EIN WORT GIBT DAS ANDERE
Dann aber wiegt oder ist
gar da, wo den einst treibt
oder drin absteigt. Wen a-
ber stiert Ade-Ding an? Wo
anderswo bitte gerad in
eines da dran. Wort gibt e-
ben eins wie Rad Grat Tod
Bin Wag Teit oder anders.
Lesung von Oskar Pastior aus Anagrammgedichte am 21.6. und 23.6.1989 im Literarischen Colloquium Berlin.
Oskar Pastior beginnt seine Lesung, deren genauer Ort sich leider nicht mehr feststellen lässt, mit der „Zueignung“ aus dem Krimgotischen Fächer und liest anschließend Gedichte aus den Bänden Wechselbalg, Höricht, Fleischeslust, Lesungen mit Tinnitus und aus seinen Anagrammgedichten.
Oskar Pastior liest auf dem 35. von Walter Kempowski veranstalteten Literatur-Seminar vom 16.–20.11.1991 im Haus Kreienhoop in Nartum.
Anstiftung zur Poesie: Einführend erklärt Oskar Pastior das Konzept der literarischen Gruppe Oulipo, deren einziges deutschsprachiges Mitglied Pastior war und die im wesentlichen Literatur aus einschränkenden Spielregeln und Mustern gewinnt. Oskar Pastior und Harry Mathews, Nachbarn während Mathews Berliner Aufenthalt, lesen anschließend das von Harry Mathews verfasste Anagrammgedicht auf die beiden Namen der Autoren vor. Das gemeinsame Leseprogramm setzt sich mit Lesungen von Sestinen und Anagrammgedichten der beiden Autoren fort. Die Sestine ist Oskar Pastior durch Harry Mathews, das Anagramm Mathews durch Pastior näher gebracht worden.
Nüchtern verhält sich der Magen zur Nacht, leer. Anagramme sind nocturne Angelegenheiten und werden nicht geschrieben. Sie schieben sich, das ist nicht ungewöhnlich, unter Abwesenheit heraus. In jener Nüchternheit zur Leere ist selbst die Psychologie abwesend. Wer macht die Anagramme? Kein Schein trügt. Am besten macht niemand das Anagramm, jedes Anagramm ist perfekt. Die geringe Quote an Ausschub, die in Bedeutsamkeit reicht, ist Zufall. Wir sind beschränkt. Nüchtern beschränken wir uns auf die geringe Quote. Das Verfahren ist uninteressant – nur das Verfahren hält uns nüchtern, wenn die Zeile aufgeht. Dann knurren die Abwesenden. Das Anagramm umschreibt ein Staunen ohne Erstauntsein, nicht mein Staunen, sondern das Staunen eines Überwechselns ohne Übergang. Im Anagramm verhält sich der Autor zur Zeile wie die Abwesenheit zum Leser – es ist eine ganz und gar nicht private Konstellation. Alles liegt offen. An dieser Öffentlichkeit beteiligt sich schlechthin jeder Text. Jedem Brocken Text wohnt ein leerer Magen inne. Der Ausschub wird ständig geleistet. Beim Lesenlernen lernen wir die Nüchternheit verlieren – einmal konnte jeder alle Anagramme lesen. Damals war es Nacht.
Insoweit ist das Anagramm nichts anderes als eine andere Definition. Von etwas, das nicht still steht und nicht weitergeht – einem Brocken. So und nicht anders, also die Zusammenfassung „immer anders“. Ich komm von der Behauptung nicht los, die mich dreht und wendet, das ist kein Sinn, das ist es.
