VERZWEIFLUNG
Wir blieben allein am Ufer des schnellsten Flusses.
Eingefädelt zwischen sich und mir möchte er pflücken
in der Umarmung.
Als tränke diese Welle keine Säfte.
Vom Grinsen der Träume ergriffen, strahlte ich aus Entzückungen,
ausgespült von der Liebe
am Ufer einer der schnellsten Ewigkeiten.
Das Schaffen Oskar Davičos deckt sich mit einem entscheidenden – und noch keineswegs abgeschlossenen – Kapitel moderner jugoslawischer Literaturgeschichte. Schon ein flüchtiger Blick auf die hier vorgelegten Gedichte zeigt jedoch, daß sich dieses Kapitel in einen breiteren Rahmen einfügt: in die Geschichte der modernen europäischen Poesie. Daher müssen auch die Voraussetzungen, die Davičos Entwicklung bestimmt haben, in diesem Zusammenhang betrachtet werden. Ein kurzer Rückblick auf einige prägende Momente der literarischen Situation nach 1900 läßt sich dabei nicht vermeiden. Um die Jahrhundertwende gewann die jugoslawische (genauer: die serbische, kroatische und slowenische) Literatur Anschluß an die europäische Moderne, sie vollzog, nach den Worten eines Kritikers, die „Wendung zu Europa“ und holte damit jene durch gesellschaftliche und politische Umstände bedingte Verspätung auf, die ihre Geschichte im neunzehnten Jahrhundert gekennzeichnet hatte. In den zwanziger Jahren erreicht dieser Vorgang einen vorläufigen Höhepunkt, sowohl in der Bereitschaft, Schritt zu halten, als auch in der künstlerischen Intensität der eigenen Beiträge zur modernen Dichtung: eine fruchtbare Rezeption des deutschen Expressionismus tritt bei einigen kroatischen und slowenischen Autoren zutage, französische Strömungen üben, namentlich bei serbischen Dichtern, eine nachhaltige Wirkung aus. Zugleich gab es Anzeichen dafür, daß man auch außerhalb des Landes gewillt war, von diesen Bestrebungen Kenntnis zu nehmen. Der Umstand etwa, daß Iwan Goll in der Zagreber Zeitschrift Zenit 1921 mehrere Beiträge (darunter ein „zentistisches“ Manifest) veröffentlichte, darf in diesem Sinn bewertet werden, und gewiß nicht weniger symptomatisch ist das Interesse, das die Redaktion des Sturm in den späteren zwanziger Jahren an der jungen Dichtung aus Jugoslawien bekundete.
Eine bereits extreme Position zeichnete sich ab, als 1930 in Belgrad eine literarische Gruppe an die Öffentlichkeit trat, die ein im schroffsten Gegensatz zur Tradition stehendes künstlerisches – und in gewisser Hinsicht auch politisches – Programm proklamierte: den serbischen Surrealismus (nadrealizam). Daß diese in Zeitschriften und Einzelpublikationen hervortretende Bewegung wesentliche Anregungen in Theorie und Praxis dem französischen Vorbild verdankt, ist niemals bestritten worden, am wenigsten von ihren Vertretern selbst. (In späteren Jahren lieferten auch französische Autoren Beiträge für die Belgrader Publikationen.) Eine besondere Färbung erfuhr der nadrealizam durch den Versuch, die Revolte gegen die literarische Tradition und den herrschenden Gesellschaftszustand mit verschiedenartigen ideologischen Elementen zu untermauern, so mittels einer Verbindung von Psychoanalyse und Gesellschaftskritik, wobei auch marxistische Gedankengänge, allerdings in sehr eigenwilligen Ansätzen, erkennbar waren. Zu den Mitgliedern, die das Gründungsmanifest unterzeichneten, gehörte auch Oskar Davičo.
