PUSCHKIN MIT ACHMATOWA UND ZWETAJEWA
Jahrhundertfang behüten wir
das Rascheln kaum hörbarer Schritte
Anna Achmatowa
Nehmt nicht Puschkin als Keule!
Sonst schlag ich euch – mit ihm!
Marina Zwetajewa
Den russischen Leser muss man nicht an dasjenige erinnern, was so schwer fällt, jenseits der Grenzen der russischen Sprache zu erklären: der Maßstab Puschkins in unserer Kulturgeschichte, besser gesagt: in dem, was Chodassewitsch „die russische Legende“ nannte. Er hat nicht nur Maßstäbe gesetzt als Erster Nationaldichter, als Schöpfer der Literatursprache, als Begründer eines nationalen Schrifttums; Maßstäbe nicht nur als erstaunliche Persönlichkeit, als „russischer Mensch, wie er in hundert Jahren sein wird“ (mit den Worten Gogols), er wurde überhaupt auf seine Art zu einem Heiligen der säkularen Kultur, einem Protagonisten der eigenen Heiligenlegende. Der Puschkin dieser russischen Legende ist, neben anderem, ein geheimnisvoller Weiser; in der bescheidenen Einfachheit seiner Sprache sucht die philosophische Hermeneutik orphische Tiefe, kosmische Offenbarungen. Aber außer allem bereits Genannten gibt es innerhalb von Puschkins russischem Ruhm einen nicht genauer bestimmbaren Bereich des Überschusses, offen für verschiedene Interpretationen (so hindert einen nichts daran, sich die puschkinsche Welt als eine durch und durch spielerische und ironische vorzustellen). Der Puschkin der russischen Legende ist ihr Kern, ihre erste Liebe, wie F. Tjutschew schrieb. In dieser Liebe, in seiner ersten, freien Selbstoffenbarung:
… wie Desdemona
das Objekt ihres Herzens wählt –
das für uns den Namen Puschkins trägt – versucht der russische Gedanke gleichsam in einem Wahrsagespiegel sich selbst und seine Zukunft zu erkennen.
Und das alles, obgleich doch die literarische Wirkung Puschkins auf die heimische Literatur ziemlich unbedeutend ist; in lyrischer Hinsicht tritt sie deutlich hinter Schukowski, Nekrassow und Blok zurück; was die Prosa angeht, so blieb Puschkins narrative und kompositorische Technik irgendwo in einem Prolog im Himmel stecken; hier auf der Erde begann die Geschichte russischer Prosa mit Gogol. Ohne unmittelbare Fortsetzung blieben seine Versuche im dramatischen Fach sowie seine äußerst eigentümliche Kritik, seine Historiographie, seine Briefe – alles Dinge, fast zu erlesen, zu asketisch und nicht „ideell“ genug für die große russische Literatur, wie sie die Welt kennenlernte. Die Rätselhaftigkeit von Puschkins Ruhm in Russland, der so offensichtlich in keinem Verhältnis steht zu der konkreten Kenntnis seiner Werke (gibt es doch bis zum heutigen Tag keine befriedigende Ausgabe seiner Texte, um gar nicht erst davon zu sprechen, mit welchen Versionen es der Leser des vergangenen Jahrhunderts zu tun hatte!) und sein Mythos, den viele einfach als eine Selbstverständlichkeit akzeptieren müssen, und den die Offiziellen immer bereit waren, sich zu Nutzen zu machen, provozierten mehr als einmal demokratische Rebellionen gegen Puschkin, diesen Olympischen, den General. Und zugleich, mit noch größerer Intensität, wurde Puschkin in Zeiten solcher Rebellionen, in den Epochen kultureller Verdunkelung und des Zusammenbruchs des Humanismus, zu einer magischen Zuflucht – häufig der letzten, zu einem Bewahrer-Genie der freien, künstlerischen Kultur, zum „fröhlichen Namen“, der, wie der sterbende Blok schrieb, die „Getreuen“ vereint und mit dem das allesumhüllende Dunkel nicht so furchtbar erscheint.
