GANG IM ALLEINSEIN
Sterne sickern kalt durch schlaffe Zweige,
Die, gebannt, nach Unsäglichem langen,
Weich in ihrer Schatten leichter Neige
Schwacher Vögel Rasten sich verfangen.
Mädchenhaft das Tuch des Wegs sich breitet,
Weiße Pfosten wandeln sich zu Gliedern,
Und die Frische junge Gräser weitet,
Die, verherrlicht, ihren Sang erwidern.
In mir wachsend, von Verhaltnem schwankend,
Schwenkt die Nacht ins Feld die trunknen Schritte,
Und gewaltig, schwer um mich sich rankend,
Nimmt die Landschaft mich in ihre Mitte.
Die andere Stimme hat Oscar Walter Cisek die zu einem strengen Band zusammengeschlossenen vierzig Gedichte überschrieben, die er 1934 im Verlag von Wolfgang Jess, Dresden, veröffentlichen ließ, und eine völlig andere als die uns aus seinem breiten epischen Werk vertraute Stimme tönt uns aus ihnen entgegen. Vergeblich wird man in ihnen das suchen, was seinen mit gelassener Ruhe gestalteten Landschafts- und Siedlungsromanen, seinen mit gewissenhafter Akribie erzählten Novellen das Gepräge verleiht: jene für den Erzähler Cisek so bezeichnende „Augengier“, seine Freude an jeder Einzelheit der geschauten Umwelt, seine bohrende Beobachtungsgabe. Seine Lyrik scheint aus ganz anderen Quellen gespeist, ganz anderen Gesetzen unterworfen. Nur schwer läßt sich eine innere Beziehung zwischen Cisek, dem Epiker, und Cisek, dem Lyriker, entdecken – es sei denn, daß der stets wache, die Einbildungskraft und überschäumende Bildfülle zügelnde Kunstverstand beiden gemeinsam ist. Aber nicht nur innerhalb seines Schaffens nehmen diese Gedichte eine Sonderstellung ein, auch in das Gesamtbild der lyrischen Dichtung der Zeit lassen sie sich nur schwer einordnen; auch unter diesem Gesichtspunkt stehen sie sehr allein da, und nur so läßt es sich erklären, daß dieser ungeachtet seines schmalen Umfangs so gewichtige Band nicht lebhafteren Widerhall in seiner Zeit fand. Man vergegenwärtige sich die allgemeine Lyriksituation der Jahre, in der diese Gedichte entstanden: Der laute expressionistische Sturm war verrauscht, selbst seine letzten, verspäteten leiseren Nachklänge waren verhallt, um neuen, mit Macht vorandrängenden Strömungen Platz zu machen: einerseits der durch einen Victor Wittner, einen Erich Kästner, einen Erich Weinert und andere im Großstadtalltag und in der Zeitbezogenheit verankerte Dichter vertretenen Neuen Sachlichkeit, anderseits dem Magischen Realismus, der die im Verlauf einer jahrzehntelangen Entwicklung von Verflachung und Versimpelung bedrohten Landschafts- und Naturlyrik mit mythischen, ja mythologischen Elementen bereicherte und in einer Reihe bedeutender poetischer Gestalter wie Oskar Loerke, Wilhelm Lehmann, Elisabeth Langgaesser und Peter Huchel seinen Höhepunkt finden sollte. Cisek ging andere und eigene Wege. Seine durchaus eklektischen expressionistischen Anfänge hatte er, in der klaren Einsicht, daß die von ihm selbst bis zur Karikatur gesteigerte Überhitztheit und Wortgeballtheit jener in epigonalen Nachahmungen großer Modelle verebbenden Richtung seinem inneren Wesen nicht entsprachen, sehr früh überwunden und suchte, unbeeinflußt von Tagesmoden, nach eigenem Ausdruck für die Offenbarung seiner Innenwelt im Wort. Und da geschah nun das Seltsame, auf das mit besonderem Nachdruck hingewiesen sei, daß er, wenn auch auf ganz anderen Wegen und in einer ganz anderen Sprach- und Bildatmosphäre, jenseits allem Radikalismus und alles Umstürzlerischen zu ähnlichen Ergebnissen gelangte wie um die gleiche Zeit André Breton und seine Pariser Surrealistenschule. Was sich in der deutschen Dichtung erst zwei Jahrzehnte später, nach dem Zweiten Weltkrieg, auf breiterer Ebene vollziehen sollte, die Loslösung des Wortes vom äußerlichen Sinngehalt, der Sprache von ihrer Mittlerrolle, ihrer Mitteilungsfunktion, hatte Cisek in diesem Ringen nach eigenem Ausdruck für sich selber erstritten und