Der junge Dichter lernte den Surrealismus an dessen Quelle erkennen, in Paris, wo er sich von 1926 bis 1928 als Student der Romanistik aufhielt. Zwei Jahre zuvor, 1924, war Bretons erstes surrealistisches Manifest erschienen; die neue, turbulente Kunstrichtung hatte merkliche Breschen geschlagen und lauten Widerhall gefunden; die ersten Gedichtsammlungen von Aragon, Eluard, Soupault, Crevel lagen vor – von Dichtern übrigens, deren Lebensläufe der Biographie Davičos streckenweise nicht unähnlich sind. Das literarische Klima dieser Stadt hat Davičo fraglos stark beeinflußt. Aber auch Erlebnisse anderer Art prägten sich ein, nicht weniger eindrucksvolle. In einer autobiographischen Skizze berichtet der Autor darüber:
Ich mußte mich durchzuschlagen versuchen, damit ich bleiben konnte, solange ich geblieben bin – zweieinhalb Jahre. Ich habe gearbeitet als Kellner, Gepäckträger, Sparringspartner in der Boxerschule George, als Sandalenschuster. Mit der Gruppe unserer Sandalenschuster ging ich zu den Versammlungen der Kommunistischen Partei, hörte Cachin und Thorez und andere, sang die Internationale.
Das war Paris. Zwei Jahre später, im Erscheinungsjahr des Belgrader Manifestes, veröffentlichte Davičo seinen ersten selbständigen Gedichtband: Anatomie (Anatomija), bezeichnet als „automatischer Text“.
Man wird diesen Band, betrachtet man ihn heute, genau so viel oder so wenig als Erzeugnis einer spontanen und authentischen „écriture automatique“ gelten lassen wie alle anderen surrealistischen Texte auch. Von entscheidender Bedeutung ist dagegen die Radikalität, mit der Davičo sich das neue poetische Idiom angeeignet hatte, überzeugt von der Notwendigkeit, auch in der Sprache Freiheit zu verwirklichen. Dieser Überzeugung ist der Dichter stets treu geblieben, sogar zur Zeit der Vorherrschaft der politischen Gebrauchslyrik in den vierziger Jahren. Seinem literarischen Werk liegt eine ungebrochene und folgerichtige Entwicklung zugrunde, worin die bei „engagierten“ Dichtern anderer Länder zeitweilig feststellbaren jähen Wandlungen in Thematik und Stil so gut wie ganz fehlen. Über die poetologischen Anschauungen, die sich in dem nunmehr fast vier Jahrzehnte umfassenden Schaffen ausgewirkt haben, unterrichten mehrere polemische Essays aus den fünfziger Jahren; sie sind eine authentische Quelle zum Verständnis von Davičos höchst komplexer, in der Sprachstruktur seltsam verschlüsselten Erfassung der Welt. Im Rückblick auf seine Pariser Jahre spricht der Dichter von der Faszination, die der Surrealismus auf ihn ausübte: trotz aller Vorbehalte sei diese Bewegung für ihn ein „großes Abenteuer schöpferischer Freiheit“ geblieben, auch nach der kritischen Überprüfung surrealistischer Positionen, die sich mit der Zeit als notwendig erwies. Das Prinzip der automatischen Schreibweise, des Stenogramms aus dem Unterbewußtsein, hielt nicht der Erkenntnis stand, daß dichterische Schöpfung ohne Beteiligung des Bewußtseins auf die Dauer weder möglich noch künstlerisch sinnvoll sei.
Durchs Fenster hinausgeworfen, fand die unerbittliche logische Kontrolle Eingang in die Füllfeder durch den Schornstein. Mit Recht.
Zur Besinnung auf eine künftige „Formel“ des Gedichts zwang die fünfjährige Kerkerhaft während der monarchistischen Diktatur; das Ergebnis war die – für Davičo auch heute noch gültige – Vorstellung von einer Dichtung, welche, politisch eindeutig Partei ergreifend, Poesie bleibt, d.h. ihrem eigenen Ausdruckszwang folgt. Das sei durchaus möglich, schreibt Davičo, unter der Voraussetzung freilich, daß Dichtung nicht auf Getrommel beschränkt werde – wobei der Dichter gut tue, auf die „Trommel“, keineswegs jedoch auf die „Trompete“ zu verzichten. Es sei im übrigen eine irrige Meinung, nur jene Poesie als „engagiert“ gelten zu lassen, die ihre Sprache den Wendungen der Alltagsrede entlehnt, die unmittelbar „verständlich“ ist; Lyrik, und Dichtung überhaupt, müsse die Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks wahrnehmen, Freiheit nicht nur zu verkünden, sondern auch im Wort zu realisieren. In der Poesie gibt es kein Zurück, meint Davičo; „oder es gibt keine Poesie“, lautet der apodiktische Zusatz.