Sowohl Marina Zwetajewa als auch Anna Achmatowa gehören zu solchen „Getreuen“ Puschkins. Ihr poetisches Werden vollzog sich in einer Epoche, in der der Ruhm Puschkins so hell erstrahlte wie in keiner anderen. Die poetische Hermeneutik (die Essays W. Iwanows, W. Brjussows, Bloks, Belys, Chodassewitschs, Mandelstams), die philosophisch-religiösen Lektüren (W. Rosanows, M. Gerschensons und anderer) entdeckten Puschkin, wie er seinen Zeitgenossen und dem gesamten 19. Jahrhundert unbekannt war, das sich ja nicht allzu sehr von einem naiven Biographismus und einer „realen“ (d.h. gesellschaftlich-politischen) Kritik gelöst hatte. Damals also, im Silbernen Zeitalter, gewann die Legende Puschkins als einer maximalen Annäherung an das Wesen der Poesie, wie sie auf russischem Boden überhaupt möglich sei, substantielle argumentative Gestalt.
Sowohl Zwetajewa als auch Achmatowa, Dichterinnen der aufgeklärtesten aller literarischen Zeiten Russlands, besaßen nicht nur lyrische Ausdruckskraft. Ihr „Gespräch über Puschkin“ (was, wie aus dem Gesagten hervorgeht, immer auch bedeutet: Gespräch über Poesie, Gespräch über Russland, und schließlich das Postulieren der eigenen künstlerischen Prinzipien) fand nicht nur in Versen, sondern auch in diskursiver Prosa statt. Sowohl diese wie auch die Verse haben dabei durchaus etwas von einer Votivgabe, können als Dankesgabe an den genius loci gelesen werden.1
Dabei haben die Erkundungen Puschkins durch Zwetajewa und Achmatowa, so gegensätzlich sie in vielen Hinsichten auch sind, überraschenderweise gemein, dass die ursprünglich symbolistische Puschkiniana zu Beginn des Jahrhunderts quasi keine merkliche Spur bei ihnen hinterlassen hat. Auf puschkinsche Themen stießen beide in den 30er Jahren. Und sollte da nicht, so könnte man doch erwarten, auf irgendeine Weise die nächste – nämlich formalistische – Episode „aus dem Leben Puschkins in der Geschichte“ Berücksichtigung finden? Doch auch hier dieselbe Lacuna. Anscheinend fanden die ätherische Metaphysik (zu Anfang des Jahrhunderts) und die knallharte Analytik (der formalen Schule) so gar keinen Widerhall im poetischen Bewusstsein der beiden Poeten, die sonst einander erstaunlich kontrastieren. Beider Weg zu Puschkin (so seltsam so eine Verallgemeinerung auch sein mag) ist ein Mittelweg; er soll über die Texte zum Menschen Puschkin führen (Zwetajewas Essay „Mein Puschkin“ beginnt mit dem auffälligen Bild des „Dichterbauchs“, dem beim Duell durchschossenen Bauch; Achmatowa bemerkt inmitten von beispielhaft-textologischen und archivarisch-historischen Kommentaren: „Wir vernehmen kaum noch seine menschliche Stimme in den göttlichen Versen“ – und wartet mit einer scharfsinnigen Beobachtung zur „menschlichen“ Angst Puschkins vor dem Glücklichsein auf). Der Akzent auf dem Persönlichen und Menschlichen, das Bedürfnis, gerade diese Schicht der puschkinschen Geheimschrift ans Licht zu bringen und nicht, sagen wir, die innerliterarischen oder metaphysischen Bedeutungen, dürfte uns einiges über die künstlerische Natur der Autorinnen selbst sagen: erschließt doch ein Poet den anderen Poeten mit demselben Schlüssel, mit dem er die eigene „Schatulle mit dreifachem Boden“ verschließt. Unter denen, die über Puschkin schrieben, werden wir schwerlich noch jemanden finden, der so mit seiner „menschlichen Stimme“ beschäftigt gewesen wäre wie Achmatowa und Zwetajewa (die psychoanalytischen Arbeiten einmal außen vor, die eher ein Sub-Menschliches beschreiben und von beiden Dichterinnen auch vollkommen ignoriert werden).