In solcher Nüchternheit ist Übermut – und Trübung. Auch die Rübe ist angelegt. Jeden Donnerstag ist eine Grünheit im Anagramm – bis nach Isenheim. Mundtot, mündig. Das Mittelalter, in dem wir uns befinden, gibt mit der Formel den Schlüssel: er ist nichts anderes als die Formel. Hinüber ins Rübenfeld reicht keine Zeile, aber es wimmelt von Mäusen. Die Aufschlüsselung kann noch so absurd sein, der Schlüssel ist im Schlüssel angelegt. Von Anagrammen gehen auch Rüssel aus, die wie anschauliche Schilderhäuschen sich strecken, schrecken, schrumpfen, denken. Täuschen wir uns über die Natur von Automaten, weil der Autor abwesend, also ein Stilleben ist? Die Lust im Garten ist nüchtern ein Anagramm aller abwesenden Autoren namens Hieronymus Bosch. Was ahistorisch aussieht, ist ein Bilderbogen, dem die Augen aufgehn, lauter Brocken Holographie. Auch andere, aber diese bestimmt auch.
Mit einem Zeiger haben wir die Solidarität mit überschaubaren Abläufen dürftig gebannt, mit den anderen Lesarten ist der Text zu Gange. Nur was überschaubar ist, ist Text. Wir sind nicht überschaubar, die anagrammatische Fähigkeit ist uns abhanden gekommen. Am Text, der mit uns zu Gange ist, werden wir – stückweise – zu Anagrammen, die uns überschauen wie der leere Magen die Nacht. Es geht dabei, wie gesagt, nicht um Erlebnisse.
Nicht um Erlebnisse. Mit einem Zeilenfänger Schritt halten und Schritt halten und Schritt halten. Von Infinitiven eingeholt, sind wir es. Die Stelle im Anagramm ist nicht so wichtig wie die Zeile lang ist. Manchmal gibt es Stellen, die so lang wie das Anagramm sind. Manche Anagramme sind lange Zeilenfänger. Ein Anagramm verwandelt sich auf der Stelle in ein Anagramm. Es gibt Anagramme, die keine Anagramme sind. Auch sie sind Anagramme. Wo ich stehe, bin ich ein Stück Anagramm. Das Anagramm ist sozusagen eine Supermetapher, nur was sagt das schon.
Länge und Kürze sind unüberschaubar begrenzt. Will ich mich an die Sprache halten, so geht es, wie gesagt, nicht um Erlebnisse. Vor dem Anagramm gibt es kein Zurück. Es sind die Schmalztiegel, in denen mir nichts wiederbegegnet. Einmal immer, immer einmal. Nur Anagramme in einer sehr kurzen Sprache überspringen sich manchmal.
Oskar Pastior, Vorwort
Eigentlich hab ich was über Eskimos gesucht. In der Bibliothek der Villa fand ich aber Johann Peter Hebel, Werke, Taschenbuchausgabe. [Es handelt sich um die zweibändige Ausgabe der Werke, Insel Verlag 1968. Alle Titelzeilen stammen aus dem Inhaltsverzeichnis des I. Bandes (Erzählungen des Rheinländischen Hausfreundes / Vermischte Schriften).] Aus der Eskimolektüre unter den Mimosen ist nichts geworden, weil ich den Hebel beim Inhaltsverzeichnis aufschlug – und das war es.
Hebel wußte aber auch, wie seine Geschichten heißen. Das Inhaltsverzeichnis als Matrikelbuch – jeder Titel ein Eigenname; und in jedem Namen (siehe auch: Omen) alles Mögliche an Lebenslauf angelegt. Ich war neugierig auf meine Stichprobe und wußte zugleich, welche Physik da anzusetzen wäre (die mit dem langen Arm zwischen Heu und Edeka). Ich beschloß also, Anagrammgedichte zu machen.
Daß die Eskimos dann auch ohne Dokumentation zu ihren Mimosen gelangt sind, ist eine andere Geschichte und steht einmal vielleicht in einem anderen Buch.