war damals damit allein geblieben; fiel es ihm doch auch gar nicht ein, Schule machen zu wollen, nach Gefolgschaft zu streben. Nichts anderes tat er, als die Wörter auf ihren heimlichen Klang, ihren verborgenen Sinngehalt zu prüfen, sie auszuloten, sie in bisher ungeahnte neue Zusammenhänge zu setzen, sie einer Bildlichkeit dienstbar zu machen, die nicht eine äußere, sondern eine im Rätselhaften und Vagen, im Traum beheimatete seelische Landschaft beschwört. So gelangt er, wohl in der Nachfolge Trakls und von Rilkes Elegiendichtung, aber auf sehr individuelle Weise, zu einer für jene Zeit noch recht ungewöhnlichen Hermetik, die sich dem deutenden Sinn nur schwer oder kaum erschließt und – bei einem so ausgesprochenen, der realen Welt mit allen Sinnen aufgeschlossenen Augenmenschen wie Cisek nahezu unbegreiflich – eher musikalische als bildhafte Eindrücke weckt. Ein sehnsüchtiger Gefühlsstrom durchzieht manche dieser Gedichte, viele sind geheimnisumwittert, symbolträchtig, wie im Traum vor sich hingesprochen: raunende Litaneien eines Entrückten, eines nach Gemeinsamkeit Strebenden, dem alles Landschaft, Jahreszeit, Kindtum, liebende Vereinigung – zum dichterischen Erlebnis wird. Wohl lassen sich ferne Beziehungen zu Trakl, mehr noch zu dem späteren Yvan Goll konstruieren, der um die gleiche Zeit, ebenso unbeachtet, ebenso auf sich selbst gestellt, wenn auch in räumlicher Nähe der ihm befreundeten Pariser Surrealisten, ähnliche Wege ging, eher aber deutet Ciseks Metaphorik, seine Fortwendung von der Mitteilungssprache denn doch in die Zukunft, zu Paul Celan und Ernst Meister etwa; aber der Ton von Ciseks Gedichten bleibt unverwechselbar und nur ihm allein eigen.
Die Frage erbeht sich nun: wie gelangte Cisek zu diesem ihm eigenen Ton, diesem unnachahmlichen Sprachzauber, der ausnahmslos allen Gedichten der Anderen Stimme ihr Gepräge leiht? Ist die Behauptung gewagt, daß es ein einziges Gedicht aus dem lyrischen Gesamtœuvre des großen Frühexpressionisten Georg Heym war, das sich dem nach eigenem Ausdruck ringenden Dichter als Ursprung und Wegziel angeboten haben mag? Aus des Dichters eigenem Munde wissen wir, welchen Zauber Heyms Gedicht „Deine Wimpern, die langen“ in seiner Jugend auf ihn geübt, wie lange es in ihm nachgewirkt, welche Rolle es für seine Entwicklung gespielt hat. Es ist eines der ganz wenigen auf den Reim verzichtenden Gedichte Heyms. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß die Berückung, die Cisek durch dieses Heymsche Gedicht erfahren hat, ausschlaggebend für die Herausbildung seiner lyrischen Aussage war. Man lasse etwa die folgenden Strophen aus Heyms genanntem Gedicht auf sich wirken:
An den Feldern verwächst,
Wo der Wind steht, trunken von Korn,
Hoher Dorn, hoch und krank
Gegen das Himmelsblau.
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Oder wir treten hinaus
Vom Schatten der goldenen Wälder,
Groß in ein Abendrot,
Das dir berührt sanft die Stirn.
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Göttliche Trauer,
Schweige der ewigen Liebe,
Hebe den Krug herauf,
Trinke den Schlaf.
Und nun lausche man sich mit dem inneren Ohr in einige, verschiedenen Gedichten entnommene Strophen aus Ciseks Anderer Stimme hinein:
Treiben die Wasser des Schlafs
Dahin deinen kindlichen Leib,
Wächst der Traum dir wie Schilf
Aus mooriger Tiefe ins Licht.
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Weiße Flamme der Erde,
Erblüht aus der Tiefe Herd.
Mein Leib kommt zu dir,
Ein schmaler und lockender Strahl.
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Verwundeter Wachteln Flug schwankt,
Ein Geheimnis, über dein nacktes Herz,
Um des Leibes schwärmenden Strahl
Wirbt zitternd der Fluß.
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Um deinen Gang wird das letzte
Erblassen der Weite noch farbig.
Du bist letzter Minzenduft
Im verrosteten Land.