Der Prosa Zwetajewas über Puschkin – herausfordernd individualistisch und autobiographisch („MEIN Puschkin, mit Betonung auf MEIN“, kommentiert Zwetajewa in einem Brief an Teskowa) – könnte jede vorausgehende Lektüre, von wem auch immer, gleichgültig sein. „Dies alles läuft unter Russland und meine früheste Kindheit“: wessen fremder und, umso mehr, wissenschaftlicher Text könnte dem in diesem Fall irgendetwas hinzufügen? Keiner, es sei denn, dies wäre anzumerken, er käme vom Lügner oder Feind: jener Gegenfigur aus Zwetajewas Kosmos, ohne die selbiger überhaupt undenkbar wäre. Die Energie ihrer Prosa und Gedichte über Puschkin ist genau diese Energie der Abwehr und Attacke, „für alle – gegen alle“. Beim Thema Puschkin ist dieser niedere Gegner der Wächter eines verklassizisierenden Puschkinbildes, eher noch spießbürgerlich als akademisch (was übrigens für Zwetajewa dasselbe ist). Ihn fordert sie zu einem erbitterten Duell heraus:
Puschkin, Puschkin, Puschkin – feiner
Name – schimpfen dreckig
auf den Plätzen Papageien.
– Puschkin? Sie erschrecken!
Die Energie, mit der Zwetajewa (und der ihr darin nahestehende Pasternak – ebenfalls Moskauer, ebenso, in seinen Puschkin-Variationen des Jahres 1918, nicht gerade ein „Zarskoselskischer“ Autor)2 „mit Puschkin“ zuschlägt (siehe Motto) – die Energie des Aufruhrs und elementarer Kräfte, des Äußersten und der Fremdartigkeit (angefangen mit der ethnischen im Fall Puschkins: wir erinnern uns an „diesen Afrikaner“ bei Zwetajewa, an den „volllippigen Hamiten“ bei Pasternak), – ist dabei wesenhaft verwandt mit derjenigen, mit der die beschränkten Avantgardisten ebendiesen Puschkin „schlugen“, als sie seinen akademischen Abgott vom Parnass stürzten.
Achmatowa schließt in ihrer langjährigen Puschkinforschung mit einer erstaunlichen Selbstverleugnung an die sich äußerst zurücknehmende und traditionelle, alles in allem schulische Tradition der Puschkinistikan: Quellenkunde und biographische Forschung. Innerhalb dieser positiven Puschkinwissenschaft gebühren ihr unbestreitbar einige Entdeckungen, so die zweier sehr bedeutsamer literarischer Subtexte – Benjamin Constants Roman Adolphe („B. Constants ,Adolphe‘ im Werk Puschkins“) und Washington Irvings Märchen „The Alhambra“ („Das letzte Märchen Puschkins“), außerdem entzifferte sie einige biographische Hintergründe (wie die „kleine Insel“, der Ort, an dem die Dekabristen beerdigt wurden; oder Details zu familiären Beziehungen und den Verhältnissen in den besseren Schichten). Achmatowa kennt die kollegiale Freude des Philologen (was bei Zwetajewa undenkbar wäre), den eigenen Gedanken bei jemand anderem zu finden („nach den Arbeiten Berkowskis…“). Sie nennt in ihren Puschkin-Exerzitien nicht Gerschenson oder Chodassewitsch, sondern einen akademischen Literaturwissenschaftler „meinen Vorgänger“. Es ist, als hätte sie ihr poetisches Gewand am Eingang ins Puschkinarchiv zurückgelassen.
Achmatowa schließt widerspruchslos an die bei Literaturhistorikern übliche Konzeption der puschkinschen Evolution an: von der Romantik zum Realismus. Die von ihr postulierten Parallelen zu Constant bestätigen diese Linie nur:
Adolphe war eines der Werke, durch die Puschkin zu skeptischen und realistischen Positionen gegenüber Byron fand.