Warum sollte man die Schiffahrt auf dem Ozean der Worte auf einen bescheidenen Küstenverkehr beschränken, nachdem wir schon so ferne Gewässer erreicht haben?
Diese in der Sprache liegenden Möglichkeiten des Gedichts aus künstlerischen oder sonstigen Gründen einzuschränken, hieße den Erfahrungsbereich des Menschen beschneiden, jenes Wesens, das „sein Leben aufs Spiel der Worte setzt“. Das Wort ist somit, zielt es auf die Wahrheit ab, auf die Widersprüche, Nöte und Hoffnungen der Menschen, ein „Verteidiger der Menschen“, auch wenn es im Gedicht in einem scheinbar noch so dunklen und verwirrenden Zusammenhang erscheint. Die Befremdung, welche die Sprache im Gedicht so oft hervorruft, beruht auf einem Mißverständnis: auf der Ansicht nämlich, sprachliche Zeichen seien Gebrauchsdinge, die lediglich im Dienst der begrifflichen Mitteilung sinnvoll seien; dieser „linearen“ Struktur, betont Davičo, widersetze sich die Poesie heute mehr denn je. Ein linearer, einschichtiger Gebrauch des Wortes, der auf alle Zwischentöne, Assoziationen, kurz: auf die Totalität der poetischen Wirkung verzichtet, sei für kreative Zwecke unmöglich geworden. Linear gebraucht, wäre die Sprache im Gedicht „zugänglicher“ – aber unwahr. Der Dichter könne sich daher in keinem Augenblick der Aufgabe entziehen, in seinen Hervorbringungen Neuland zu betreten und das noch Ungenannte – jedoch Wirkliche, weil in menschlichen Erlebnissen und Beziehungen in irgendeiner Form Existente – auf seine Weise auszusprechen. Sonst verrate der Dichter seine eigene Sache, er mache sich der „Fahnenflucht“ schuldig. – Das sind einige der Gedanken, die Davičo eines „Vormittags in der Küche der Poetik“ beschäftigten (so der Titel eines Essays von 1960).
Zieht man von Davičos Thesen das nüchterne Pathos und die polemische Schärfe ab, so treten im Extrakt Gedanken zutage, die der Poetik der modernen Lyrik im allgemeinen angehören. Manches klingt vertraut: „Worte in Freiheit gesetzt“, lyrische Chiffren, assoziative Reihungen, Gegenüberstellung von Disparatem (der Autor erwähnt, auf Lautréamont anspielend, die „Begegnung von Nähmaschine und Operationstisch“), absolute Metaphorik. Das gilt nicht minder für Davičos Gedichte. Man findet in ihnen nahezu alle Stilmerkmale, die einem beim Gang durch das Museum der modernen Poesie entgegentreten und die jenes neue (und inzwischen schon traditionsreif gewordene) lyrische Idiom von internationaler Prägung konstituieren. Dennoch bieten sich nicht wenige Kennzeichen an, die erlauben, von einer unverkennbaren Eigenart der Texte Davičos zu sprechen. Zunächst tritt diese Eigenart, behält man das Gesamtwerk im Auge, in der Thematik zutage: in den persönlichen und geschichtlichen Erfahrungen, die in diese Verse Eingang gefunden haben und denen zugleich, in so sublimierter Gestalt sie auch erscheinen, entscheidende Wendepunkte der jüngsten jugoslawischen Vergangenheit entsprechen. Namentlich in den Gedichten der Kriegs- und ersten Nachkriegszeit, in denen Davičo auch eine gewisse – zweckbedingte – Vereinfachung der Textur anstrebte, herrscht das Pathos der Revolution vor. Nicht geringer ist der in allen Phasen hervortretende Anteil des Lokalen, Landschaftlichen, ja Folkloristischen – die schwer bestimmbare Aura der geographischen und historischen Zone, aus der Davičos Kunst ihre eigentümlichen Farben, Klänge und Wirkungen gewinnt.
