinen Gesprächspartner: Mit sich selbst klärt er die Frage der Landschaft, die ihm erschien, ihre Bedeutung für seine eigene Existenz auf dieser Welt.
Die Landschaft. Praktisch nichts spielt in Jurjews Gedichten „drinnen“, im Zimmer, im menschlichen Haus – es sei denn am Fenster. Über den Mond der das Fenster bei Jurjew könnte man nicht weniger nachdenken als über die Hieroglyphen des Fensters bei Daniil Charms. Allein am folgenden Beispiel wird das sichtbar:
Wenn oben am Berg
Der Mond ins geschliffene Glas gegossen wurde,
Glänzte das Schwarz der Bäume im Karree,
Die blassen Bajonette.
(„Der Feldzug der Bäume im Winter“)
Im Kreise der Bäume, der Vögel, der Gewitter, der Gerüche, des Hauchs und er Tönungen, jede Bewegung in diesem „elementaren“ Universum fangend und wiedergebend – weigert sich der Autor, davon zu wissen, was in der Welt passiert? Ist das so? Schauen wir uns das aufmerksamer an:
23.3.2001
aaaaaSie, diese achtflüglige Hinkelibelle,
aaaaadie sich spiegelte in sich selbst, –
nie kommt sie nachhause, die sich
aaaaaselbst davontrug in diese Leere, –
Immer muß sie fliegen, geschmiegt an die Erde,
immer muß sie fliegen auf letztem Flügel
und immer muß sie gleiten, im Dunkel verschwinden
aaaaaÜber Tsushima.
Die Anmerkung des Autors:
Der Tag, an dem die Raumstation ,Mir‘ im Pazifi versenkt wurde.
Ich kenne keinen anderen Menschen, der fähig wäre, so kummervoll ein solches Ereignis zu beweinen! Wird jemand noch tiefer erschüttert sein, als ich es war, nachdem ich begriff, daß Jurjews Gedichte voll von Ereignissen sind? Nicht nur von Ereignissen – von Abenteuern.
Dass diese Gedichte im Grunde eine Chronik sind, und er selber ein Chronist unserer Zeit – nur kein majestätischer und neutraler, sondern ein furios sinnlicher. Denn das Festhalten der Geschehnisse geschieht mittels sämtlicher Sinnesorgane, die einem Dichter zur Verfügung stehen, Und das sind, darf ich erinnern, nicht wenige, immerhin fünf. Stendhal sagte irgendwo, dass die Literatur ein Spiegel sei, mit dem du die Straße entlang gehst, und der Spiegel bald das Blau des Himmels, bald den Schmutz der Pfützen und Schlaglöcher spiegelt. Ja, so. Aber nicht ganz so. Oleg Jurjew sprach dies (noch 1984) etwas anders aus:
Der Dichter ist der Spiegel vor dem Mund der kranken Welt.
Jetzt ist es richtig so.
Selbstverständlich werde ich nicht siegessicher behaupten, dass ich den Universalschlüssel zu Oleg Jurjews Wortkunst gefunden habe. Das haben bereits einige andere versucht, die zur Poesie in einem engeren Verhältnis stehen als ich – d.h. Jurjews Dichter-Kollegen, bedeutende russische Lyriker (u.a. Jelena Schwarz, Michail Eisenberg, Waleri Schubinsky), die sich über seine in unserer Gegenwartslyrik ungewöhnliche Erscheinung Gedanken gemacht haben. Weitere Andere werden das wieder und wieder versuchen.
Aber ich bin glücklich, dass die ganze sinnliche Welt, die Oleg Jurjew anvertraut ist, durch ihn in die russische Sprache transferiert wird, und das bedeutet, dass ich sie lesen, und sogar interpretieren kann.
Viktor Bejlis, die horen, Heft 228, 4. Quartal 2007
Aus dem Russischen von Olga Martynova
[Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung von zwei Artikeln des Autors, die in den Zeitschriften Die Kritische Masse und Die Fahne (beide in Moskau) erschienen sind.
Sämtliche hier zitierten Gedichte wurden von Gregor Laschen und Olga Martynova ins Deutsche übertragen.]
FÜR OLEG
Die Stadt hat noch ihren mittleren Namen, zwischen einmal und einst, da
fallen am Marktplatz die Tauben vom Himmel und aus den oberen Giebeln.
Männer mit gar nicht finstren Gesichtern und Kohlesäcken aus dickem Garn
zählen die Taubenkadaver und sammeln sie Stück für Stück auf vom Pflaster.
Jan Kuhlbrodt
Olga Martynova: „Das Wunder, die richtigen Worte zu finden“ im Magazin für übersetzte Literatur TraLaLit vom 28.10.2020
Erlanger Gespräch: Oleg Jurjew, Elke Erb und Olga Martynova im Rahmen der 8. Erlanger Übersetzerwerkstatt am 26.8.2011
Oleg Jurjew: „Wenn ,übersetzt‘, dann aus der Sprache des Orts und Moments ins Russische und ins Deutsche.“ Ein Interview von Maria Lipiskova mit Oleg Jurjew am 17.9.2010.
Ulrich Erler: Ein Gedicht fragt nicht, es kommt einfach
Eine Auswahl an Gedichten von Oleg Yuryev mit einem Kommentar von Valery Shubinsky im Ivan Limbach Verlag
von arten und weisen – Oleg Jurjews Poeme. Mit Elke Erb, Katharina Hacker, Olga Martynova und Steffen Popp. Lesung und Gespräch am 14.2.2019 im Literarischen Colloquium Berlin.
Olga Martynova und Daniel Jurjew stellen Werke von Oleg Jurjew in der Bamberger Villa Concordia 2021 vor.
Die Autoren Olga Martynova und Oleg Jurjew zum Thema „Finanzierung von Kreativität“.
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