Muss man erwähnen, dass der Puschkin Zwetajewas ein radikaler Romantiker ist; das „Klassische“ seiner äußeren Form – „die Ruhe der Narration und die literarische Zurückhaltung“ – sind ihr eine täuschende Hülle, von der sich nur „Erwachsene“ täuschen lassen. In Wirklichkeit sei dies ein „magisches, hypnotisches, versonnenes, traumwandlerisches Buch“. Ein Buch über etwas Verbotenes: Über die Kraft der Leidenschaft, über gesetzlose Liebe, einsamen Aufruhr, den unüberwindbaren Zauber des Bösen.
In der Sprache ihrer Jugend ausgedrückt, ist Zwetajewas Puschkin ein dionysischer, Künstler, Achmatowas Puschkin ein apollinischer. Die ständige symbolische Farbe für Puschkin bei Zwetajewa ist das Schwarz („schwarzer Gedanke, schwarzes Los, schwarzes Leben… mein mir eigenstes Dunkel“); für Achmatowas Puschkin steht ein Weiß: das Weiß der Statuen und Kolonnaden in Zarskoje Selo, die Harmonie der Parks und der Newa-Ufer, Ihr Puschkin ist ein Freund seiner Freunde, ist unser Puschkin (siehe Motto), der die hohe Freundschaft rühmt und um sich herum einen freundschaftlichen Kreis neuer Generationen versammelt. Sowohl in den Gedichten, als auch in der Prosa bleibt Achmatowa nicht mit Puschkin allein, ihr kommt es nicht in den Sinn, ihm die Hand zu drücken, wie es bei Zwetajewa geschieht, wenn diese über den „Urgroßvater“ schreibt:
Die Hand ihm zu drücken,
nicht Speichel zu lecken.
Ihre Geste ist, wie bei Mandelstam, wie bei allen aus der Petersburger Schule, nicht der Händedruck, sondern die Verneigung, wie sie in den letzten Gedichten Bloks beschrieben wird:
Vom weißen Senatsplatz aus
verneig ich mich still vor ihm.
Eine größere Intimität wäre unangebracht; Achmatowa sieht sich der Person Puschkin gegenüber im Kreis seiner andächtigen Freunde, im Innern einer seelisch vereinten Gesellschaft. In ihrer Jugend fand sie diese in einem Kreis von Kulturmenschen, der, inspiriert von Petersburg und Zarskoje Selo, bereit war, zusammen mit all den anderen Gaben Puschkins auch das Lyzeumsgeschenk einer Gemeinschaft von Geistern und Talenten anzunehmen, wie sie seit den Zeiten des Maecenaskreises oder humanistischer Zirkel Tradition geworden war:
Der Seelen hohe Freiheit,
die Freundschaft heißt.
In den späten Texten ist das „Wir“ Achmatowas, das sich an Puschkin wendet, nicht mehr eins der „Kreise“ („Alle Seelen der Liebsten in den hohen Sternen“, der Zarskoje-Selo-Kreis hatte sich aufgelöst); jetzt umfasst dieses „wir“ alle, die russisch lesen, „von den Weißen Wassern bis zu den Schwarzen“, alle Kinder, die vor dem Denkmal Puschkins spielen.
Der Puschkin Zwetajewas ist nicht nur eine einsame, sondern auch geheime, „gotische“ Leidenschaft; sie muss wie Verliebtheit versteckt werden, ohne freundschaftliche Gespräche zu erwarten; die Einsamkeit der frühesten Kindheit setzt sich fort in einer fatalen Einsamkeit des Schaffens – und in dem einsamen Treffen des Lesers mit dem Dichter, so gefährlich wie das Treffen Grinjows mit seinem Helfer.3
Ein Porträt des Dichters ist, wie wir wissen, wenn es von einem anderen Dichter angefertigt wird, in einem nicht unwesentlichen Ausmaß ein Selbstportrait. Deshalb darf die Unähnlichkeit zwischen Achmatowas und Zwetajewas Puschkin nicht verwundern. Die Frage, welches der beiden unvereinbaren Porträts denn nun „dem Original näher komme“, können wir, glaube ich, getrost beiseite lassen im Sinne der so fundamentalen Ungreifbarkeit des Originals, über die wir zu Beginn sprachen. Aber wie zeigt sich die Anwesenheit Puschkins in der Poesie Zwetajewas und Achmatowas?