Es liegt auf der Hand, daß eine Dichtung, die gewiß keine „poésie pure“ im Sinne des 19. Jahrhunderts ist, bei der Übertragung in eine andere Sprache wesentliche Wirkungen einbüßt. Gerade bei der modernen Lyrik besteht dabei die Gefahr, daß ein Verlust der im Original vorhandenen Konnotationen nur noch beliebige Sprachstrukturen sichtbar werden läßt. Doch auch das Übersetzen ist (nur) eine Kunst des Möglichen. Im Falle Davičos muß man diese grundsätzlichen Schwierigkeiten sicherlich noch in erhöhtem Maße berücksichtigen. Viele seiner Texte sind schlechthin unübersetzbar, darunter einige seiner großen, besonders charakteristischen Gedichte; und es ist kaum noch notwendig, danach zu betonen, daß eine Auswahl von Übertragungen nur eine beschränkte und in manchem auch notgedrungen unzulängliche Vorstellung von Davičos poetischer Potenz zu geben vermag. Der Grund dafür liegt in der Sache selbst, in der Vielschichtigkeit seiner Sprache. Davičo, dessen Stärke mehr die Fülle als die Sparsamkeit ist, zieht alle Register: surrealistische Metaphorik wird mit volksliedhaften Wendungen angereichert, Rotwelsch und Pokerjargon stehen neben archaischen Prägungen, verblüffende Neologismen neben Formeln aus Kinderliedern und Abzählreimen, saloppe Umgangssprache verschränkt sich mit mythologischen Reminiszenzen, Fachterminologie mit Mundartlichem und Provinzialismen. Man hat diese Vielfalt fälschlich als „barock“ bezeichnet; doch das hier angewandte Verfahren widerspricht grundsätzlich dem rationalen Gliederungsprinzip barocker Häufungen und Antithesen. Davičos Sprache ist, mit wenigen Ausnahmen, weder rhetorisch gemeint noch rhetorisch strukturiert; sie folgt dem Gesetz oder, wenn man so will dem Zufall der Assoziation, der lautlichen, semantischen, syntaktischen. Der Sprachstrom, der zugleich ein Bewußtseinsstrom ist, saugt dabei scheinbar wahllos eine Unmenge individueller und kollektiver Erfahrungen auf, mythische und historische Schichten freilegend, die sich in langwährenden Prozessen in Zeit und Raum sedimentiert haben. Die Dichte der Bilder aus verschiedensten Vorstellungsbereichen ist das Ergebnis eines Komprimierungsverfahrens, das kürzt, rafft und ausspart, damit aber auch ungeahnte Verbindungen schafft, die neue poetische Impulse ausstrahlen.
Es gibt kein unverständliches poetisches Bild, das nicht erklärt werden könnte, indem man den ganzen, unverkürzten Satz ausspräche, den das Bild in sich aufgesogen hat. Jedoch würde es damit aufhören, Bild zu sein und unter anderem auch jenes großartige Mahnmal zu sein, das die Gesellschaft in Gestalt der Poesie errichtet hat, der Poesie, in der die Ökonomie des menschlichen Denkens nicht weniger wirksam ist als das immerzu andauernde Erfinden neuer Möglichkeiten, neuer Bildtypen, neuer Beziehungen und Ausdrücke. In der Welt. In den Menschen. (Davičo)
Durch den Reichtum des Materials und der sprachlichen Imagination gewinnt Davičos Dichtung eine zusätzliche Dimension; sie entgeht der Gefahr, steril zu werden oder sich auf ein bestimmtes Sprachmuster festzulegen, etwa auf die stereotype surrealistische Genitivmetapher. Allerdings steigen damit auch die Forderungen, die an die Rezeptionsfähigkeiten des Lesers gestellt werden. Kommt es auf das philologische Verstehen an, wird man angesichts zahlreicher Texte zu Wörterbüchern greifen müssen – eine Situation, die einem beispielsweise von Begegnungen mit der modernen deutschen „Naturlyrik“ her vertraut ist. Auch bei Davičo tritt Vegetatives – wie überhaupt Zeichenhaftes aus dem organischen und anorganischen Bereich – in auffallendem Maße hervor, zuweilen in ungestüm sich entfaltenden Bildreihen, nicht unähnlich dem chaotischen Gewirr von Gewächsen und Schlingpflanzen auf den Tableaus von Max Ernst. (Ein Gedichtband heißt, mit vielfachen Bedeutungsschwingungen, Flora; darin ein Gedicht, das „Im Namen der Pflanzen“ spricht.) Ähnlich verhält es sich mit den mythologischen Chiffren und Anspielungen; sie tauchen in überraschenden Zusammenhängen auf und reichen von der Volksmythologie (Basch-Tschelik als grausames Fabelwesen, Verkörperung blutrünstiger Macht) bis zum antiken Kairos (Titel eines Gedichtbandes von 1959). Als Symbol der ewig fliehenden Zeit, aber auch des zukunftsträchtigen Augenblicks erscheint Kairos als ein Leitbild von Davičos Poesie überhaupt: ihres Schweifens in die Vergangenheit auf der Suche nach der verlorenen Zeit der Kindheit, ihrer Wachträume aus einer vergangenen Welt – und ihres Verlangens nach dem vielleicht doch einst einholbaren Augenblick, dem die Sehnsucht der Dichtung gilt.
