Oskar Pastior: Offne Worte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Oskar Pastior: Offne Worte

Pastior-Offne Worte

Jetzt will ich arbeiten an dem Gedicht
will es verfolgen, will es stellen
am Kreuzweg mit dem vorgelenkten Licht,
dort wo der Zweig sich ändert in den Baum
und das Erahnte aufzuckt in die Freude,
kühn im Profil und menschentief im Traum.
Doch wo mich unterwegs wie abgeworfne Räude
die Fratze Stillstand anfällt, zögere ich nicht:
von Stufe soll zur Stufe abwärts sie zerschellen
am leidvernarbten Menschengesicht,
das sich erhoben hat, auch meins, mit so viel Quellen.
Jetzt will ich arbeiten an dem Gedicht.

 

 

 

Oskar Pastior: Angst macht genau

– Dankrede bei der Verleihung des Oskar Pastior Preises am 14.9.2014 in Berlin. –

I
Oskar Pastior und ich teilen nichts Biographisches. Auch hat mir Oskar Pastior, wenn wir uns begegnet sind, nichts Biographisches mitgeteilt – außer einem biographischen Detail, das, selbstredend, ein bibliographisches ist.
Zeitpunkt und Anlaß kann ich rekonstruieren. Es muß am Mittag des 30. Mai 1991 in Münster gewesen sein, nach einer gemeinsamen Lesung. Bei einem Wienaufenthalt im Februar hatte ich in Friederike Mayröckers Bibliothek einen 1941 erschienenen Text- und Photoband gefunden: Josef Weinheber im Bilde, und ja, Friederike Mayröcker erinnerte sich an dieses Buch, wohl ein Geschenk ihrer Eltern, nach dem gemeinsamen Besuch einer Lesung des Gottbegnadetenlisteneintrags Weinheber. Auch Ernst Jandl, der bald darauf in seine stanzen-Phase gleiten sollte, erwähnte ihn, und zwar den dialektdurchzogenen Band Wien wörtlich von 1935.
Ich war elektrisiert. Rasch entstand, noch in Wien, eine Folge von Gedichten um Momente aus Weinhebers Biographie und mit Zitaten aus seinen Gedichten. Ich wandte mich der Politik zu – man drehte mir ,Geschichte‘ draus, als bediene man sich eines Tricks der Vertriebenenverbände, deren Jahrestreffen in Berlin ich dann 1992 auch gleich einmal besuchen mußte.
Meine Gedichtfolge mit Weinheber werde ich im Mai 1991 in Münster gelesen haben, woraufhin Oskar Pastior – war es beim Mittagessen, war es in der Raucherecke, war es dann erst am Abend – zu mir meinte: Josef Weinheber, von dem habe er damals einen Gedichtband mitgenommen, ins Arbeitslager, 1945.
Meine schmale Weinheber-Ausgabe, Band 7 der Reihe Wiener Brevier, 1991 „nur für den Gebrauch innerhalb der Wehrmacht“ herausgegeben vom Oberkommando der Wehrmacht in Verbindung mit dem Kriegsbetreuungsdienst Baldur von Schirach, setzt ein mit:

Josef Weinheber

HYMNUS AUF DIE DEUTSCHE SPRACHE

O wie raunt, lebt, atmet in deinem Laut
der tiefe Gott, dein Herr; unsre Seel,
die da ist das Schicksal der Welt.
Du des Erhabenen
starres Antlitz,
mildes Auge des Traumes,
eherne Schwertfaust!

Eine helle Mutter, eine dunkle Geliebte,
stärker, fruchtbarer, süßer als all deine Schwestern;
bittern Kampfes, jeglichen Opfers wert:
Du gibst dem Herrn die Kraft des Befehls und Demut dem Sklaven.
Du gibst dem Dunklen Dunkles
und dem Lichte das Licht.
Du nennst die Erde und den Himmel: deutsch!

Du unverbraucht wie dein Volk!
Du tief wie dein Volk!
Du schwer und spröd wie dein Volk!
Du wie dein Volk niemals beendet!

Im fernen Land furchtbar allein,
das Dach nicht über dem Haupte
und unter den Füßen die Erde nicht:
Du einzig seine Heimat,
süße Heimat dem Sohn des Volks.

Du Zuflucht in das Herz hinab,
du über Gräbern Siegel des Kommenden, teures Gefäß
ewigen Leides!

Vaterland uns Einsamen, die es nicht kennt,
unzerstörbar Scholle dem Schollenlosen,
unsrer Nacktheit ein weiches Kleid,
unserem Blut eine letzte Lust,
unserer Angst eine tiefe Ruhe:

Sprache unser!
Die wir dich sprechen in Gnaden, dunkle Geliebte!
Die wir dich schweigen in Ehrfurcht, heilige Mutter!

Man muß nicht Mitglied der NSDAP sein, um zu merken: Dieser zwischen inzestuöser Mutterschoßrhetorik und Rechtschreibreformkritikerbildlichkeit schwankende „Hymnus auf die deutsche Sprache“ ist ein durch und durch nationalsozialistisches Gedicht.
Daß in Wiener Kleinbürgerhaushalten Weinheberbücher im Regal standen, ist eine Sache – eine andere ist es, daß ein Siebzehnjähriger, da er im Januar 1945 für den Abtransport ins sowjetische Arbeitslager packt, nicht vergißt, auch den Weinheber mitzunehmen, als einziges Buch eines lebenden Lyrikers, als Gedichtvorrat für die kommenden fünf Jahre. Wobei von diesen fünf Jahren Anfang 1945 noch niemand wissen kann, so wie noch niemand wissen kann, daß Josef Weinheber davon nur die kürzeste Zeit ein lebender Lyriker sein wird: Als Weinheber sich Anfang April 1945 angesichts der nahenden sowjetischen Truppen mit einer Überdosis Morphium umbringt, weil er befürchtet, man werde ihn für seine Taten, also für seine Worte, zur Rechenschaft ziehen, hat der Zwangsarbeiter Oskar Pastior bereits eine Pappelallee gepflanzt und erlebt sein erstes Meldekrautfrühjahr in der Sowjetunion.
Mohn statt Gedächtnis. Alpha und Untergang.

II
Ich kann nicht behaupten, Oskar Pastiors Auskunft habe mir im Mai 1991 etwas erklärt, einen Hallraum aber öffnete sie eben doch. Nach bald einem Vierteljahrhundert verstört sie mich noch immer.
Den Listeneintrag „Weinheber, dazu Claudius, beide“ in dem als Schlüsseltext aufzufassenden Lutherkommentar „Namen, Register“, hatte ich 1985 überlesen, was heißt: Es gab ihn, schwarz auf weiß, doch ich war seinerzeit nicht in der Lage, ihn wahrzunehmen. Und auch Oskar Pastiors ganz konkreten, wörtlichen Weinheberverweis, 1994 in Das Unding an sich, entdecke ich erst jetzt:

Jenes dumme Gerede von ,Lautmalerei‘ verkleistert nur die Frage. Mimetische Literaturkonzepte – inzwischen dürfte es klar sein, was ich von ihnen halte – hängen sich gerne auch eine onomatopoetische Ikone in eine Sondernische, selbst wenn es darin nicht mehr runend raunt und Tümelndes und Butzenscheibiges sich vielleicht bloß poppig bis illustrativ gebärdet.

Aber welche Frage? – Die Frage, ohne Zweifel, wie es einem Menschen, zumal einem Menschen, dessen Existenz an Gedichte gebunden ist, gelingt, sich selbst zu impfen gegen „O wie raunt, lebt, atmet in deinem Laut“. Es kann sich wohl nur um einen langwierigen, vermutlich auch enervierenden Prozeß handeln. Der Körper muß Antikörper bilden. Der Sprachkörper, natürlich, und zwar der gesamte. Bloße Vokabelvermeidungstaktik, Vokabelumpolung oder auch ein Austausch des Vokabulars reichen nicht hin, die Impfung muß bis in die Sprachstruktur, bis in die Schreibverfahren reichen.
Ich wurde, indem ich als Fünfzehn-, Sechzehn-, Siebzehnjähriger auf eigene Faust zu lesen begann, früh geimpft: 1981 von Ernst Jandl, 1983 von Paul Celan, 1984 von Friederike Mayröcker, 1985 von Oskar Pastior, angefangen mit den Gedichtgedichten, von denen ich, zur Sicherheit, gleich zwei Exemplare kaufte – eine gute Schule auf das Ende meiner Schulzeit hin.
Gedichtgedichte sind es allesamt: Sie gaben mir Denkwerkzeuge an die Hand. Vor ihren Czernowitz-, Paris- und Wien- und Hermannstadthintergründen zeigten sie mir, inmitten der westdeutschen Ausdrucks- und Fühligkeitsmisere, daß man mit Gedichten über Gedichte nachdenken kann. Bundesdeutsche Vorstellungen von ,Deutlichkeit‘, überhaupt jeglicher Klartextpredigergestus im Gedicht ist mir darüber bis heute fremd geblieben.
Denn, so Oskar Pastior, ebenfalls in Das Unding an sich:

Man kann ja eine ,Paradiessprache‘ suchen, aber das Hintergrundrauschen im Suchen gehört zu jedem Sprechakt. Wie sollte man anderes anders suchen. Aus der Unsauberkeit der Sprache kommt man nicht raus; auch daher der Wunsch, sie anders zu handhaben.