Der wohl gängigsten Meinung zufolge trägt kein Dichter unseres Jahrhunderts so viel Puschkin in sich wie Achmatowa, die Zarskoselskische Muse (die aber dabei nicht, wie Chodassewitsch, einer „Puschkiniana“ verpflichtet ist); für viele eine neue, weibliche Hypostase Puschkins. Vertreter dieser Ansicht weisen für gewöhnlich auf bestimmte Züge ihrer poetischen Diktion wie die vornehme Einfachheit und schlichte Gewichtigkeit hin, jenes „Gefühl des Maßes“, dessen Erwähnung allein Zwetajewas pythischen Zorn herausforderte:
Gefühl für Maß? – Meergefühl…
Puschkinsche Züge der poetischen Weltanschauung Achmatowas sind zum Beispiel ein besonders liebevoller Umgang mit der gegenständlichen Welt und den Menschen und eine damit korrespondierende Behutsamkeit im Umgang mit der Sprache (Puschkin schätzte, wie wir aus seinen Tagebuchbekenntnissen wissen, mehr als alles andere bei Menschen das Wohlwollen); die artistische und menschliche Fähigkeit Achmatowas sich in den tragischsten Momenten zu einer epischen, chronikhaften Betrachtung der Vorgänge zu erheben, sei es im privaten Liebesdrama – oder angesichts einer landesweiten Katastrophe:
Und das wird für die Menschen
wie die Zeiten Vespasians sein.
Ihre äußere Klarheit, hinter der ein „dreifacher Boden“ spürbar wird, eine Unausgesprochenheit, die „Geheimtinte“: lyrische Schrift, die sich gleichzeitig an die breiteste Leserschaft und den ganz eingeweihten Adressaten wendet (puschkinsche Strategie einer zweifachen Perspektive des Textes).
Generell ist „Puschkin in der Poesie Achmatowas“ ein ebenso riesiges Forschungsfeld, wie, sagen wir, „die Antike bei Puschkin“. Das Thema ist soweit mir das bekannt ist, nicht einmal oberflächlich ausgearbeitet worden, gerade im Zusammenhang mit den puschkinschen Motti die bei Achmatowa eine Schlüsselfunktion haben, den puschkinschen Themen und diesbezüglichen Textpassagen in der Lyrik Achmatowas.
Was das Erbe Puschkins in ihrer Lyrik angeht, so wird man diesem mindestens Achmatowas tragischen weißen Jambus der Elegie (der schon in den „Epischen Fragmenten“ von 1915 auftaucht und eine triumphale intellektuelle Tonalität in den „Nördlichen Elegien“ bildet), den puschkinschen märchenhaften und volkstümlichen Trochäus („Das Märchen vom schwarzen Ring“), den puschkinschen Alexandriner mit seiner gallischen, aphoristischen Schärfe und Puschkins besondere Beachtung der Strophik („Der russische Trianon“) zurechnen können.
Was die Gattungen betrifft, so sind hier ihre Epigramme und Elegien und die fragmentarischen „Romane in Versen“ mit ihrer „psychologischen Terminologie der Liebe“, die Puschkin, wie Achmatowa selbst nahelegt, bei Constant gelernt hatte, charakteristisch. In sprachlicher Hinsicht sind es die feinen stilistischen Nuancen des Wortschatzes, das bewusste Spiel mit stilistischen Registern, vom kirchenslawischen bis zum volkssprachlichen und alltäglichen…
Doch neben all den konkreten Verweisen auf Texte Puschkins gibt es etwas, das noch schwerer zu bestimmen ist und doch das Wichtigste im gesamten Werk Achmatowas darstellt (in dieser Beziehung vergleichbar nur mit dem Mandelstams): Ihre ganze Poesie bildet sich gleichsam in Anwesenheit Puschkins aus; er ist nicht nur einer der meistzitierten und verehrten Autoren, sondern die elementare Kraft ihrer Lyrik selbst, so ähnlich wie auch die Muttersprache und das ganze Erbe russischer Versdichtung ganz elementare Kräfte für sie sind. Ihre Gedichte sind nicht Puschkin gewidmet und auch nicht der Muttersprache, sie atmen sie.