Wohlgemerkt: nicht von Nachahmung kann hier die Rede sein, sondern nur von vermutlich ursprünglich unbewußter, gefühlsmäßiger Übernahme einer Klang- und Sprachatmosphäre, in die der Dichter seine durchaus persönliche Erlebnis- und Bildwelt bettet.
Der vorliegende Band enthält indessen nicht nur die sein Kernstück bildenden vierzig Gedichte der Anderen Stimme, die einzigen, die der Dichter für würdig befand, dem Leser in Buchform dargeboten zu werden, sondern auch eine Auswahl aus seinem Jugendschaffen (etwa aus den Jahren 1909 bis 1925) und eine Auswahl von Gedichten aus den Jahren später Reife – 1947 bis 1955.
Die frühen Gedichte, von denen einige – die ersten – in siebenbürgischen Zeitschriften der frühen Zwanzigerjahre: „Frühling“, „Ostland“, „Das Ziel“ – erschienen, zeigen, in welchem Maße der Dichter in seinen Anfängen dem Expressionismus verpflichtet war. Großstadteindrücke wechseln mit ekstatisch übersteigerten Naturvisionen, die in dichtgeballter, bildüberladener, barocker Sprache, doch unter Wahrung konventioneller Strophen- und Reimformen, hinausgekeucht scheinen. Titelüberschriften wie „Nervöser Abend“ und „Großstadtgram“ lassen aufhorchen; man erinnert sich, daß Cisek in seiner Jugend mehrere Gedichte von George Bacovia ins Deutsche übertrug, und glaubt in diesen lichtlos-schattenhaften Stadtvisionen die Einwirkung dieses seltsamsten unter den rumänischen Poeten der vom Symbolismus geprägten Epoche wahrzunehmen. Persönliche Begegnung mit dem bild- und sprachgewaltigen Visionär Theodor Däubler wird dem Dichter zum Erlebnis und hinterläßt deutliche Spuren in seinem Jugendschaffen. Aus der Verbindung dieses Erlebnisses mit jenem der italienischen Landschaft, die lange Zeit im Mittelpunkt auch von Däublers Dichtung stand, erwachsen die Däubler gewidmeten italienischen Landschaften und Erinnerungen, die Cisek auf einer bis dahin nicht erreichten Höhe der Gestaltung zeigen. Da gibt es Strophen, die sich in ihrer Bildkraft und Anschaulichkeit dem Bewußtsein einprägen, wie etwa die folgenden aus dem Gedichtzyklus „Erinnerung an Italien“, der seinerzeit, Däubler gewidmet, in der Prager Presse erschien:
Olivenhaine taumeln an die Küste,
Ein letztes Lodern auf verzückten Schwingen,
An Hängen schweben Reben wie Gerüste,
Die jedes Gold des Tags in Trauben singen.
………………………………………………..
Breit ruht der Mittag auf dem Moos der Dächer;
Er blinzelt müde dann beim Lärm der Ställe
Und hebt den Flaum der sanften Wolkenfächer
Empor ins maßlos volle Blau der Helle.
Hier ist die Nähe Theodor Däublers deutlich fühlbar. Aber auch die einheimische rumänische Landschaft reizt ihn zur Versgestaltung, und da ist es interessant zu beobachten, wie sehr er – etwa in den Gedichten „Rumänischer Oktober“ und „Kronstädter Frühling“ – seinen Generationsgenossen unter den rumänischen Lyrikern, einem Adrian Maniu, Lucian Blaga oder Ion Vinea, in Bild und Ausdruck nahekommt:
Auf Wegen fließt das Blinken
Der Weiher. Ihr Schaum erstarrt,
Von den irrenden Tieren lang genarrt,
Bis Schatten wie Mönche vorüberhinken.
Oder:
Die Tiere sind feuchtes Moos,
In ihnen erlöst sich der Erde Blut,
Und Bären treiben schwarz und groß
Wie Stämme durch der Wälder schwanke Flut.