Nie wieder Sauberes, bitte, nie wieder Reines. Die dezidierte Fremdsprachenoffenheit der Gedichte von Pastior, Jandl, Mayröcker, Celan leuchtet mir unmittelbar ein. Alle vier waren bezeichnenderweise Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre an Peter Urbans Chlebnikov-Projekt beteiligt, jener vielstimmigen Übersetzungsarbeit, die Oskar Pastior nicht nur als seinen fröhlichen Abschied von der Einsprachigkeit betrachtet hat: In dem 1983 entstandenen Essay – Titel bitte merken! – „Vom geknickten Umgang mit Texten wie mit Personen“ spricht er zudem über „Chlebnikovs Sprachlabor und privates Seelenlabor; in dem ich mich durch Hinwendung und starke Beschäftigung wohl auch am Deportationserlebnis früherer Jahre schadlos halten und ein wenig abstoßen konnte.“
Ja, „baum deutsche deutsch bajonett schur alp eiertier“ (Ernst Jandl: „oberflächenübersetzung“), und ja, „deut schlottert überposition“ (Vokalisen & Gimpelstifte), und ja, „Billard vom Zipfel, deutsch gesotten“ (Lesungen mit Tinnitus), und ja, gerne auch eine Prise „Wildschwein-Porno!“ (Lesungen mit Tinnitus) im deutschen Gedicht.
Der Umstand, daß ich geimpft wurde, macht die nun folgenden Überlegungen zu einem autobiographischen Text.

III
1940, Hermannstadt, Sitz des Verlages Krafft & Drotleff. In Oskar Pastiors Vom Sichersten ins Tausendste hallt er 1969 als „Einkehr und Drotleff“ wider. Zwischen Titeln wie Die goldenen Regeln der Schweinemast und Leistungssteigerung in der Schweinehaltung erscheint dort 1940 mit Die Ehrung des Kinderreichtums bei den Deutschen in Rumänien eine, so der Untertitel, Dokumentensammlung des Rassenfunktionärs Wilhelm Schunn, bebildert mit photographischen Aufnahmen fröhlich dreinblickender fünfköpfiger, sechsköpfiqer, x-köpfiger sächsischer Familien vor ihren grotesk sauberen, geradezu aseptisch weiß wirkenden Häuschen. Eine Aufnahme zeigt, neben den Eltern und zwei jüngeren Schwestern, drei mit durchgedrücktem Rücken dastehende Jungen, jeder ein Käppi auf dem Kopf, jeder in Lederhosen (kniefrei), alle nahezu gleich groß, so daß man, verwirrend, annimmt, sie seien auch alle drei gleich alt, und, verwirrender, beinahe an eine wie auch immer geartete konsequente Anwendung serieller Techniken bei der Fortpflanzung der Deutschen in Rumänien glauben möchte.
Auf der Umschlagabbildung Hand in Hand zwei kleine Mädchen in gepunkteten, vielleicht mit Blumen oder Schneeflocken bedruckten dunklen Kleidern, mit kurzem, blondem Haar und Zwillingsblick und einem undurchdringlichen Ausdruck, als ahnten sie, in welche Welt sie hineinstapfen: die unsicher gesetzten Schritte, der leicht geöffnete Mund, Verdüsterung um die Augen – und dann haben die Eltern sie zu allem Überfluß auch noch photographieren lassen, von einem Photographen, dessen Name zwischen ihren Köpfen und dem des Autors W. Schunn auf dem Umschlag angegeben wird als: O. Pastior.

Es ist, als ließe man uns zuschauen bei der Züchtung beschädigter Menschen.

Zwölf oder dreizehn Jahre alt ist Osker Pastior junior, als Die Ehrung des Kinderreichtums bei den Deutschen in Rumänien mit der Photoserie von Oskar Pastior senior erscheint. Ob der Sohn sich später dafür revanchiert hat? Sein nüchtern daherkommendes, von Thomas Kling exemplarisch analysiertes, ausbuchstabiertes, historisch aufgefaltetes Listengedicht „1940 / 1941“ setzt ein mit dem Schlegelschüler, Rheinsagenklassiker „Simrock“, dem Nibelungenlied- und Beowulf-Übersetzer, aber eben auch Übersetzer von Kinderreimen – „Hilegänschen kommt alle heim“ – aus dem siebenbürgisch-sächsischen Dialekt. In harter Fügung folgt „Simrock“ ein zweiter Name, „Lo Jana“ – auf daß sich die beiden aneinander reiben: Bei „Lo Jana“ handelt es sich um den Phantasienamen der 1905 als Henriette Margarethe Niederauer geborenen, im März 1940 gestorbenen Revuetänzerin und Schauspielerin, nur zur Erinnerung: Der Tiger von Eschnapur, Das indische Grabmal. Bei der UFA ist La Jana als Berufs-Fremdlingin tätig und damit für die Exotik zuständig, als man sich noch ein ,x‘ für ein ,r‘ vormacht – also das exakte Gegenteil der von Vater Pastior abgelichteten gebärfreudigen Germanenmuttis.
„Lo Jana“ ein nachgetragener Kommentar des Sohnes zum photographischen Werk des Vaters, der seinerzeit vom Kunststudium in Karlsruhe, so Oskar Pastior junior 1981 in den „Fußnoten zur rumänischen Avantgarde“, „mit Hans-Thoma-Mappe nach Hause kam und einem Reemtsma-Album der Expressionisten – immerhin“? Zutrauen würde ich es ihm, denn: „wir sprachen, und sprechen, leicht verschlafen, umständlich rückversichert, parallel zur schweren Mundart, aber schlagfertig im Hintersinn, nicht im Argument“, schreibt Oskar Pastior, seinen siebenbürgischen Sprachhintergrund skizzierend, in „Namen, Register“.

Oskar Pastior

1940 / 1941

Simrock, La Jana
Scholten / Schorsten – das Goldene Lamm
Gurkensalat und Kessel und Fähnchen
Blaupunkt / Signal

Gebirgsjäger mit Rühman und Lumpi
Traven – Jud Süß
Ohm Krüger – Katyn
(Gewerbevereinssaal)

Most, Ochsen, Marsrakete
Welt ohne Schlaf
Ein Ding wie tausend Wale
Du und die Physik

Eine Kindheitsidylle zeichnet dieses Gedicht sicherlich nicht. In der Welt, in der Oskar Pastior junior aufwächst, erweist sich jedes Bild als kontaminiert, jedes Wort, jeder Name. Wenn, rubriziert unter „1940 / 1941“, der Name „Rühmann“ aufgerufen wird, ist man folglich gehalten, sich nicht nur Quax, der Bruchpilot in Erinnerung zu rufen, sondern daneben jene ebenfalls 1941 gedrehte Filmkomödie, in der Heinz Rühmann, ein Heidenspaß, das einzige Mal in seiner langen Karriere auf der Leinwand mit „Heil Hitler“ grüßt, eine Komödie, deren Titel einem das Blut in den Adern gefrieren läßt: Der Gasmann.

IV
Im Haushalt Pastior wird die nach dem Vorbild Life geformte Auslandspropaganda-Illustrierte Signal gelesen, wie wir aus dem Listengedicht „1940 / 1941“ wissen, und in seiner Büchnerpreisrede weist Oskar Pastior an exponierter Stelle auf die Signal-Lektüre hin, nur hat es wieder mal keiner gehört. Was er dort über einen geplanten Woyzeck-Film erfahren haben will, wird er übrigens auf Rumänisch gelesen haben, denn eine deutschsprachige Signal-Ausgabe erschien nur in der Schweiz. Mit acht Farbseiten pro Ausgabe ist Signal seinerzeit eine Sensation, ist das Bildberichter-, Photoreporterblatt, und darin liegt vielleicht ein Hinweis, warum sich Oskar Pastior noch 2006 so genau erinnert: Betätigt sich doch Vater Pastior Anfang der vierziger Jahre selbst gelegentlich als Bildberichterstatter. Gut möglich, an den Photostrecken im Signal schult der Zeichenlehrer seinen photographischen Blick.
An diesem Punkt erlaube ich mir, eine Schlüsselszene zu konstruieren. Eine Schlüsselszene, in der sich Biographie und Name, Ideologie und Dichtung kreuzen, nein, in der sie kollidieren, ineinanderjagen, wie später noch einige Male im leben Oskar Pastiors. Die Biographie nimmt Schaden, der Name nimmt Schaden, die Ideologie nimmt, wie vorherzusehen war, nicht den geringsten Schaden – doch wie steht es um die Dichtung?
Zur Sicherheit gleich noch einmal: Das Material dieser Szene existiert, historisch, schwarz auf weiß, auf Papier. Als Schlüsselszene allerdings handelt es sich um ein Konstrukt.
Oskar Pastior senior ist also nicht nur Zeichenlehrer am Gymnasium, sondern, wie es heißt, auch Hobbyphotograph. Daß er seinem Hobby mit Ernsthaftigkeit nachgeht, haben wir bereits anläßlich von Die Ehrung des Kinderreichtums bei den Deutschen in Rumänien erfahren. Mag sein, er erhält hin und wieder Aufträge, mag sein, er springt für andere Photographen ein, möglich auch, er hat bei öffentlichen Ereignissen ohnehin stets seine Kamera dabei und die Brillanz seiner Aufnahmen sticht diejenigen der professionellen Kollegen manchmal aus, so daß es den Redakteuren der örtlichen Tageszeitung leicht fällt, sich für ein Bild von Oskar Pastior zu entscheiden. Wie er die Welt sieht, wenn er die Welt sieht, mit seiner Kamera, und wenn er in der Dunkelkammer steht – darüber weiß ich nichts. Das Bildreporter-Ethos der dreißiger und vierzig er Jahre ist ja, trotz dem iconic turn, bis heute weitgehend unerforscht.
Am 21. September 1943 erscheint in der Südostdeutschen Tageszeitung ein Photo des Reichsdramaturgen Dr. Rainer Schlösser. Aufgabe des Reichsdramaturgen ist es, das Theatergeschehen reichsweit auf Rassenreinheit zu prüfen, ein Amt, das offenbar noch genügend Freizeit läßt, um Verse zu verfassen – Rainer Schlössers letzter, 1943, erschienener Band trägt den Titel Rausch und Reife. Ziemlich viel Raun- und Runenklang für einen einzigen Satz, ich weiß.
Zur festlichen Eröffnung der elften Spielzeit des Landestheaters hat Schlösser am 18. September in Hermannstadt „über das unsterbliche Erbe Eichendorffs“ gesprochen und sich am folgenden Tag am selben Ort an die „Jugend des Bannes 4“ gewandt. Möglich, der Sohn des Photographen saß mit im Saal, als Schlösser Humus auf die deutsche Sprache gab.
Das „unsterbliche Erbe Eichendorffs“ und Rausch und Reife: Sofern Oskar Pastior junior eine der beiden Reden gehört hat, mag sie ihm zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinausgegangen sein, auch muß er Rausch und Reife nie gelesen haben. Wenn allerdings zwei oder drei Tage darauf in der Zeitung ein photographisches Porträt des Reichsdramaturgen und Verseschmieds erscheint, gekennzeichnet mit einem Namen, der auch der meine ist – mir hätte es einen Schlag versetzt, mich hätte es zumindest genug verwirrt, um über Namen nachzudenken, über Buchstäblichkeit, Identität. Der eine Oskar Pastior kann der andere nicht sein, der Sprache jedoch scheint das völlig gleich.
Was folgt, auf lange Sicht, aus dieser Kollision, wenn man Gedichte schreibt?

