WAS MORENO ERZÄHLT
Für Rafael, den sie in meiner Jugend den Roten nannten
… Jedes Leben schien mir freizustehen, das Schicksal
aaaaawählte dieses,
dieses Leben war kein Leben und doch nichts anderes
aaaaaerreichbar –
mit sechzehn Jahren aus Jugendträumen in den Krieg
aaaaageworfen,
verbrachte ich meine Frist zum Greisenalter in Nachtgewölben,
und wenn mir die ersten Jahre in der Konservenfabrik,
auch später im Stahlwerk noch kein Wort gelang, ich schwieg nur,
weil meine Qual mich verschlossen hielt dem gefeierten Sieg,
der Einsicht in die Normalität, Handlanger zu sein am Gerät,
und wenn mich die Kollegen fragten nach der Asturienfront,
dem Stahlgewitter, blieb ich lange Zeit nur verlegen und stumm
und vernahm bitter ihre deutschen Heldengeschichten,
aber mit den Jahren wurde es zu dumm wie sie Freiheit priesen
und die Reste von Schrecken und Scham verlorengingen
an nächtigem Ort, da wir standen, glutsaufend im Funkenregen,
und ich sagte ihnen nach der Schicht bei Bier und Korn:
Unser Land war kein triumphierender Verbrennungsmotor
Von Jasagern gespeist mit den Leibern von Lebewesen,
unser Land war ein Stier auf Knien und wir seine Wunden
die vor Kälte schwitzen, sein Horn das Staub pflügt, zitternde Weichen,
Nüstern die Flocken werfen, Granatapfelschleim, zuckende Nerven,
blutunterlaufene Augen die Zorn und letzte Pein bekunden,
von der Welt begutachtet, in der Arena ausgestellt
unter frommen Witzen, mit welchen Händler Waren verkauften
im Seidentuch das Wut trügt wo Fabrikanten siegen,
ein Scheckbuch überreicht mit Handschuh und galanten Scherzen,
nachdem wir starben bei Fliegendreck und roten Fontänen,
hinter blakenden Kerzen und dem Leichengeruch der Erde,
während die Sonne schrie in schwarzen Strähnen und zerbrach im Sand -…
zwischen dem Dämon des Alpdrucks und dem Purpurvogel einer Wiederauferstehung aus Asche, eine Kehre oder gar ein Kehraus sich in schwarzem Feuer auf weißem Feuer hinter dem Titel eröffnen, alles oder ein ganz anderes, bleibe der Entscheidung des Lesers vorbehalten, der bereit ist, ein Labyrinth zu durchlaufen, das wie alle Labyrinthe mit Verirrung und Verlust droht, ebenso wie es Erhellung und Bergung verspricht. Ganz offenkundig aber wird die Drohung der Sprache imperialen Besitzstandes gebrochen durch eine kleinaisiatische Anwesenheit, ein Licht das den Verfall durchgeistert, dem entropischen Alpdruck der herrschenden Ordnung Notdurft, Hoffnung und Wahngebilde, wie etwa einer jener griechischen Philosophien, die als Sprach- und Morallehrer in den stimmenüberwucherten und kotstinkenden Vierteln des niederen Volkes ihre Tage fristeten, Zeugen der Gebräuche, der Erniedrigungen und der Exzesse, gerade am Leben gehalten durch Zöglinge, welche in Sprach-, Moral- und Verslehre zwischen Ausschweifung und Karrieregründung von ihnen unterwiesen wurden und hinter manch widerständigem Wort ein Gewissen sich bildeten. Wenn also Kampf, dann zwischen zwei Sprachen, zwei Schichte, zwei Zeiten, der synchronischen und der erinnernden, und dementgegen was auf der Eins beruht und nicht auf der Null, sei die Zahl nicht Hinweis auf eine binäre und wiederum mythische Darstellung, sondern auf Vielgestalt.
Dieses Buch ist der erste Teil einer sukzessiven und, dem Bedarf der Teilung in Einzelbände Folge leistend, neugeordneten Herausgabe der Texte eines Buches, dessen Titel „Kataskopos“ lautet, welcher den Späher und geistigen Neuordner der Erscheinungswelt im Kosmos der Stoiker bezeichnet, eines Buches, dessen Lektüre in ursprünglicher Gestalt nach Herausgabe des letzten Bandes durch einen Appendix dem Leser ermöglicht werden soll und dessen veränderte Zusammensetzung und Mehrung durch Teilung zwar den Erfordernissen der Warenform entspringt, aber eben dieses, da seine dergestaltige diverse Lesbarkeit dem Ansinnen des Kataskopos in die Spur läuft.