Anagrammgedichte. Die Regel ist ja einfach. Hier war bloß aus den Buchstaben der Titelzeile, der Hebelzeile, durch Umstellung (Kombination) Zeile um Zeile, solange es möglich, also nötig war, ein Gedicht herauszubilden. In jeder Gedichtzeile mußten alle Buchstaben der Titelzeile aufgehn; nichts durfte übrigbleiben; alle Zeilen ganz die Titelzeile; Ganzheit und Substanz. Die Zeile als Willkür und Maß. Ging mir die Syntax (lässige, abgeleitete Katagorie) in die nächste Zeile weiter, war ich nur angehalten, korrekt zu trennen. Umlaute galten, aus Sympathie zu den Kreuzworträtseln und dem lateinischen Vorbild, als Doppelwesen: ae, oe, ue. Anders wie beim konventionellen Spiel aber waren Eigen- und Personennamen (und, mit diebischer Freude, auch immer wieder Privatsprachliches) durchaus nicht verboten. Wir sind im Zustand des Gedichtes, das sich nicht nur von ihnen nährt sondern sie auch ständig erzeugt.
Zur Arbeitsweise nur soviel: Es gibt Hilfsmittel (Karton, Schere, Blockbuchstaben). Es gibt herrliche Vor- und Begleitübungen: Puzzles (besonders die schwedischen, handgesägten), Zeitunglesen und Fernsehen (Legasthenietraining), einige gute Autoren, bewußtes Gehen mit beiden Füßen (hintereinander) auf dem Kies, Schüttelreime, komplizierte Stundenpläne oder gewisse Atem- und Abzähltechniken. Und es gibt die Strategie „Steht der Tropfen, höhlt der Stein“.
Während des Dreivierteljahres, in dem ich mit wechselnder Intensität mit den Anagrammgedichten zuwege war, kam es zu Erfahrungen, wenig interessanten Regelmäßigkeiten. Kurze Titelzeilen etwa bedeuteten längeres Knobeln und geringere Chancen; bei langen Titelzeilen hingegen drohte die persönliche Freiheit auszuufern. Spannender war der permanente Kampf der Zeile mit ENRITSUDAHL, der ja ein Deutscher ist. Vokalfrequenz in einem Titelwort konnte transalpine Weiterungen bewirken – keine Banalitaet war ausgeschlossen. Und durch die Hintertür hat immer wieder, selbstverständlich, auch das PALINDROM hereingegrüßt.
Eine Menge Tüftelei also, der Autor konnte fast verschwinden – die Wonnen eines Schusters, Schreiners, Roßtäuschers (auch da schlug Hebel durch). Oder einfach die Neugier, herauszukriegen, was drinsteckt. 67 Anagrammgedichte sind fertig, ich schreibe am Nachwort, dann will ich die Geschichten von Johann Peter Hebel lesen und der Bibliothek zurückgeben.
Mit dem Himmel von Rom, wenn er blau ist, haben die Anagrammgedichte insoweit zu tun, als AZUR IN NUCE / UNICA ZUERN ist.
Oskar Pastior, Nachwort, 24.11.1984
KANTILENE, ABSCHIEDSSZENE
Im Gedenken an Oskar Pastior
spricht in Zungensprachen
spricht aus Mündelmündern
kennt das Kindersingen, das Gelingen
schnippelt eine Pastinakentasche
näht den Wörtern Bändel, Laschen
ob er durchschlüpft? alle Sprachen überraschen
das Anatolische
das Kryptokatholische, Alkoholische
das Bukolische und das ganz Unsymbolische
(Ausnahmen sind:
das Ethische, das Etepetetische
das frisch entdeckte Genetische)
wie Buchstaben sich entzünden
wie sie sich finden, Ströme münden
Wasser füllt kein Sieb aus guten Gründen
Ursula Krechel
Studio LCB mit Oskar Pastior am 20.12.1990 im Literarischen Colloquium Berlin
Moderation: Hajo Steinert
Gäste: Francois Bondy und Klaus Ramm
Gespräch I
Wie sieht die alchimistische Poesie des Oskar Pastior aus?
Lesung I
Oskar Pastior liest Gedichte
Diskussion I
Wie deutet man die Texte Oskar Pastiors?
Fortsetzung von Diskussion I und Lesung II
Oskar Pastior liest Gedichte vor
Diskussion II
Der aleatorische Charakter seiner Poesie
Interview mit Oskar Pastior für das Haus des Deutschen Ostens.