V
In Oskar Pastiors Lesungen mit Tinnitus. Gedichte 1980–1985, in diesem Band, der die mit dem Petrarca, den sonetburgern, den Anagrammgedichten, mit Ingwer und Jedoch und dem Römischen Zeichenblock so produktive erste Hälfte der achtziger Jahre abschließt, gibt es ein Gedicht, das mir immer im Kopf geblieben ist, das im Hinterkopf weitergewirkt hat, seitdem ich es im Sommer 1986 erstmals las. Warum – das habe ich erst in den vergangenen Tagen verstanden. Doch schon die Tatsache, daß ich nicht recht weiß, wie sein Titel eigentlich lautet, deutet wohl die Richtung meiner Faszination an: Heißt in der Abteilung 2: „Lesung mit Wüstensockelwüste“, das sechzehnte Stück, dessen Titel nur im Inhaltsverzeichnis aufgelistet ist, „Kniefrei 43“, nun „Kniefrei dreiundvierzig“ oder nicht doch „Kniefrei vier-drei“?
Kein zweiter Dichter nach 1945 hat schließlich so intensiv über das prekäre Verhältnis zwischen Klangbetörung und Sinnbetörung nachgedacht wie Oskar Pastior, keiner ist so achtsam mit ihm umgegangen wie er –„O wie raunt, lebt, atmet in deinem aout“ – „Jenes dumme Gerede von ,Lautmalerei‘ verkleistert nur die Frage“.
Uns allen, seinen Lesern, seinen Hörern, war, auch wenn wir nie darüber sprachen, immer klar, wir hatten es mit einem Mann zu tun, der über eine dichterische Hyper-Intelligenz verfügt – und gaben uns, so mein Verdacht, mitunter allzu willig damit zufrieden, uns von seiner Klangbetörungsfähigkeit hinreißen zu lassen.
Und er? War, wie es hyperintelligenten Menschen eigen ist, womöglich einfach zu höflich, uns lauter darauf hinzuweisen, daß es für ihn beim Dichten mit der Klangbetörung nicht getan war, daß Dichtung für ihn nur existieren konnte, indem sie eben das prekäre, nämlich: Brandgefährliches berührende Verhältnis zwischen Klangbetörung und Sinnbetörung untersucht. Dichtung ist Untersuchungsprozeß und Austragungsort dieser Untersuchung zugleich, und sollte es nötig sein, muß sie sich auch zum Schlachtfeld machen lassen – eine Nagelprobe, ob sie zerbricht.
Wir haben, natürlich, lieber gelacht, wenn er uns lachen ließ. Indem wir lachten, vergaßen wir, wie in „Kalif Storch“, jenes ,Mutabor‘, das in Oskar Pastiors Klangbetörung noch jedesmal mitschwang: Ich werde verwandelt werden.

Oskar Pastior

KNIEFREI 43

Gewisper Kastenholz; anschließend Landschulheim (Geh-
sang wie Jäten, Schuhwerk wie John Knittel); des Sonn-
tags helle Schweden & Dielen (Hammerclavir-Schwielen);

den Übergang zu Strohsand; anschließend Schelken, Schor-
sten, Witwen, Affentürkei (Robben vor Madagaskar) – ei-
ne anarchische Stille, hell, scheuergelb, überm Büffel-

klavier; zu Fuß über Neppendorf, Gierlsau, Scholten,
Schelken, Kastenholz und/oder Freck; Robinien, Kornblu-
menbaum, Julei; anschließend Landgewitter (Garben wie

Schaben, Speck wie Heu); die Sakristei im Feuerofen –
dann Blitzmaden, Polterabend, die Cheopspyramide brennt
(Essiggeist Holderblüh’, und Linzer im Paket, und Schim-

melreiter im Furunkel); kniefeste Müdigkeit – ein Schuh-
werk bis zur Antarktis; dann Stille, Hanf aus Scheune
und Faser (Hans Dominik); Dürers Mutter schenkt ihr er-

stes Kind; die Stille, die Stille – ein Strauß anarchi-
scher Wicken; Übergang zu Guttapercha, Froschlaich als
Bruder, Knoten als Filter, Filter als Feldrain; Hebamme

frontal: Frau Thai – ein Bombensommer; anschließend Jahr-
gang wie Frühtau, Erbes wie Barbes – dann Pelze, Panzer,
Holzschuhtänze; ein Freibrief (Fingerling) & Mandschurei.

Auf der semantischen Ebene kommt dieses Gedicht dem Leser ein ganzes Stück entgegen, mit seiner Sommerszenerie, ja, einem „Bombensommer“, mit seiner Wanderbewegung um Hermannstadt, und weil uns die Dörfer Scholten und Schorsten bereits zuvor einmal begegnet sind, wirken sie, wie das so ist beim zweiten lesen, fast schon vertraut. In Hammersdorf geht es das Büffelklavier, nämlich den alten, ausgetretenen Viehpfad, hinauf zum Friedhof, wo die Gefallenen des Ersten Weltkriegs liegen, in anarchischer Stille.
Derjenige, der hier wandert, geht kniefrei – wir erinnern uns an die schaurigen Drillinge in Die Ehrung des Kinderreichtums bei den Deutschen in Rumänien –, ist demnach jung, und er hat eine Zukunft vor Augen – selbst wenn die in erster Linie aus Büchern stammen sollte: Mit Hans Dominik wird ein Science Fiction-Autor genannt, wie vorher in „1940/1941“ mit Die Welt ohne Schlaf ein Zukunftsroman von Heinz Bierkowski.
Es existiert eine Dimension jenseits der unmittelbaren Gegenwart, und es existiert eine Dimension jenseits des eng abgesteckten lokalen Rahmens: die „Linzer im Paket“ und die sich auf „kniefrei“ „vier-drei“, „dulei“, „Sakristei“, „Mandschurei“ reimende „Affentürkei“ spannen einen Bogen nach Österreich.
Weil aber die „Affentürkei“, diese auffällige, abfällige Bezeichnung für Arbeiter- und Einwandererviertel, neben dem 20. Wiener Gemeindebezirk, Brigittenau, auch den 10. Wiener Gemeindebezirk, Favoriten, umfaßt, wo Friederike Mayröcker sich, an Hauptschulen der ungeliebten Brotarbeit als Englischlehrerin nachgehend, die Stimmbänder ruinierte, frage ich mich, ob Oskar Pastior mit „des Sonntags helle Schweden & Dielen (Hammerclavir-Schwielen)“ zum Nachbarplaneten Mayröcker hinübergrüßt, wie er es so häufig tut, denn:

Hammerklaviere
Frau Bogunke
Hammerklaviere
gibt es nicht viele in Wien.
Aber im Elbsandsteingebirge
gibt es davon eine Menge.

Frage mich also, ob für Oskar Pastior, den Sohn Oskar Pastiors, mit einem eigenen Jugendjahr jenes Jugendjahr aufgerufen wird, in dem Friederike Mayröcker gemeinsam mit ihrer Mutter Friederike Mayröcker den im schlesischen Brieg stationierten Vater besuchte:

Über Brieg stand der Mond Nacht für Nacht
[…]
Die Soldaten sangen das Lied vom Wagen
der wieder rollt.

wie es in ihrem Gedicht „Hammerklaviere“ heißt, das in die berühmten Verse mündet:

Ich notierte auf einem grünseidenen Kanapee
mein erstes Gedicht.

VI
Frage mich das alles – und denke an Blumen. Man frage mich nicht, warum. Vielleicht, weil man Blumen nicht suchen, nur finden kann, und das gilt immerhin überall, gilt für Hermannstadt wie für Gorlowka wie für Brieg wie für die Affentürkei in Wien. Man findet sie auf Umwegen.
Und weil Blumen Wörter sind. Womit ich, natürlich, an jenen anderen Nachbarplaneten denke, an Paul Celan, und an dessen Satz: „Eber, lieber Walter Jens, – das gibt es eben.“
Blumen, die gibt es eben. Eigennamen, die gibt es eben. „Kornblumen“, „Holder“, „Wicken“, und dann, ich will mich eigentlich schon von „Kniefrei 43“ abwenden und weitergehen, bleibe ich am „Strohsand“ hängen.
Die Sandstrohblume, Helichrysum arenarium, kenne ich, wenigstens dem Namen nach – doch der „Strohsand“ bedeutet mir, ich muß das ganze Gedicht „Kniefrei 43“ noch einmal umkehren, umdrehen, umstülpen: die Sandstrohblume, die Immortelle, oder womöglich doch eher: keine Immortelle, weil es sich schließlich bei Oskar Pastior um eine zudem auch noch um zwei Silben ihres Namens beraubte, umgedrehte Sandstrohblume handelt: Als wollte sie zu erkennen geben, daß sie im Gedicht so gut wie nicht anwesend ist.
„Die Vögel – stumm. Und keine Immortelle.“ So steht sie nicht am Wegrand, steht sie nicht im Gedicht, denn: „Das Wort bleibt ungesagt“ – so Ossip Mandelstam, in der Übertragung von Paul Celan.