Oliver Mertins, Druckhaus Galrev, Klappentext, 1994
die sich mitunter hoffnungslos in Philosophie verstrickt, um sich letztlich jedoch um so aufwendiger herauszukämpfen und ein Leuchten freizusetzen, das uns selbst dort, wo verlorene Menschen in entfernten Landschaften plötzlich in verzweifelter Nähe erscheinen, noch daran erinnert, daß Schöpfung Geheimnis ist, entgegen aller Entzauberungserfolge in den Laboratorien der Moderne… Wir sind … die Zeugen einer von den Rändern her spürbaren gewaltsamen Weltauflösung. Wir sind nicht Agenten derselben. Das heißt, die vielen einzelnen Stimmen aus biografieschwerem Flugstaub … sind durch die Bank weg Zeugen der Zerstörtheit eines alten Weltvertrauens, also nicht zuletzt auch derjenigen eines Privilegs der Kindheit, und somit sind sie die Gegenspieler einer das Gedächtnis würgenden Abspeisung und massenhaft narkotisierten Psyche mit siliziumhaltigen Bewußtseinskeksen. Ergänzt wird das Werk durch eine Anzahl von Fotographien Bernd Markowskys, der sie aus osteuropäischen, indischen und afrikanischen Orten wie zum Gespräch mit den Texten beigegeben hat, Fotografien voller Momente eines Lebens zwischen den Kampfhandlungen, Bilder, … die wie vollendete Tatsachen aussehen, wie eingefrorene Zerrüttungen, aus denen sich zuweilen etwas zu lösen scheint, etwas Rätselhaftes, etwas magisch Lauerndes, das jeden Augenblick aus seinem mühsahmen Schwebezustand in das große Unglück seiner Verursachung zurückfallen kann.
Andreas Koziol, Druckhaus Galrev, Programmheft, 1994
des, nicht ganz unmodisch nach Verschwörerlatein klingenden Titels „incubus versus phoinix“ ist in Berlin geborener Berliner. Oliver Mertins’ Verlagsdebüt erweist sich jedoch bereits beim sporadischen Querlesen als eine Anthologie eines an translokalen Erfahrungen und Abenteuern geschulten Denkens, das den weit über den ansässigen Horizont hinausgreifenden Versuch unternimmt, die Erzählungen, Gedichte, Essays sowie blütenstaubartigen Partikel eines philosophisch verwurzelten Naturells zu belesenen Patiencen aufzufächern. Von früheren Reisen durch Europa, Asien, die USA und die Südsee brachte er Bilder von Katastrophen und Versprengungen mit, die er seiner Arbeit zugrunde gelegt hat, um mit sozusagen sachgemäß gesträubtem Pinsel uns eine Geschichte des Fortschritts auszumalen, wie sie komplizierter in ihren Entwicklungslinien und eindeutiger in ihren Zerschlagungen kaum sein kann. Oliver Mertins war vor Ort der Bürgerkriege in Sri Lanka und Kashmir, und er bereiste das Bangla Desh der Militärdiktatur. Seine zivile Anteilnahme an den Schauplätzen des blutigen Erbes westlicher Kolonialwirtschaft entspricht so souverän einem Verhalten, vor dem die Reisebüros ihre Kunden gemeinhin zu warnen haben, daß man sich zu der Versicherung genötigt fühlt, es handele sich bei ihm keineswegs um einen Abenteuerurlauber, dem der einheimische Boden unter den Füßen vielleicht nur zu erdbebensicher gewesen wäre. Nein, wie sehr es in seinem Buch nicht einmal mehr um die des eitlen Kicks wegen in die Fremde gehende Vermehrung der großen Erschöpftheit geht, die noch erst gestern unter dem Epochenbegriff Dekadenz dasselbe bedeutete, was sich heutzutage unter so vielen Decknamen verbirgt, daß man die unterhaltende Literatur der halben Gegenwart als ein einziges undercover-Phänomen anzusehen geneigt ist – daß dieses es nicht ist, beweist ein durchgehender Generalton der Einmischung, des solidarischen Bedenkens und der mit allen tieferen Wassern gewaschenen stilistischen Abstinenz gegenüber der billboard-Sophistik des Zeitgeistes. Und so ist es verständlich, wenn die Gedichteabteilung dieses Lesebuchs z.B. die geschmäcklerischen Schockfarben der Eigenwerbung vermissen lässt und ganz dem Auftrag gewidmet ist, in die jeweils fatal verfahrenen Kisten von Einzelschicksalen hineinzulauschen, zuzuhören dem, „Was Moreno erzählt“, „Was Sergej erzählt“, „Was David erzählt“, oder „Was Alexander, Ana, Wassili und der Nachbarinnenchor erzählen“:
… und vierzig Jahre hinter Barackenwänden, dem Glauben zum Hohn
wie Lotophagen lebten wir am Ort des Vergessens
wo überlebt wer es bis zu den Schneeglöckchen schafft,
eine Ähre im Glied, von der Frau verlassen, ein Halm im Ried,
wird die Fabrik rationalisiert im Namen der Freiheit
und niemand der mich jetzt noch kennt, da mit dem Generationentraum
und zupackenden Fäusten auch der Kirschbaum gefallen,
und von den weinenden Kindern in Eisenbetten belohnt wird
wer den anderen verpetzt und verschont wer in Parolen schwätzt,
von paradiesischen Früchtetrauben und traumhohlen Leben
blieben nur Ware, Verkäuflichkeit, Untergangsgerüchte,
ein Kanister Aceton und Fischmünder Schweißes auf meiner Haut
die sich öffnen und schließen bevor Flammen aus mir sprießen
wie früher die Fahnen im Mai auf den Umzugskarren,
wie aus dem Dorf, Hühnern und Schweinen, bis wir die Deutschen vertrieben
für den Heimatsamen, in Münder wachsenden Lebkuchenstern,
als Leute zusammenhielten die heute Brot im Wald verscharren
…
Die Reihe solcher epischen Eselsbrücken zur Erinnerung an eine Lebensschicht an den Rädern Europas, die von ganz anderen Scharen als denen einer ruralen Urbarmachung langsam aber sicher untergepflügt werden, wird von tief in den Zitatenfundus der Geistesgeschichte greifenden Essays oder essayistischen Erzählungen gerahmt, die das eine enorme Verhängnis behandeln, welches der verkabelte und sonst wie intermediär sich eingestöpselt gerierende Zeitgenosse allzu weltmännisch für kein Problem zu halten scheint: Nämlich die weltweit zu vernehmende Vernichtung der Entfernungen und Differenzen zwischen den Kontinenten und Kulturen, die zunehmend kritischer als eine Art globale Konkursmasse des abendländischen Spekulierens auf den sog. Fortschritt in der digitalen Kartografie einer brave new world zu verschwinden drohen. Wer meint, daß sich ein Dichter bei einer ernsthaft vorgenommenen Wälzung solchen Problemen so manche Fraktur zuziehen muß, der liegt nicht verkehrt. Nur daß derlei Gebrochensein nicht das Ergebnis einer von allen Grundlagen der Dichtkunst verlassenen Selbstüberschätzung ist, sondern die logische und natürlich gar nicht neue Folge jeder einigermaßen freischaffenden Verbündetheit mit dem positiven Wissen unserer Ära. Neu jedoch mutet der Versuch an, vor allem in den Essays, den traditionellen Pakt des Poeten mit der Hoch- und der Subkultur in einer äußersten Konzentriertheit auf die Erfahrung der Gewalt und deren kulturbeschützende Anwendungsmechanismen zu denken und Wege zu einer Lösung und Reformierung dieses Paktes zu suchen. Es sind dies die Wege einer Poesie, die sich mitunter hoffnungslos in Philosophie verstrickt, um sich letztlich jedoch um so aufwendiger herauszukämpfen und einen Glanz freizusetzen, der uns selbst dort, wo verlorene Menschen in entfernten Landschaften plötzlich in verzweifelter Nähe erscheinen, noch daran erinnert, daß Schöpfung Geheimnis ist, entgegen allen Entzauberungserfolgen in den Laboratorien der Moderne. Und Glanz, das sei hinzugefügt, die Aufgabe und zugleich Zweck der Poesie – eine Selbstverständlichkeit, der von unserer allseitigen Designerschaft allmählich das Blut ausgesaugt wird: ein Vorgang, dessen Unappetitlichkeit täglich über Antenne Satellit konsumierbar ist. Der Berliner, sagen wir: Dichterphilosoph Oliver Mertins läßt die