Bei Zwetajewa wird die Suche nach Puschkin schwerlich solche offensichtlichen Resultate zeitigen. Von einer gewissen, besonderen, vermutlich philologisch nicht zu beglaubigenden Puschkin-Nachfolge der Poesie Zwetajewas können wir nur reden, indem wir ihren eigenen Blick auf Puschkin heranziehen. Dieser Blick richtet sich aber nicht auf das, was wir in Verbindung mit Achmatowa erwähnten: den Vers, die Stilistik, die Strophik, die Gattungen; die „klassische“ Weltanschauung, in der Zwetajewa nur eine Gaukelei für Erwachsene sieht; das ironische Spiel („scherzen, im Stillen schweigen“), die klugen Strategien des Autors in Bezug auf den Adressaten und den eigenen Text, die realistische Historizität; alles, was bei Puschkin gerade nicht als Ausdruck eines Mythos’, eines geheimen Feuers, oder als das erscheint, was, mit ihren Worten, „größer als Kunst. Furchtbarer als Kunst“ ist („Zwei ,Erlkönige‘“).
Aber ein Gespräch über Perspektiven auf Puschkin mit Zwetajewa und Achmatowa, das bei ihren offensichtlichen Kontrasten stehen bliebe, wäre unvollkommen und ließe Wesentliches aus. Eine frappierende Ähnlichkeit erwartet uns in der Tiefe ihrer beider Puschkinforschungen.
Da ist vor allem die nicht weiter aufschlüsselbare Vorstellung vom Zauber (Zwetajewa) und vom Geheimnis (Achmatowa) als wichtigster Qualität Puschkins und höchstem Kriterium jeglicher Beurteilung von Poesie. So verurteilt Achmatowa Dubrowski, weil er ohne Geheimnis sei. Für Zwetajewa entspricht die Nähe der Helden Puschkins zum Autor ihrem Zauber, der größten und außermoralischen Kraft der Kunst, die an Stärke nur übertroffen wird von dem, was größer als Kunst und größer als Moral ist: „es gibt eine Kraft, größer als Zauber: Heiligkeit“.
Sowohl das Geheimnis, als auch der Zauber, Kräfte jenseits der Moral die von Achmatowa wie Zwetajewa gleichermaßen bevorzugt werden, verleihen dem in vielerlei Hinsicht finalen Thema ihrer Überlegungen zu Puschkin etwas Überraschendes. Schlussendlich – und entgegen ihren eigenen Prämissen (geht doch gerade Zwetajewa von der fundamentalen Nichtmoralität der Kunst aus: „Keine Leidenschaft für den Verbrecher: kein Dichter“, und unterstreicht Achmatowa den antimoralischen Charakter von Puschkins Schriften) – gelangen beide Dichterinnen zum selben Thema: zu den „fürchterlichen Fragen der Moral“ (Achmatowa, „Der steinerne Gast“).
Wenn es hier aber um Moral geht, so doch um eine paradoxale, da sie in der Frage nach der Wahrheit,4 genauer gesagt, „nach den niedrigen Wahrheiten und der erhebenden Täuschung“ wurzelt, also in der Frage nach der Kunst und dem Gewissen, Realismus und Realität – oder auch: Poesie und Prosa. Der Leser Puschkins erinnert sich, dass dies die zentralen Konflikte seiner späten Werke sind. Von dem Moment an als er seinen romantischen Idealismus skeptischen Reflexionen unterzieht, steht die Möglichkeit neuer, nichtutopischer, „erwachsener“ Idealität und einer Poesie des einfachen Daseins als offene Frage vor dem Autor der „Kleinen Tragödien“, der „Hauptmannstochter“, des „Ehernen Reiters“, der späten Elegien (mit einer offenen Frage enden übrigens auch häufig die Erzählungen, sofern dort nicht bestimmte andere Satzzeichen, genauer: Auslassungspunkte stehen). Als wäre der Verstand bereit, vom Eintreiben einer poetisch ganzheitlichen Wahrheit in der alltäglichen Realität Abstand zu nehmen („O Menschen! armes Geschlecht…“), was das Herz nicht akzeptieren kann:
Die erhebende Täuschung ist ihm lieber. „Er – Puschkin – fordert die höchste und einzige Wahrheit. Der Schwache hat immer Recht“, so erklärt Achmatowa die unwahrscheinlichen, Glück herbeibeschwörenden Enden bei Puschkin. Man darf ergänzen:
Und der Starke ist immer gnädig.