Die Gedichte der letzten Jahre bestätigen den Eindruck, daß Davičos Poesie sich in zunehmendem Maße aus den Zonen des Erfahrbaren entfernt, mag man nun von Steigerung der Abstraktion, Hermetismus, totaler Reduktion auf Chiffrensprache oder dergleichen sprechen. Gewiß ist, daß die Überzeugung, in der Dichtung gebe es kein „Zurück“, hier auch die Praxis bestimmt. Neue Sprachfigurationen aus einer anscheinend unerschöpflichen Erfindung werden entworfen, neue Bildsphären abgetastet, noch unerprobte Wortbewegungen erzwungen, Abgründe zwischen Dingen überbrückt, andere wieder aufgerissen. Frühere Motive (Liebeserlebnisse, Erinnerungen an die Verheerungen und Leiden des Krieges) flackern auf, sind jedoch kaum noch ablösbar vom Verwandlungsprozeß, der Gebilde entstehen läßt, die nur in der lyrischen Rede existent sind. Außenwelt erscheint lediglich als Widerhall und Reminiszenz, als aufschwellende oder verblassende Spur des Bewußtseins. Den Grad der Entfernung von einer naiven Wahrnehmung der Realität zeigt etwa folgende Strophe aus einem Gedicht, das die geradezu provozierende Überschrift „Eindruck Nr. 2“ trägt:
Gib mir diese Gruben, brodelnd von Selbstmördern im Traum,
der Einbuchtung gleich, welche Schüsselbeine
bilden, wo sie zusammentreffen
mit Taschentüchern, die zum Abschied winken.
Von vorgeprägten Motiven kann angesichts dieser Texte nicht mehr die Rede sein; das Gedicht schafft sich seine Aussage gleichsam erst im Entstehen, es baut sie Stück für Stück, rhythmischen Impulsen folgend, auf, wobei die Brücken und Gerüste, die der Vision als Stütze dienten, nach Gebrauch wieder demontiert werden. Was als durchartikuliertes Ergebnis bestehen bleibt, sind Extrakte und Destillationen: „Verkürzte Augenblicke“, „Schnappschüsse“…
Daß solche Gebilde nur als Sprachstrahlungen sinnvoll sind, als Versuche, das Unnennbare zu nennen, braucht heute, nach nahezu hundert Jahren moderner Poesie, nicht mehr begründet zu werden. Ihr Sinn liegt nicht zuletzt in dem Bestreben, in unbetretenen Zonen der Empfindung und des Geistes Fuß zu fassen. Allen, die gewillt sind, an diesem Abenteuer teilzunehmen, mag die Aufforderung des Dichters gelten:
Tritt ein, damit wir die gleichen Träume hinabschwimmen.
Viktor Žmegač, Nachwort
deren Einfluß auf die zeitgenössische jugoslawische Literatur unverkennbar und unbestritten ist, leugnet nicht ihre Herkunft vom europäischen Surrealismus; aber sie hat das, was einst Surrealismus hieß, weitergetrieben und formal wie inhaltlich vielfach verwandelt. Sicher ist, daß Davičos Meinung, in der Geschichte gebe es kein Zurück, auch seine Schreibweise bestimmt hat. In seinen Gedichten hält sich ein Klang wie von abgestreiften Ketten.
Davičos Sprache folgt dem Gesetz der Assoziation, der lautlichen, semantischen, syntaktischen. Die Dichte der Bilder aus verschiedensten Vorstellungsbereichen ist das Ergebnis eines Komprimierungsverfahrens, das kürzt, rafft und ausspart, damit aber auch ungeahnte Verbindungen schafft. Viktor Žmegač
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1965
Franz Mon beim Festival PROPOSTA 2004 in Barcelona.
Oskar Davičo liest sein Gedicht „Serbien“.
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