Ossip Mandelstam

DAS WORT BLEIBT UNGESAGT, ich finds nicht wieder.
Die blinde Schwalbe flog ins Schattenheim,
zum Spiel, das sie dort spielen. (Zersägt war ihr Gefieder.)
Tief in der Ohnmacht, nächtlich, singt ein Reim.

Die Vögel – stumm. Und keine Immortelle.
Glashelle Mähnen – das Gestüt der Nacht.
Ein Kahn treibt, leer, es trägt ihn keine Welle.
Das Wort: umschwärmt von Grillen, unerwacht.

Und wächst, wächst wie es Tempeln, Zelten eigen,
steht, jäh umnachtet, wie Antigone,
stürzt, stygisch-zärtlich und mit grünem Zweige,
als blinde Schwalbe stürzt es nieder, jäh.

Beschämung all der Finger, die da sehen,
o die Erkenntnis einst, so freudenprall.
O Aoniden, ihr – ich muß vor Angst vergehen,
vor Nebeln, Abgrund, Glockenton und Schall.

Wer sterblich ist, kann lieben und erkennen,
des Finger fühlt: ein Laut, der mich durchquert…
Doch ich – mein Wort, ich weiß es nicht zu nennen,
ein Schemen war es – es ist heimgekehrt.

Die Körperlose, immer. Stund um Stunde,
Antigone, die Schwalbe, überall…
Wie schwarzes Eis, so glüht auf meinem Munde
Erinnerung an Stygisches, an Hall.

Auf einmal steht mir Oskar Pastiors Gedicht „Kniefrei 43“ in atemberaubender Klarheit vor Augen, vom Ende her, mit der Erinnerung an Hall. Mit meiner eigenen Hallerinnerung ebenso wie, vermute ich, mit einer Hallerinnerung Oskar Pastiors.
Die beiden Gedichte sind nicht allein, wie sich jetzt zeigt, durch eine übersetzte, umgesetzte, umgekehrte Blume miteinander verbunden, vielmehr gibt Ossip Mandelstams „Dos Wort bleibt ungesagt“ eine Klangspur vor, an der entlang sich – einmal näher, einmal ferner – auch „Kniefrei 43“ bewegt. Bis in die Silbendeckung geht diese Sprachbewegung, aber, wie sollte es anders sein bei Oskar Pastior, auch das Rauschen des Sprachhintergrunds ist präsent. Tatsächlich lassen sich Celan, Mandelstam und Pastior auf der klanglichen Ebene partienweise ineinanderlesen, hier, improvisiert, die ersten drei Strophen:

M DAS WORT BLEIBT UNGESAGT, ich finds nicht wieder.
P Gewisper Kastenholz; anschließend Landschulheim
M Die blinde Schwalbe flog ins Schattenheim,
P anschließend Landschulheim (Gehsang wie Jäten)
M zum Spiel, das sie dort spielen. (Zersägt war ihr Gefieder.)
P des Sonntags helle Schweden & Dielen (Hammerclavir-Schwielen);
M Tief in der Ohnmacht, nächtlich, singt ein Reim.
P Gewisper Kastenholz; anschließend Landschulheim
M Die Vögel – stumm. Und keine Immortelle.
P den Übergang zu Strohsand; anschließend Schelken,
M Glashelle Mähnen – das Gestüt der Nacht.
P eine anarchische Stille, hell, scheuergelb
M Ein Kahn treibt, leer, es trägt ihn keine Welle.
P Stille, hell, scheuergelb, überm Büffelklavier;
M Das Wort: umschwärmt von Grillen, unerwacht.
P zu Fuß über Neppendorf, Gierlsau, Scholten, Schelken,
M Und wächst, wächst wie es Tempeln, Zelten eigen,
P Kastenholz und/oder Freck; Robinien
M steht, jäh umnachtet, wie Antigone,
P Robinien, Kornblumenbaum, Julei;
M stürzt, stygisch-zärtlich und mit grünem Zweige,
P (Garben wie Schaben, Speck wie Heu); die Sakristei
M als blinde Schwalbe stürzt es nieder, jäh.
P anschließend Landschulheim (Gehsang wie Jäten)

Etwas erschließt sich auf der klanglichen Ebene – was aber nicht heißt, daß sich hier etwas auf der klanglichen Ebene auch erschöpft. Ein Glücksfund, gewiß. Und ich stelle mir vor, es war ein Glücksfund für Oskar Pastior, als er merkte, seine Untersuchung eines Gedichts von Ossip Mandelstam weckte, der Klangspur folgend, Wort- und Wandererinnerungen. Eine Idylle stellt auch „Kniefrei 43“ nicht dar, schon gar keine Idylle aus einer wie auch immer naiven Jugendperspektive. Im Gegenteil, der Hallraum wird weit geöffnet.
Paul Celan überträgt, als Überlebender der nationalsozialistischen Arbeitslager, Ossip Mandelstam, der sich unter existentiellem Druck eine Stalin-Ode abgerungen hat, trotz dieses erzwungenen Verrats an der Dichtung in Ungnade gefallen ist und im Dezember 1938 auf dem Weg ins stalinistische Arbeitslager stirbt. Die klangliche Gestalt des aus dem Russischen ins Deutsche übertragenen Gedichts bringt nun wiederum den Überlebenden der stalinistischen Arbeitslager Oskar Pastior dazu, in sein eigenes Jugendjahr 1943 zurückzureichen. Und damit exakt in jenen Sommer, in dem sein Vater Oskar Pastior für die Südostdeutsche Tageszeitung ein Ereignis mit Volksfestcharakter photographisch festhält: „Festlich geschmückt fuhren am Montag, dem 21. Juni, die Bauernwagen mit den Freiwilligen aus den Gemeinden des Kreises Hermannstadt durch die Straßen der Stadt“ – die „Freiwilligen“: die aus der rumänischen Armee in die Waffen-SS wechselnden Siebenbürger Sachsenmassen.
Daß Mandelstams Gedicht, aus dem heraus Oskar Pastior an „Kniefrei 43“ zu arbeiten beginnt, selbst nach Rumänien reicht, erstaunt angesichts der einander erhellenden Echos nicht mehr. Ossip Mandelstam arbeitet ja seinerseits vor einem dichterischen Hintergrund, und die „Aoniden“ als Bezeichnung der Musen, wie die „Erinnerung an Stygisches“ weisen auf Ovids Metamorphosen, so wie Mandelstams Bandtitel Tristia auf Ovids Verbannungsort weist, wo dessen Tristia entstand, auf Tomis, das heutige Constanţa, an der rumänischen Schwarzmeerküste.
Kurz vor seinem Tod hat Oskar Pastior angemerkt, er habe die fünf Jahre „dort in der Ukraine auch durch Anerkennung der Kollektivschuld verbracht“. „lch trage diese Schuld mit ab. Das habe ich so empfunden.“
Ein Mit-Abtragen von Schuld, bis die Sprache zerbrochen ist – mit einem Band von Josef Weinheber im Gepäck.
Ungeheuer viel Welt in den einundzwanzig Zeilen von „Kniefrei 43“, ungeheuer viel Geographie und Geschichte und Lebensgeschichte, ungeheuer viel Schuld und Ohnmacht und Abtragen von Schuld in dieser Gedichtwelt, die mindestens vier Dichter und ebensoviele Sprachen umgreift. Noch einmal „Vom geknickten Umgang mit Texten wie mit Personen“:

Wenn schon „Kennen nur aus der Analogie geschieht“, dann besser noch, wahrscheinlich, aus mehreren Analogien.

Ob Oskar Pastior versucht hat, aus der Übertragung Paul Celans auch das Russisch Ossip Mandelstams herauszuhören, also jene Sprache, mit der er selbst anderthalb Jahre nach dem Sommer 1943 in Berührung kommen sollte? Hat er sich Ossip Mandelstam mit seiner Chlebnikov-Erfahrung zugewandt? Hat er beim Schreiben von „Kniefrei 43“ die ,Blume des Originals‘, hat er ,bessmertnik“ im Ohr gehabt?
Weit entfernt sind wir, ist Oskar Pastior damit von „O wie raunt, lebt, atmet in deinem Laut“. Ein langwieriger Prozeß der Selbst-Impfung, mit Hilfe von Gedichten. Mit Ossip Mandelstam, mit Paul Celan impft sich hier, entziffert sich hier jemand selbst. „O Aoniden, ihr – ich muß vor Angst vergehen“ – dichtend führt uns Oskar Pastior vor: Angst macht genau.

VII
Und alles wegen einer einfachen Blume, die es in mehreren Sprachen, deren Namen es in den jeweiligen Sprachen mehrfach gibt. Das ,Mutabor‘, ,ich werde verwandelt werden‘ – der Strohsand in die Sandstrohblume, die Sandstrohblume in die Immortelle, nämlich: die unsterbliche Seele. Weit, weit entfernt jetzt von einem Reichsdramaturgen Doktor Rainer Schlösser, der im September 1943 im Theater Hermannstadt „über das unsterbliche Erbe Eichendorffs“ spricht und von jemandem photographiert wird, der den so verdammt vertrauten Namen Osker Pastior trägt.
„Strohsand“, also das Wort „Strohsand“ selbst – wo ordne ich es ein? Ich lese es als letzte Zeile einer imaginären, insgesamt aus nicht mehr als drei Wörtern bestehenden Minimalvokalise, deren zweite Zeile sich in Paul Celans Übertragung von Ossip Mandelstams „Das Wort bleibt ungesagt“ findet, deren erste Zeile jedoch im Namen des Dichters selbst enthalten ist:

Oskar
Ohnmacht
Strohsand

„– jeder Titel ein Eigenname, und in jedem Namen (siehe auch: Omen) alles Mögliche an Lebenslauf angelegt“, schreibt Oskar Pastior im Nachwort zu seinem Band Anagrammgedichte.
Geheimnisvoll klingt das, rätselhaft jedoch ist es, liest man genauer, geduldiger, nicht.