Interview mit mir. Diese Aufnahme beinhaltet ein poetologisch dichtes, leider aber nicht realisiertes Interview von Christian Prigent mit Oskar Pastior, dass vermutlich für die von Christian Prigent herausgegebene französische Zeitschrift TXT geführt wurde.
Lesung Oskar Pastior am 20.7.2005 im Deutschen Literaturarchiv Marbach.
Herta Müller: Mein Freund Oskar
Franz Josef Czernin: Die Regel, das Spiel und das Andere. Zum Werk Oskar Pastiors.
Oskar Pastior liest aus seinen verschiedenen Texten und Übersetzungen ein Programm, das die Sprachbewegung jeweils in der Konzentration auf einzelne Laute und Buchstaben nachvollzieht. Aufgenommen auf einem mehrtätigen Festival mit dem Titel Für die Beweglichkeit im Kunstverein Maerz in Linz.
Jochen Hieber: Die Suppe ist einmalig
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.1987
Herbert Wiesner: Frauen-Bild-Beschreibungsschrift
die tageszeitung, 20.10.1987
Hans Bergel: Vom Rückzug der Sprache auf sich selbst
Siebenbürgische Zeitung, 31.10.1987
Hannes Schuster: Ein „Wörtlichnehmer“, der das Wörtlichnehmen ertragbar macht
Siebenbürgische Zeitung, 15.11.1992
Bettina Knauer/Gunnar Och (Hg.): Oskar Pastior, 70
Akzente, 1997
Herta Müller: Minze Minze
Die Zeit, 17.10.1997
Franz Mon: „die krimgotische Schleuse sich entfächern zu lassen“
Der Literaturbote, 2004
Jörg Drews: Eros & Callas?-: Ein Echo-Kollaps
Süddeutsche Zeitung, 20.10.1997
Zsuzsanna Gahse: Schwitt, Schwitter, am Schwittersten
Stuttgarter Zeitung, 20.10.1997
Harald Hartung: Jalousien aufgemacht!
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.1997
Paul Jandl: Die Hosenträger der Erkenntnis
Neue Zürcher Zeitung, 20.10.1997
Cornelia Jentzsch: Gimpelschneise in der Winterreise
Berliner Zeitung, 20.10.1997
Dorothea von Törne: Der Meister der Wortlust
Der Tagesspiegel, 20.10.1997
Ernest Wichner: Magier der Vernunft
Frankfurter Rundschau, 20.10.1997
Thomas Krüger: hart pommern die fritten
Die Woche, 31.10.1997
Gerhard Mahlberg: Aus Anlaß seines 70sten Geburtstags am 20. OktoberDeutschlandradio
Thomas Kling: Die Ballade vom defekten Kabel
Literaturen, Heft 10, Oktober 2002
Thomas Kling: Die glühenden Halden
Frankfurter Rundschau, 19.10.2002
Nico Bleutge: Ein Verwandlungskünstler der Sprache
Stuttgarter Zeitung, 6.10.2006
Michael Braun: Vom Sichersten ins Tausendste
Basler Zeitung, 6.10.2006
Michael Krüger: Schamane des Experimentellen
Süddeutsche Zeitung, 6.10.2006
Christine Lötscher: Er verzauberte die Sprache und Menschen
Tages-Anzeiger, 6.10.2006
Martin Lüdke: Aus dem Staub gemacht
Frankfurter Rundschau, 6.10.2006
Peter Mohr: Ein Magier der Sprache
Badische Zeitung, 6.10.2006
Lothar Müller: Der Zungenzwinkerer
Süddeutsche Zeitung, 6.10.2006
Hubert Spiegel: Im Exil bei Freunden
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.10.2006
Oskarine ist ein Gedicht-Generator von Ulrike Gabriel, der auf den Gedichten von Oskar Pastior basiert. Jedes Gedicht spricht sich selbst – immer neu und mit der Dichter-Stimme.
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