SERBIEN
V
Serbien ins uns, o Dorf irgendwo auf der Karte,
aaaAllein in der Welt, in der Weite,
Mit einem deiner Augen beständig auf Wache,
aaaGefüllt ist mit Träumen das zweite.
Serbien, Liebesfalle du und Fessel der Treue,
aaaDie Blicke, wo sind solche warmen?
Die Welt umarmend und maßlos die Himmelsbläue
aaaMit grenzenverachtenden Armen –
Wer dich, Serbien, kennt, der kennt den Schmerz von der Wurzel
aaaund hört stets ein Bluten, ein Bluten
Gleich dem Rauschen, nächtens, eines traurigen Sturmwinds
aaaIn Pappeln, der silbrigen Ruten.
Land, der dich dich liebt, ehrt den Schlaf dumpf in Finsternissen
aaaAuf Steinplatten, kalten und kahlen,
Liebt den Verurteilten, der, die Zähne zusammengebissen,
aaaGeht dahin mit den ersten Strahlen.
Übertragung Adolf Endler
Der jugoslawische Dichter Oskar Davičo zählt zu den großen europäischen Namen der zeitgenössischen Poesie. Seine Gedichte sind Aktionen der Freiheit, politisch ebenso wie formal. Er, der als Partisan gekämpft hat, benutzt das Wort als Maulwurf gegen das Vergessen, gegen Engstirnigkeit und Erstarrung. Davičos Gedichte brechen die Wirklichkeit auf, um sie neu zusammenzusetzen, und auf einmal spüren wir, wie sie durchschaubarer geworden ist, aber auch heftiger in ihrer Beziehung zu uns. Elemente des Surrealismus sind für diese Gedichte kennzeichnend, allerdings in jener weiterführenden Verwandlung, die allein erst die Schärfe des „durchdringenden Blicks“ ermöglicht.
Aus Petra Werner: Poesiealbum 110, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1976
das nicht erklärt werden könnte, indem man den ganzen, unverkürzten Satz ausspräche, den das Bild in sich aufgesogen hat. Jedoch würde es damit aufhören, Bild zu sein und unter anderem auch jenes großartige Mahnmal zu sein, das die Gesellschaft in Gestalt der Poesie errichtet hat, der Poesie, in der die Ökonomie des menschlichen Denkens nicht weniger wirksam ist als das immerzu andauernde Erfinden neuer Möglichkeiten, neuer Bildtypen, neuer Beziehungen und Ausdrücke. In der Welt. In den Menschen.
Oskar Davičo
Lieber Oskar, als Du unter der italienischen und deutschen Besetzung von einer Streife der Militärpolizei in Dubrovnik verhaftet wurdest, hat Dir ein glücklicher Umstand das Leben gerettet. Du trugst einen Sportausweis bei Dir, und weil die Italiener Deinen kyrillisch geschriebenen Namen als Ostap Daburo buchstabierten, erschossen sie Dich nicht, sondern brachten Dich in eines ihrer Lager auf der anderen Seite der Adria. Von dort bist Du geflohen, der dritte Versuch gelang, und hast Dich in Jugoslawien den Partisanen angeschlossen.
Das war vor einem halben Jahrhundert, 1943. Als wir uns 1975 in Berlin kennenlernten, verlorst Du darüber kein Wort. Du wirktest ganz und gar nicht wie einer, der mit Maschinengewehren und Handgranaten umzugehen weiß. Zoll für Zoll warst Du ein seriöser Herr, ein Dichter, wie aus einer illustrierten bürgerlichen Literaturgeschichte entsprungen. Ich hatte damals einige Deiner schönen Gedichte übertragen, und Du ludst mich ein, den Sommer mit Dir auf Deiner Segeljacht an der Adria zu verbringen. Jetzt wird bei euch überall gekämpft: Dubrovnik, Split, Vukovar, Osijek, Vinkovci, Petrinja, Karlovac. Das Jugoslawien, für das Du gekämpft hast, besteht nicht mehr.
Oskar, mein sehr Lieber, ich besitze noch das Blatt, auf dem ich versucht hatte, Leben und Werk zu skizzieren. Wir brauchten dergleichen für Dein Poesiealbum. Du hast es mir mit Deinen Korrekturen in blauer Tinte zurückgeschickt: eine unauffällige, aber klare und kraftvolle Schrift. In dieser Schrift wirst Du, lange zuvor, auch jene Strophe geschrieben haben, an die ich mich in diesen Tagen nachdenklich erinnere:
Auf Feldern flammt, im Hafen raucht des Aufstands Brand,
schwarz ist die Stadt vor Leid, vor immer bittren Schmerzen,
und zu Rebellen wird mein ganzes Land,
kämpft, um zu lieben, stürmt, um zu herzen.
Ich sage Dir: Sie kämpfen nicht, um zu lieben.
Bernd Jentzsch, 1.4.1992, aus Bernd Jentzsch: Flöze. Schriften und Archive 1954–1992, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, 1993
Oskar Davičo liest sein Gedicht „Serbien“.
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