Marcel Beyer, Sprache im technischen Zeitalter, Heft 212, Dezember 2014

Oskar Pastior, Whats’s the QWERTZU?

– Aus dem Fehlansatz zu einer Dankrede bei der Entgegennahme des Oskar Pastior-Preises, September 2014. –

Während auf dem europäischen Kontinent die Menschenverachtung als Lebensprinzip dazu ansetzt, sich in alle vier Himmelsrichtungen auszubreiten, findet unter strengster Geheimhaltung eine Gruppe von Schachmeistern, Kreuzworträtselexperten, Linguisten, Papyrologen und Anagrammfanatikern zusammen, um ein Rätsel zu lösen. Ein einziges Rätsel, das aus vordergründig völlig sinnfreien Buchstabenkombinationen besteht. Ein Rätsel mit dem passenden, wenn auch ein wenig trivial klingenden Namen ENIGMA.
„What’s the QWERTZU?“ rufen sie einander zu und verwandeln, nahezu im Minutentakt, Alphabete in Alphabete – nachdem erstere nach einem täglich wechselnden Schlüssel aus einem Alphabet generiert worden sind, das auch jeder von uns gelernt hat: das ,ABC‘. Denn im Sprachgebrauch jener knobelnden, bald schon elektro-mechanische Unterstützung findenden Kryptologen bezeichnet ein ,Alphabet‘ jede beliebige Abfolge von sechsundzwanzig Buchstaben, die eben mit A wie mit Z, mit O wie mit P einsetzen kann: „auf der Buchstabenschiene ist vor dem Herzen alles gleich“.
Was sich anhört, als hätten Georges Perec und Oskar Pastior, der Kreuzworträtselerfinder und der notorische Puzzlespieler, „beides so Typen: im Schlepptau von A und O“, sich eines Tages zusammengetan, um einer wilden, gleichwohl strengen Konstruktionsregeln folgenden Gemeinschaftsphantasie freien Lauf zu lassen, in der eine Handvoll von der restlichen Gesellschaft belächelte Buchstaben-Nerds, Alphabet-Hobbyforscher, Wörtlichnehmer und Zahlendreher die Welt rettet, ist nichts als die historische Wahrheit, angesiedelt in der ländlichen Gegend zwischen Cambridge und Oxford, unauffällig, unverdächtig, übersichtlich, weitab vom – wenig später wörtlich zu nehmenden – Schuß, doch mit guter Zuganbindung sowohl an die beiden Universitätsstädte wie an London: nämlich der fünfzig Meilen nordwestlich der Hauptstadt liegende, heute legendäre Landsitz Bletchley Park, unter den Eingeweihten, also unter den „Hardware-Halunken“ („Wechselbalg“, WA Band 3, S. 176) einfach und liebevoll und konspirativ ,B. P.‘ genannt.

*

Ich sehe die zwei vor mir, Pastior und Perec, offenes weißes Hemd und offenes weißes Hemd, Schnurrbart und Kinnbart, beide mit nichts außer Abgründen verratendem Blick, irgendwo in einer Berghütte (,B. P.‘: Berghütte Pastior, Berghütte Perec) einander an einem Tisch gegenübersitzend, verbunden in diesem seltsamen, stillen, Jüngere wie mich durchaus beunruhigenden Einverständnis, die je eigene, womöglich fürchterliche, Lebensgeschichte mit keinem Wort zu erwähnen, wie es unter älteren Menschen immer wieder auf Anhieb zu herrschen scheint, zumal wenn sie – auch dies für mich unergründlich – wie instinktiv die Bereitschaft des Gegenübers erkennen, sich mit fröhlichem Ingrimm auf ein komplexes, für Außenstehende kaum nachvollziehbares, ernstes Spiel einzulassen: Denn „zur nackten Existenz genügen vierundsechzig Felder“, wie es in Oskar Pastiors Wechselbalg „Aus Forschung und Wissenschaft“ heißt. – Ein Spiel, dessen Ende nicht abzusehen ist und das womöglich niemals zu einer Lösung führen wird, ein Spiel also, das nach harter Arbeit aussieht, für die es keinen Lohn, keine Belohnung geben wird, weil die Belohnung im Spielen selbst liegt. Und nichts kann mich, trotz meiner Verwirrung, von der Überzeugung abbringen: Ja, diese beiden sind es, denen wir eines Tages die Rettung der Welt zu verdanken haben werden – ohne daß wir je davon erfahren würden, versteht sich.
Denn:

Alle diese Wörter seien zum Erfahrungmachen gemacht – außer dem Wort ERFAHRUNG selbst. Es sei untauglich, dies Wort, undienlich, in diesem Kontext zu nichts zu gebrauchen. [//] Um auf eine Erfahrung zu stoßen, mußt du dich dümmer stellen, als du bist. Stößt du auf sie, bist du dümmer, als du dich stellst – sie aber ein bissel klüger als zuvor. Am klügsten sind ohnehin die dummen Wörter. („titellos“, WA Band 3, S. 264)

*

Im englischen Bletchley Park werden Alphabete auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. Wobei den Kryptologen ein kleiner, folgenreicher Maschinenmakel der ENIGMA zu Hilfe kommt: ihre den einzelnen Buchstabenverschlüsselungswalzen nachgeschaltete so genannte Umkehrwalze – in Bletchley Park als Uncle Walter oberflächenübersetzt. Die Umkehrwalze sorgt dafür, daß nichts jemals es selbst ist, ein A etwa niemals ein A sein wird. Die ENIGMA wird eine Zeichenfolge wie „DAS OBERKOMMANDO DER WEHRMACHT“ unter keinen Umständen in die Zeichenfolge „DAS OBERKOMMANDO DER WEHRMACHT“ verwandeln. „Unterschiedenes ist gut“ wissen wir mit Friedrich Hölderlin von Oskar Pastior, und diese Tatsache – nichts ist jemals es selbst – macht den Entzifferern die Arbeit nicht etwa schwerer, sondern um einiges leichter.
Ließe sich Klartext zu Klartext verrätseln, ERFAHRUNG zu ERFAHRUNG, wäre – logischerweise und selbst für uns Laien leicht nachvollziehbar – nicht nur die Ratlosigkeit unter den Kryptologen groß, auch würde sich die Zahl der Kombinationsmöglichkeiten bei der Verschlüsselung ins Schwindelerregende erhöhen. Unter der Maßgabe aber, daß Unterschiedenes nicht nur gut, sondern unvermeidlich ist, lassen sich nach und nach einzelne womöglich der Verschlüsselung zugrunde liegende Alphabete ausschließen, indem man nach crashs, nach Kollisionen sucht: Entspricht ein A im Chiffrat einem A im crib, also im so genannten Wahrscheinlichen Wort eines zu erwartenden Klartexts, entfällt ein ganzes Alphabet.
„Gibt es c und m, so wird das Alphabet zum Universum“ („Marginalien zu einer speziellen Einleuchtungstheorie“, WA Band 3, S. 268): In Bletchley Park herrscht die bedingungslose Hingabe an die Buchstaben des Alphabets und ihre Verwandlungsmöglichkeiten. Die zeitaufwendige, rechenaufwendige reine Permutationsarbeit übernehmen mit den Turing-Bomben bald Maschinen, die Zuordnung von Sinn jedoch obliegt in den huts, den Hütten, Baracken von Bletchley Park dem Menschen, der „beim denken um drei ecken (die der nicht-binäre hut gottseidank hat)“, so Oskar Pastior, jeder Rechenmaschine überlegen ist.
Man braucht Menschen, die sich in Buchstaben verbeißen können, Menschen, denen, im Kopf, ein ungeheures Lexikon zur Verfügung steht, Menschen, die unter unvorstellbarem Druck ihre Fähigkeit nicht verlieren, Dinge aus einer anderen Perspektive in den Blick zu nehmen, Menschen zudem, die unbestechlich sind. Einmal – Mär oder Wirklichkeit – läßt darum der Geheimdienst ein über alle Maßen schwieriges Kreuzworträtsel im Daily Telegraph plazieren. Wer bis zum Lösungswort gelangt ist, erhält, ganz diskret, Besuch: Ob er sich vorstellen könne, so etwas ähnliches wie Kreuzworträtsel auch im Dienste seiner Majestät zu lösen?

Wir haben die Grenzen der Prozedur erreicht, gnädige Frau. Wir müssen jetzt ganz stark sein. Dies ist die Stelle, wo das Bad versagt. Sprechen Sie mir nach. Der Text versagt, dies ist die Stelle. Ruhig Blut. Dies ist die Lindenblattstelle, Mutabor, hören Sie? Es kommt jetzt ganz auf Sie an. Wir sprechen ganz vernünftig. Dies ist die Stelle, die entfernt wurde [hierzu auch Wechselbalg „Willentlich gebrochen“, WA Band 3, S. 207: „An dieser Stelle fehlt ein weißer Fleck.“]. Sprechen Sie nach, helfen Sie, Mensch, wir brauchen jetzt alle Kräfte. Warum machen Sie es uns so schwer? („Stimmen im Badhaus“, Abschnitt XVII, WA Band 3, S. 29)

*

Und „– jeder Titel ein Eigenname, und in jedem Namen (siehe auch: Omen) alles Mögliche an Lebenslauf angelegt“, schreibt Oskar Pastior im Nachwort zu seinem Band Anagrammgedichte.
Daß in EIGENNAME auch ENE ENIGMA enthalten ist, wundert mich, Oskar Pastior lesend, nicht.

Marcel Beyer, aus Theresia Prammer (Hrsg.): Der Ort des Schreibens findet statt, Verlag Peter Engstler, 2019

OSKAR ZU.

Mein geöffnetes Poesie-Gedächtnis

Zu Oskar Pastiors Lyrik „Gedichtgedichte“ an den Rand geschrieben: Ob das ein Leben ist im Bildschirmauge / sonst Nichts?