Die bewusste Umformung der historischen Realität der Pugatschow-Bewegung zu einem verzaubernden Bild (in Gestalt des Wegbegleiters und Helfers), frei von „Mickrigkeit“, erklärt Zwetajewa damit, dass „Puschkin ein Dichter war“, das heißt jemand, dem von Anfang an klar ist, dass die Wahrheit groß und einzigartig ist, Täuschung aber vielfach und mickrig. Gegen ein prosaisches (skeptisches) Bewusstsein, das, wie ein anderer großer Lyriker, Dante, sagte, „nur Fakten, aber nicht die Form der Fakten sieht“. Puschkin bezeugt in seinen Sujets, Achmatowa zeigt dies, die Gutherzigkeit als tätiges und unbesiegbares Gesetz des Daseins. In der Auslegung Zwetajewas sieht die moralische Wahrheit Puschkins so aus: Er führt den Leser in eine direkte Begegnung mit dem Bösen – und dies Böse erweist sich nicht als Böses, nicht als Mickrigkeit, sondern als Zauber.
Dem Dichter – aber auch dem Kritiker – des 20. Jahrhunderts fällt es bekanntlich äußerst schwer, fast als wäre es ein Verbot, über Moral zu sprechen. So spüren wir im Fazit Achmatowas regelrecht die überwundene Angst vor einem ästhetischen„ Verbrechen“:
Und in diesem Moment (d.h. die Unbesiegbarkeit der Gutherzigkeit einkalkulierend, O. S.) tritt Puschkin (es ist Zeit, dies Wort auszusprechen) als Moralist hervor. (aus: „Anmerkungen“)
Und Zwetajewa schließt, nachdem sie die puschkinsche Befreiung des „Zaubers“ von aller Mickrigkeit beschrieben hat:
Gegen Ende der „Hauptmannstochter“ ist in uns bezüglich Pugatschow nicht die Spur von mickriger Wahrheit geblieben, aus dem ganzen Sumpf mickriger Wahrheiten keine einzige. Reinheit. Diese Reinheit ist der Dichter. (aus: „Puschkin und Pugatschow“)
1997
die Essays Achmatowas und Zwetajewas über Puschkin dürften „uns einiges über die künstlerische Natur der Autorinnen selbst sagen: erschließt doch ein Poet den anderen Poeten mit demselben Schlüssel, mit dem er die eigene ,Schatulle mit dreifachem Boden‘ verschließt“. Die gilt wohl auch für die Dichterin Sedakowa, die sich in diesen literarischen Essays über die Großen russischer Lyrik Puschkin, Mandelstam, Achmatowa und Zwetajewa als eine philologisch versierte Intellektuelle zeigt. Sie geht klassischen Fragen nach, die heute kaum noch gestellt werden – etwa nach der Moral und der Schönheit in der Dichtung oder nach der anthropologischen Dimension der Kunst – und ihre bisweilen überraschenden Antworten eröffnen dem deutschen Leser eine neue Sichtweise auf die russische Literatur und helfen gleichzeitig, Sedakowas eigene Gedichte zu interpretieren.
hochroth Verlag, Ankündigung
Jan Kuhlbrodt: Der vielfache Puschkin
signaturen-magazin.de
Hendrik Jackson liest bei WEST meets OST – Festival Der Freien Künste.
Olga Sedakowa liest beim Spoken-Word-Kunstfestival Живое слово: Post-Babel Condition am 2.12.2016 im Moskauer Stanislavsky Electrotheatre.
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