Die Gedichte der späten Zeit, der Vierziger- und Fünfzigerjahre, sind verhaltenes Selbstgespräch des Einsamen und Zeugnisse der liebenden Hingabe an den Nächsten – den Freund, die geliebte Frau, an ein Kind. Zwischen Schlaf, den lockenden, gaukelnden Täuscher, und Schmerz, den durch seine Lohe Läuternden, die er beide brüderlich anspricht, wie der Bruder Seraphicus im Sonnengesang das himmlische Licht, sind die Gedichte dieses Abschnitts gestellt. Aller dichterischer Ehrgeiz ist aus diesen nach schlichterer Aussage strebenden Versen gewichen. Der Dichter ringt längst nicht mehr nach dem Lorbeer des Lyrikers, nur dem Zwang des nach Aussage drängenden Erlebnisses fügt sich die Feder. Für den Ausdruck solch persönlichen Bekenntnisses geht der Dichter hinter den Expressionismus zurück zur gelöst-schwebenden, verhauchenden Sprachwelt Hofmannsthals und Carossas, der von ihm hochgeschätzten. In mancher dieser Strophen öffnet der Dichter sein liebendes und mitleidendes Herz – nirgends tritt uns sein Wesen, das den Freunden unvergeßliche, mit solcher Wärme und behutsamen Zartheit entgegen. Wie ein Vermächtnis über den Tod hinaus empfindet man diese Gedichte, deren Klang einem nachgeht bis in die stillste Stunde der Verlassenheit. Wehmütige Verzauberung geht von mancher Strophe dieser lyrischen Selbstgespräche aus:
Alles war einst leicht. Die Engel
Gingen bei uns aus und ein;
Nun gewährt die Gnadenfrist mir
Scheu der kleine Kerzenschein.
Oder:
Obdachloses Herz,
Gehst so lang ins Land,
Niemand hast du, niemand
Weit und breit erkannt.
Sterne, viele Sterne
Über dem fremden Haus –
Wo willst du bleiben?
Wo denn schlafen aus?
Und beschwichtigst doch nur wieder
Was dir heut die Wunde traf.
Wirst dir selber singen:
Schlaf, Kindchen, schlaf.
In diesem „Vertröstung“ genannten Gedicht, aber nicht minder in Gedichten wie „Weinlied“, „Späte Stunde“, „Herbstliche Weise“ und vor allem in „Im Alleinsein“ ist äußerste Schlichtheit erreicht.
März 1966 sind zwei Strophen eines nicht zu Ende geführten Gedichtes datiert, die man nach des Dichters am 28. Mai desselben Jahres erfolgten Hinscheiden auf seinem Schreibtisch fand. Sie sind sein allerletztes poetisches Vermächtnis. Nicht als Gedicht wollen sie gewertet sein, sondern als ergreifendes Bekenntnis des den leidenden Menschenbrüdern zugewandten, hilfsbereiten gütigen Menschen:
Alle Sterne sind im Wind zerbrochen,
Auf den Dächern klirren ihre Scherben.
Wein hat uns gelabt, den Traum versprochen,
Doch das Dunkel wird noch um mich werben.
Und ich möchte jetzt im gelben Schein
Einer Schenke froh mit Menschen sitzen,
Möchte jedem ein Gefährte sein,
Den Verwegnen nützen, die Betrunknen stützen…
Es ist erfreulich, daß uns durch die Herausgabe dieses Bandes die Möglichkeit geboten wird, Oscar Walter Ciseks lyrisches Schaffen kennenzulernen, das Zeit seines Lebens hinter seinem um so vieles umfangreicheren epischen Werk, dem in den letzten Schaffensjahrzehnten seine ganze Hingabe gehörte, zu Unrecht verborgen blieb.
Alfred Kittner, Nachwort, 2.6.1970
Das Kernstück der Auswahl bilden die 1934 bei Wolfgang Jess in Dresden unter dem Titel Die andere Stimme erschienenen 40 Gedichte aus den Jahren 1925–1933.
Einige der vor dieser Zeit entstandenen, z.T. sehr frühen Gedichte hat Cisek vor seinem Tod im Hinblick auf einen eventuellen Sammelband durchgesehen. Die hier erscheinenden 18 Jugendgedichte sind Erstveröffentlichungen nach Handschriften bzw. Abdrucke nach Periodika der frühen zwanziger Jahre. Wenn sie denen der Anderen Stimme oder den späten Gedichten auch nicht ebenbürtig sind, so scheinen sie nichtsdestoweniger für Ciseks innere Entwicklung und Geisteshaltung von Bedeutung.
Die 15 späten sollten nach einem Plan des Autors mit anderen, nicht mehr zur Vollendung gelangten Gedichten in vier Zyklen zusammengefaßt werden, deren Überschriften („An den Schlaf“,„An den Schmerz“, „An die Lust“, „An den Tod“) das ganze Spannungsfeld Cisekscher Problematik umreißen. Der den Band einleitende „Lebenslauf“, eines der wenigen Selbstzeugnisse Ciseks, war ursprünglich für die Jahresschau des Suhrkamp Verlages (Heft 1, 1956) verfaßt worden.
Zuletzt sei hier noch der bereitwilligen Hilfe seitens der Witwe des Dichters, Frau Ioana Cisek, mit Dankbarkeit gedacht.
Die Redaktion
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