Doch jetzt lese ich Gedrucktes, kann es mit der Hand anfassen, das Papier, darüberstreichen: In Akzente (zum 70. von Oskar Pastior) notierte ich: Oskar zu, mein geöffnetes Poesie-Gedächtnis. Zwischentöne und pastiorisierte Übersetzungen. Tagebuchgedichte.

(Klammer dazu: Schon als Oskar Pastior starb, konnte ich es nicht fassen. Der zweite Schock war dann fast ähnlich groß, also auch eine Art Tod? Als ich Unfassbares erfuhr: dass Oskar IM war und auch mich bespitzeln sollte! ,,Mein Freund, der Securitatespitzel Oskar Pastior“ (Die Zeit, 23. September 2010). Es geht mir näher, als ich es anfangs zugeben wollte: Oskar ein IM der Geheimpolizei? Ich muss dies nachklingen lassen und ich kann es nicht glauben oder gar fassen. Und ich muss mich abschreiben oder ihn? Tief hineintauchen auch in Lyrikinnenerinnert. Es, was war, nicht wahr? Er ist ja tot. Und besucht mich nun als Geisterhafter tagnächtlich. Auch schön…! Ja, er ist in mir und seit Tagen denk ich nur noch in Gedichten. Ohr-Würmer manchmal… die bohren).

Pastieur / bei Melchior im Weg / Bähzüllus Wunhiet / Wund glied / Pastiör / Pass tier in die Getter Uhr / die Schlagschlacht Terra krängende Tür / vor Weg aufs Maul nicht mehr schaun, eher aufs Keins Mal.

 

24. September 2010

Ins Akzente-Heft (zum 70. von Oskar, als er noch lebte) schrieb ich zum – damals wenigstens – gelassen Ver-Fassten gestern hinein:

AUS GANG ZERSTÖRTE NEGATION

1 These oder Tanz mit Thesi
UN-Sinn ist in seinem Verschickel Zuhauf / sogar Haufen… / was Spaß macht / ist nur: wenn man den Sinn kennt. / Und lacht. Bei ihm / nur breit gestreut das Chaos und vieles wie es vom Hundertsten ins Tausendste, genau / UN-Verständnis samt / Wörtlichnehmen / zum Lachen ankommt, was da raus kommt? / Manchmal. Redundanz / Radunz, Worttanz mit Thesi aus Belleschdorf / und Distanz als Absicht / und das verstimmt. Sein IST ist Zeit Verlust. / Schwach auch das Spiel / etwa: ,,Schässburg aber ist das Andere von Dessaus Halle“ / Des-Aus? Meint er das Abseits / sogar im Satz? / Oder die Handballregionalliga als Kannsarm. / Ich bin dafür das Eine / zu-samm wie ein Kränzchen / Nix Tod! / zum Fox Trott (Kain Hund!) zu führen. / Main Ein Wand: Aber das Andere ist / nicht der UN-Sinn/ und Mannig-Faltige / sogar beim alten Kant / das Höchste ist IST / der Innere Sinn / in uns: ebenbildlich also sei das Ich, das Du, der Funke / der uns leben lässt, auch / in höchster Verzweiflung. So etwas wie ER in uns. Das höchste Gut sogar / das Gegen Teil von Oskars Mann-Ich-Faltungs-Chaos? Ich bin, also IST er?

Das kann er / ganz schön gewitzt / übers Vers Ohr hauen / auf den Schreib Arm nehmen… und weiß / ja ja immer die Null und das weiße Blatt als Bruder vor sich:

 

2 Anti Thesi. Damen Wahl
Auch wenn er um dies Eine ja kreist: „denn sinn gibt auch was sinn nimmt und sinn gibt was auch sinn nimmt.“ Juja / am Lebens Ende noch mal / Sinn des Gehens. / Oder seine Holopoeme. „Einen Text möglichst so zu machen, dass jeder Teil das Ganze enthält.“ / Wie die holografische Bildplatte mit einem Pferd (Pegas?) / die dich tatsächlich gerade bei ihm / platt macht. „Und dann nimmt man den Hammer und zerschlägt diese Platte / und plötzlich ist das Pferd auf jedem Splitter zu sehen. Also: jeder Splitter enthält dann wieder das ganze Pferd.“ Pegas und Gott? Und: „sinnbeladen nämlich, lautend.“ / Erst wenn er liest / ange spannt (Pegas) ent lässt / versteht man ihn. Eine Leserin: in.

… eine Ästhetik des „Missverständnisses“, die aufgestellt werden müsste – weil’s das Viele ist / welch ein Zusammenhalt?
Wichtig nur: Der Text bin ich /
und meines hier zu ihm / an kommend:
Molekül
Mole kühl, so viel
Wasser bis zum Hafen.

Bist du mein Traum?
Aber der Text ist ER!

 

3 Rockt Thesi: DES GANZEN JETZT
ANTITHESE und SYNTHESE ALSO?
Begeistert ein Nach-Lesen / nach der Verstimmung / OP-Stimmung Offen Halt? Halt! Schon könnte ich ein Buch „An Hand von Oskar“ schreiben:

Terzine oder Abgrund, stammt von ihm: „(…) meine Wechselbälger in Dreizeilerstrophen angeordnet sind – ein kleines optisches Signal dafür, worum es mir (…) wohl in allen diesen (…) Gedichten geht: ,… um mein Löcken wider die unselige Bipolarität in Sprache und Denken, und in der durch Sprache und Denken doch auch geformten Umwelt… und eben die verquere Logik, die ausufernden Wortketten, und auch optisch die Dreierstrophen als eine Möglichkeit, gegen diese binäre, bipolare Art des Denkens und Sprechens – aus der wir ja nicht herauskönnen… – anzugehen. Und auch der Spaß daran, das widersinnige Lachen (…) ja, der Digitaldenker, der soll ausgetrieben werden, diese Binärpulsare, Bösendorfer, Ja-Nein-Asketen usw. – bis weit hinter die Pointe…‘ Oder Pinte?

O weh, und mitten im Digitalen, Ja-Nein, sind wir im PC (also doch hier / wo wir uns gerade befinden?!) und Internet und Mailmachen gelan dent, tut weht der Zeitstuhl… Dr. dent. Nah, versuch’s mal, zieh dir diesen Zahn: heute, nichts als nur noch Digitale, Bildschirmstirnen… Das wärt doch einfach Kopfab!

Und gegen Oskars „unselige Bipolarität“ ließe sich / sogar zum so schön nachträglich Kommentieren finden: ganz / mit meiner Poetik der holografischen Mikrophysik / der dreiwertigen Logik, ja / Quantenlogik: Dann siehst du es doch endlich: Oskars Poesie und Holografie ist Widerstand und unser Gut!

So also mir gesandt,
so also bei mir gesagt, schon lang:

„Moderne Literatur ist undenkbar ohne radikales Sprachspiel, erwachsen aus radikaler Sprachskepsis; heute weiß sie mehr denn je davon, dass sich der Baum wundern würde, wüsste er, dass wir ihn ,Baum‘ nennen; und doch glauben wir immer noch daran, wir hätten in diesen vier Buchstaben etwas WIRKLICHES, und wir bilden uns etwas darauf ein, wenn wir ,Bewusstsein‘ oder gar ,Gott‘ sagen. Wittgenstein empfiehlt als Alternative Schweigen, Benjamin die unsichtbare, aber spürbare ,Aura‘ und den ,Schock‘, Joyce die ,Epiphania‘; und George Steiner meint – weit zurückgreifend –, all dies kulminiere in Arnold Schönbergs Oper Moses und Aaron, dem Aufschrei des Erweckerpatriarchen Moses: ,Oh Wort, du Wort, das mir fehlt.‘ Das Fehlende also erst sage aus, was ist.“

Ausgerechnet der Stotterer (der Sprachbehinderte) Moses erhielt am Sinai von dem „Einen Gott“ die Tafeln, Mutationen des Namens (JHWH); ein Sinngeflecht, das wie ein „Baum“ angeordnet gewesen sein soll, die sogenannte schriftliche Thora – oder die fünf Bücher Mose. SCHRIFT – aber das Sinai-Ereignis ist unbeschreiblich, wie auch die deutsche Bibelübersetzung, genau wie jede andere normale Übersetzung, nur eine Annäherung, eine sehr approximative Deutung sein kann, da die hebräischen Worte zugleich auch Zahlen sind, also Ausdruck von Proportionen, das riesige Sinngeflecht eines Gesamtzusammenhanges, das eine Struktur ausdrückt, keine willkürliche, vom Geschehen abgetrennte Wort-Semantik ist.

HIMMEL HERRGOTT. VÖGEL. Ja. FRAU SPRACHE
wie geht das? Aber ja: Liebesakte täglich / klar und
wahr. Nicht im Lexikon nur / sondern im Himmel: wirklich.
Aufs gemeinsame Kommen: Musik: auf GANZ klingt es nur!
Auf Gebot / ein Zehntes? Nackte Hochzeit fiebert,
arg geht die V ins Maß der Augen / des Voyeurs. Was aber
nur sichtbar ist / das ist es nicht

Ist: wahnsinniges Stimmen Gewirr aber
von Floskel und Bedeutung, löchert uns doch
die Schwester Sprach Maschine

Frau Sprache aber zeigt ES mir / das Eine anders IST.
Ich fließ…

 

RAHMEN Weiße
Rahm der Greise
mit Tonsur

Russische Puppen
wie erinnert
Pup das Kind

Die Zwei als Volk
die Drei als Gott

Und unten Un-Eins das Viel
da wimmert es

Das Bildverbot, ja Aussageverbot geht auf die Einsicht zurück, dass wir im Grunde nicht einmal das, was sichtbar ist, geschweige denn das Unsichtbare im sichtbaren Augen-Bild festlegen und aussagen können und dürfen. Wir machen uns ein Bild, schneiden das Abgebildete aus dem großen Zusammenhang, trennen, isolieren, verfälschen also. Ja, wir verlieren damit die Fähigkeit zum Offenen, also zu den angesprochenen Mutationen des kosmischen Zusammenhanges, mit dem wir und alles, was wir wissen, denken, benennen, auch ahnen können, zutiefst verbunden sind! Wer nämlich benennt, teilt, verlässt das Eine, geht in einer Innen-Außen-Beziehung ins Reich der Zwei über.