labyrinthische Textordnung seines Bandes um die Gewißheit kreisen, daß es gut wäre, dem zum Malstrom gewordenen circulus vitiosus aus Wachstumswirtschaft und Quellenvernichtung, Wohlstandsverteidigung und Elendsvermehrung nicht die psychosoziale Entsorgungseinrichtung des kultmedialen Entertainments, sondern den Entschluß zur Zeugenschaft entgegenzusetzen. Wir sind, so läßt sich seine Prämisse deuten, die Zeugen einer von den Rändern her spürbaren gewaltsamen Weltauflösung. Wir sind nicht Agenten derselben, das heißt, die vielen einzelnen Stimmen aus biografieschwerem Flugstaub, philosophisch gefederten Sprüngen in die Wirbel der Zeitströmungen und metaphernkühn konstruierten Liebes- und Kriegserklärungen an die moderne und nachmoderne Existenz, die das Buch zu einem literarischen Hörsaal oder Bahnhof schwarzer Perspektiven machen, sind durch die Bank weg Zeugung der Zerstörtheit eines alten Weltvertrauens, also nicht zuletzt auch derjenigen eines Privilegs der Kindheit eines alten Weltvertrauens, und somit sind sie die Gegenspieler einer das Gedächtnis würgenden Abspeisung und massenhaft narkotisierten Psyche mit siliziumhaltigen Bewußtseinskeksen. Ergänzt wird das Werk durch eine Anzahl von Fotografien Bernd Markowskys, der sie aus osteuropäischen, indischen und afrikanischen Städten wie zum Gespräch mit den Texten beigegeben hat, Fotografien voller Momente eines Lebens zwischen den Kampfhandlungen, Bilder einer massenhaften wie individualen Versehrtheit, die wie vollendete Tatsachen aussehen, wie eingefrorene Zerrüttungen, aus denen sich zuweilen etwas zu lösen scheint, etwas Rätselhaftes, etwas magisch Lauerndes, das jeden Augenblick aus seinem mühsamen Schwebezustand in das große Unglück seiner Verursachung zurückfallen kann. Die von Oliver Mertins selber vor den Anfang seines „incubus versus phoinix“ gestellte Ankündigung der Leserart des (auf mehrere Bände konzipierten ) Konvoluts geht so: „Ob ein mythischer Kampf zwischen dem Dämon des Alpdrucks und dem Purpurvogel einer Wiederauferstehung aus Asche, eine Kehre oder ein Kehraus sich in schwarzem Feuer auf weißem Feuer hinter dem Titel eröffnen, alles oder ein ganz anderes, bleibe der Entscheidung des Lesers vorbehalten, der bereit ist, sich auf dieses Symposion einzulassen; bereit, ein Labyrinth zu durchlaufen, das wie alle Labyrinthe mit Verirrung und Verlust droht, ebenso wie es Erhebung und Bergung verspricht. Ganz offenkundig aber wird die Drohung der Sprache imperialen Besitzstandes gebrochen durch eine kleinasiatische Anwesenheit, ein Licht, das den Verfall durchgeistert, dem entropischen Alpdruck der herrschenden Ordnung Notdurft, Hoffnung und Wahngebilde, die etwa eines jener griechischen Philosophen, die als Sprach- und Morallehrer in den stimmenüberwucherten und kotstinkenden Vierteln des niederen Volkes ihre Tage fristeten, Zeugen der Gebräuche, der Erniedrigungen und der Exzesse, gerade am Leben gehalten durch Zöglinge, welche in Sprach-, Moral- und Verslehre zwischen Ausschweifung und Karrieregründung von ihnen unterwiesen wurden und hinter mach widerständigem Wort ein Gewissen sich bildeten. Wenn also Kampf, dann zwischen zwei Sprachen, zwei Schichten, zwei Zeiten, der synchronistischen und der erinnernden, und dem entgegen, was auf der Eins beruht und nicht auf der Null, sei die Zahl nicht Hinweis auf eine binäre und wiederum mythische Darstellung, sondern auf Vielgestalt.“…
Andreas Koziol, Ostragehege, Heft 6, 1996
Christiane Gaebert: Was kam und was blieb. Wer war Oliver Mertins?
Oliver Herz&Hand, mensch wo bist du ? Mascha,
Vielleicht triffst du ihn in der Eisackstrasse 36 oder telefonisch unter 030-47369278