So beginnt auch die Bibel mit der Zwei: Bereshith bara, ,,Im Anfang schuf“: B ist die Zwei. Doch so gesehen, lässt sich Annäherung ans Eine, den „Sinn“, und sei es in einem einzelnen Grashalm, nur im Sinngeflecht selbst vollziehen, an das wir über unsere Intuition „angeschlossen“ sind. Aber diese „Gnade Gottes“ scheint auch in unserer Sprache, wenngleich in abgeschwächter Form, als SINN gespeichert zu sein. Mit dem Flash des immer besseren Verstehens der Zusammenhänge, des Ein-Leuchtens, sind Glücksgefühle verbunden, die sich mit dem Grad der Nähe zum Zentrum von Sinn ekstatisch verstärken. Das Sinnlose, bruchstückhaft zusammenhanglose „Unten“ aber schmerzt.

Jenes Glück der Eins-Nähe empfand ich als „Anwesen“. Wir würden zwar da unten mit-fließen / aber besser oben / wunderbar immer im Anwesen: nicht abwesend. / Das Quälende aber hat uns / die Störung Leben:

 

„Auch die Blaubeere, auch das Blut der Fische,
auch der Lehm am Fluss verwirrt die Vorschau
und löscht die Zeichen im Plan.
Ebbe und Flut, des Mondes Kommen und Gehen,
verwirrt (…).
Das Sitzen wurde zur Weltordnung erklärt.“
(„Grenzstreifen“, 1968)

 

Vom Ekel damals ging auch Oskar aus, sein, unser größtes Trauma, die Losung, nicht nur die Zellenherrin Securitate… sie war das Pendant…

OP: Eigentlich alles / poetologische Versuche, die den Sätzen entlaufen. Des Geistes Kind / das Gegenstück und Innereien des Gegenfests Grammatopolis und Parteien.

„Klumpatsch“ auch: Avortus-Hieb / Abgehn vom Befehlsstand und / Lust an Befehlsverweigerung: / Fleischeslust. Na schau. / Worttiefe Kost und Köstlichkeiten / im Nichtwissen Reichsein / auch im Altersuntergang. Und grad im Warten auf das Ende.

Neben der Kausalität existiert also ein viel wichtigeres, umfassenderes Weltprinzip: Gleichzeitigkeit und Sinn, auch Synchronizität und „sinnvoller Zufall“ genannt. Die alten Chinesen kannten schon, ähnlich wie heute die Quantenlogik und die sogenannte Holistik, neben der Kausalität die Verbindung der Dinge durch SINN (Tao). Und je näher wir diesem Zentrum des Einen im Tao kommen, desto dichter wird das Geflecht von Einzel-Sinn auch im Ereignis. Zufall z.B. ist nur der (noch) unerkannte Zusammenhang. Laotse, der Autor des Buches vom Tao te king, nennt TAO auch das Nichts, weil es den Gegensatz zur sinnlichen Wirklichkeit ausdrückt: „Dreißig Speichen umgeben eine Nabe: / Auf dem Nichts daran beruht des Wagens Wirkung. / Man macht Schüsseln und Töpfe zu Gefäßen: Auf dem Nichts darin beruht des Gefäßes Wirkung. / Man höhlt Türen und Fenster aus an Zimmern, / Auf dem Nichts darin beruht des Zimmers Wirkung. / Darum: das Etwas schafft Wirklichkeit, / Das Nichts schafft Wirkung.“

„Ich glaube, diese Gebilde sind (vom Entstehen her gesehen) nichts anderes als hin und wieder zu Papier gebrachte Strecken eines Sprachflusses, eines Kontinuums, dem Organischen und Fließenden verwandt, also auch ohne feste Anfangs- und Endpunkte. Wie sollte man so etwas betiteln!“ (OP: „Jalousien aufgemacht“, „Titel sind ohnehin…“)

Die Hopi kennen keine Substantive, nur Fließendes als Bezeichnung des Flusses Welt.

„Der Sinn aber wird durch die Sinne verdunkelt, ebenso durch den zerschneidenden Begriff, weil diese nur Äußeres, nur das ,Etwas‘, nicht aber das Nichts, die Leere wahrnehmen können, die für das Wahrnehmen der nichtkausalen Weltformel jenseits des reduktiven Ego-Verstandes viel wichtiger ist.“ (DS: Nachwort zu Lauter letzte Tage, unveröffentlicht)

 

In Jalousien aufgemacht eigene Gedichte gefunden – „an den Rand geschrieben“:

 

Ich dacht’ entgiftet sei ich
niemals schuldig.

 

RANDPHÄNOMEN AUFGEMACHT 90:
ist ein Üben mit dem Ü
als wär ich wieder Kind / mit Ben und Hadschi prost!
eşti Oma Ben. / Das kluge Kleinhirn
von früher / Gedächtnis. Und bald Zuhause in Alz Heim
wirst du gereimt Sein.
Damals noch gründig gründlich gründet
Gründe den Grund / ab Buch dass Zufall
ein Kind ist

Welches ist
deine Farbe? / Grün grün grün
sind alle meine Kleider, und meines
ein Blatt, das durchlässt

Die Membrane als Beweis
das ist der Innen Reim, den ich auf
dein Verschickel mach

Dazu die Außen Schale.
Und wir beide / der Tote und der Untote
laufen / durchs Grün davon

 

(Auf dem Beipackzettel mit Foto:)

 

WENN ICH ZU ENDE GEHE, fort
aus der Autobahn
gefahren ist gut
das Wort staunt / stapft sich aus
aber der Rand / der Unfall brachte
mich hinaus, dass die Entfernung wachse
aus der ich stamme, mein Aus

Hier aber bin ich alt. / Die Landschaft
bleibt Agliano, meine Fremde / zu Haus
und ich der ist, der
sitzt und redet, fährt, im Augen Schein
erwachsen?
Nein! Ich bin doch gar nicht, wenn ich
fahre, wer fährt, der ist gefährlicher
zu Haus

(Heute: Bewusster Augenblick / als ich die Treppe hinab / ging wie jetzt im Leben: / dachte: halt den Augenblick / an. Wenn er jetzt kommt / ein Kreisel ist die Wiederkehr/ hab ich’s getan / Umkehr jener Treppenstufen; hinauf? Oder: wir leben so dahin, stündlich, täglich… / als hätten wir ewig Zeit… Und jetzt als Überlebender weiter / dieses so, als Oskar noch nicht tot war: Sein Vater war mein Zeichen Lehrer / im Zeichen Saal. Beachte das Doppel:)

 

FRAU UND MANN DIE HALMENFRESSER,
DIE HALMEN MESSER

Die Mitte, wo sie wächst, das harte Gras,
ich kam, ich bin ihm zu getan, tut weh
und glitscht wie Meeres Grund, ein Drehen –
es saugt, wir sind bewegt, dem andern zu.
Und Wahnsinn ohne Maß, der Hals, der Kuss
an jedem Ende ist das Gras, du hörst, es wächst
im Mund, hörst du, es ist verkehrt,
ein Plus, ein Und ist es / das Kreuz

Der S-a-r-g

 

Und er (S. 43, „Petrarca“): „… wahrscheinlich aus einem ganz beliebigen Film, Bukarester Jahre): der Junge und das Mädchen haben einen Grashalm im Mund (waagrecht!), an dem sie kauen, wetteifernd, wer zuerst schneller beim anderen, also in der Mitte (beim Kuss) angelangt ist. Von beiden Seiten her auf eine Mitte zu. Und nun Kafkas entgegengesetzte Aussage: von der Mitte aus (auf der Vertikalen, die Schwenkung um 90 Grad!) nach beiden Seiten: das ist doch herrlich! Was entsteht, ist nämlich ein Zeichen+.“ Also bleibt uns ein Und / und ein KREUZ.

HALM, der Kuss, das Weh
im Gras
verkehrt

Doch wie schön ist die Ruhe! Jetzt.
Im Tod ist man / in der Mitte angekommen:

Ich ,dacht‘ entgiftet sei ich
niemals schuldig
da war dies Weibsstück das mich ungeduldig
ans Stoff-Seil hing und
auf, indem ich bin der, der ich bin.
Viel mehr noch:
innerstes Fließen / und hab
das immer im Sinn

Dieter Schlesak

april kann im april sehr kalt sein

– Über einen Satz von Oskar Pastior. –

(1)  april kann im april sehr kalt sein, dieser Satz, von dem ich annehme, daß er von Oskar Pastior stammt – sicher bin ich mir da allerdings nicht – und der möglicherweise gar nicht april kann im april sehr kalt sein heißt, sondern vielmehr mai kann im april sehr kalt sein oder gar april kann im mai sehr kalt sein, dieser Satz also, von dem ich, wenn ich ehrlich bin, mittlerweile nicht einmal mehr sicher weiß, ob es ihn überhaupt irgendwo außerhalb dieses Vortrags gibt, ob er also womöglich von mir stammt und nicht von Oskar Pastior, dieser Satz, dieses Bündel von Sätzen unbekannter Herkunft, von denen ich einen so wenig verstehe wie den oder die anderen, diese Sätze, oder doch nur dieser eine Satz april kann im april sehr kalt sein soll als Ausgangspunkt für einige Überlegungen zum Verhältnis von Poesie und Grammatik dienen – und es würde mich nicht weiter überraschen, wenn als Ergebnis dieser Einübung ins Unvermeidliche am Ende genau dieses stünde: daß April im April sehr kalt sein kann.

(2)  Nur wäre das dann ein ganz anderer Satz. Nicht weil er zwingend auf etwas anderes verwiese, sondern weil er eine andere grammatische, syntaktische Struktur aufweist. Und selbst das ist noch zu viel gesagt! Denn wenn ich sowohl die Ellipse „daß April im April sehr kalt sein kann“ als auch den Satz april kann im april sehr kalt sein nicht verstehe, würde ich nicht behaupten, daß ich sie auf dieselbe Art nicht verstehe, ganz unabhängig davon, ob sie auf dasselbe, das gleiche oder ob sie überhaupt auf etwas verweisen – was allein daran liegt, daß Verweisen und Aufweisen hier die falschen Kategorien sind. Beide Gebilde nämlich „weisen ihre Struktur nicht auf“, sondern sie zitieren sie herbei, und sie „verweisen“ dabei auf nichts anderes als eben auf die von ihnen herbeizitierte syntaktische Struktur.

(3)  Mir scheint es ein Grundproblem jeder reflektierten Erscheinungsform von Literatur zu sein, das Vertrauen in die Möglichkeiten des Bezeichnens und Verweisens verloren zu haben – und es spielt hier überhaupt keine Rolle, ob sich diese Skepsis auf die Erfaßbarkeit der Welt, auf die Abbildungspotenziale der Sprache oder auf beides bezieht. Gleichzeitig scheint es aber – auch bei erkannter Problematik – schwierig zu sein, sich NICHT zu beziehen, NICHT zu verweisen und NICHT zu bezeichnen. Keine Lösung des Problems, aber zumindest eine Möglichkeit des Umgangs damit schien mir lange Zeit ein „markiertes“ Sprechen zu sein, wobei die Markierung darin bestand (oder besser: bestehen sollte), das jeweils benutzte Wort in virtuelle Anführungszeichen zu setzen, also das Einzelwort gewissermaßen uneigentlich zu verwenden, etwa so: „Du liest zwar ,Baum‘ und denkst dann ,Baum‘, wenn Du mich liest – ich bin aber in Wahrheit gar nicht die Art Wort, die etwas bedeutet / bezeichnet / benennt / auf etwas verweist / referiert / sich bezieht / repräsentiert / denotiert / Bezug nimmt usw. – in Wirklichkeit bin ich etwas völlig anderes!“ Aber was? Das ist ganz schwierig. Mir kam es so vor, als ob das markierte Wort etwas wäre, das ungefähr in der Mitte liegt zwischen: Notation einer Lautform / eines geformten Klangs – und: einem Zitat aus dem Wörterbuch.
Der Witz schien mir nun darin zu bestehen, so nicht nur ein uneigentliches Sprechen, sondern darüber hinaus so etwas wie ein „unauthentisches“ Sprechen etablieren zu können, also eine Art Fiktionalisierung zweiten Grades (oder Meta-Fiktionalisierung), in der letztlich immer wieder eines zum Ausdruck gebracht werden soll:

Ich (der Autor) spreche nicht über, sondern zeige vor!
Ich (das Wort) bezeichne nicht anderes, sondern bin selbst!

Von heute aus gesehen liegen hier, glaube ich, mindestens zwei Denkfehler vor:
Zum einen löst man die erkenntnistheoretischen Probleme des Außenweltbezuges, also letztlich die der wackeligen Referenzbeziehung von Wort und Gegenstand, natürlich nicht dadurch, daß man allen „traditionellen“ Gegenständen: Bäumen, Äpfeln, Steinen die Existenz abspricht und stattdessen nur noch die neue Klasse der markierten Wörter, also der „wortförmigen“ Gegenstände gelten läßt: „Baum“, „Apfel“ und „Stein“ – ganz im Gegenteil tritt man so in einen Zirkel ein, der für das Schreiben sehr produktiv sein kann, aber für das Denken tatsächlich verhängnisvoll ist, zum anderen scheint es mir fast unmöglich zu sein, einem Einzelwort semantisch unvoreingenommen zu begegnen. Natürlich passiert es einem immer wieder, die Bedeutung eines bestimmten Wortes nicht zu kennen. Kennt man sie aber auch nur ungefähr, wie ich es bei mir für die Fälle Baum, Apfel und Stein annehmen möchte, ist es schwierig, sie zu vergessen, selbst dann, wenn man die „nicht-semantische“ Funktionalisierung oder Inanspruchnahme, also die „Zitiertheit“ des betreffenden Wortes (wortförmigen Gegenstandes) sehr wohl erkennt.
Nicht-Verstehen ist keine Kategorie, die sich auf Einzelwörter anwenden ließe.

(4)  Nicht-Verstehen ist aber sehr wohl eine Kategorie, die sich auf Sätze anwenden läßt. Was etwa den Satz april kann im april sehr kalt sein betrifft – wenn es ihn denn gibt, diesen Satz april kann im april sehr kalt sein – so gibt mir keiner seiner Bestandteile große Rätsel auf. Ich kenne die Wörter April, können, im, sehr, kalt und sein – und ich glaube zu wissen, was sie bedeuten. Trotzdem habe ich keinen blassen Schimmer, was dieser Satz in der Addition seiner Glieder oder darüber hinaus (satzsemantisch) bedeuten könnte.
Was ich sehr wohl begreife: daß hier ein anderes, ein strukturelles Verstehen gefragt ist. Weil in diesem Fall eben keine Wörter (und schon gar nicht ihre Bedeutungen) zitiert werden, sondern tatsächlich eine syntaktische (und zwangsläufig: rhythmische) Struktur. Und was ich noch begreife: daß die Möglichkeit des Verstehens vor allem oder nur deshalb interessant ist, weil durch sie das Nicht-Verstehen erst möglich wird.

(5)  Wenn ich nun Oskar Pastiors Satz april kann im april sehr kalt sein richtig nicht-verstehen will, muß ich dann wissen, auf welchen anderen Satz der april-Satz strukturell Bezug nimmt? Da bin ich mir nicht sicher, schon deshalb, weil ich gerade im april-Fall den einen echten Bezugssatz gar nicht kenne und nur annehme, mehr oder weniger begründet annehme, daß es ihn gibt. Was ich höre, ist ein ganzes Bündel von strukturellen Bezügen: „Venedig kann sehr kalt sein“, „Meran ist im Mai wahrscheinlich am schönsten“, „April is the cruellest month“, das Russellsche Paradoxon von den Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, „Sometimes it snows in April“ usw. usf. – Was aber ist nun durch dieses strukturelle Verstehen und Nicht-Verstehen eigentlich gewonnen?

(6)  Wenn ich oben von den „reflektierten Formen der Literatur“ gesprochen habe, so waren damit mehr oder weniger die nicht-linearen, experimentellen Formen der Lyrik gemeint.
Wenn man nun auf irgendeine Weise in dieser Tradition weitermachen möchte, und also einerseits weiß, welche Probleme ein absichtsvolles, inhaltlich gelenktes Schreiben aufwirft, andererseits aber erkennen muß, daß die Spielanordnungen der Selbstbezüglichkeit und Vergegenständlichung weitgehend ausgereizt und durchgespielt sind, dann kommt man, glaube ich, nicht darum herum, nach einem dritten Weg zu suchen, nach einem neuen, „bezüglichen“ oder Bezug nehmendem Sprechen, nur wäre jetzt der Gegenstand dieser Bezugnahme nicht mehr die Welt, sondern das System aller jemals geäußerten Sätze bzw. aller jemals geäußerten Sätze, die dem Autor, bewußt oder unbewußt, erinnerlich sind. Die Art der Bezugnahme kann dabei ganz unterschiedlich sein, vom tatsächlichen, womöglich sogar ausgewiesenen Zitat bis zum unterschwelligen Strukturnachbau in z.B. der Vokalabfolge oder der Folge von Anlauten, einer rhythmischen oder rhetorischen Struktur usw. Gewonnen wäre damit – das glaube ich zumindest im Moment noch – sich der erkenntnistheoretischen Aporie: über keine verallgemeinerbaren Erkenntnisse bezüglich der Außenwelt verfügen zu können, beim Schreiben aber andauernd so zu tun, als könne man doch – sich dieser Unmöglichkeit einigermaßen elegant entledigt zu haben, indem man als Referenzsystem eben nicht eine „fertige“, bestehende und damit empirisch überprüfbare Welt wählt, sondern ein System von Sätzen, das diese Welt erst konstituiert. Oder noch besser: Irgendwann einmal konstituiert haben wird.

(7)  Ich fürchte nur, daß ich damit überhaupt nichts Neues sage oder gar einfordere. Ich glaube mittlerweile, daß Schreiben – jedes Schreiben, nicht nur das Schreiben von Literatur – genau so funktioniert: als bewußtes oder häufiger unbewußtes Nachbauen bereits bestehender syntaktischer Strukturen, vor allem suggestiver syntaktischer Strukturen: Kirchenlied, Werbeslogan, Abzählreim, Zauberspruch, falsch verstandenes Englisch usw.
Mir z.B. ist es schon sehr oft so gegangen, daß ich auf einen eigenen Satz sehr, sehr stolz war und gar nicht glauben konnte, daß mein Verstand so scharf und mein Gemüt so tief waren, mir solche außergewöhnlichen Sätze zu erlauben. Aber nur wenig später mußte der scharfe Denker und tiefe Empfinder dann bei der Lektüre eines fremden Gedichtbandes feststellen, daß dieser wunderbare Satz ganz offensichtlich unbewußt aus dem Gedächtnis zitiert worden war und eigentlich einer anderen Dichterin, einem anderen Dichter gehörte: april kann im april sehr kalt sein.

(8)  Nachtrag:
Und dann ist etwas Seltsames passiert: ich habe den April, der im April sehr kalt sein kann, doch noch gefunden, auf einer Reise von Berlin nach Frankfurt, die dann mit dem Flugzeug weiterging bis nach Istanbul, wo ich diesen Text vorlesen sollte – und tatsächlich steht er bei Oskar Pastior, und genauso tatsächlich ist es nicht der April, sondern der Mai, der zwar nicht im April, aber doch im Mai sehr kalt sein kann. Hier das ganze Gedicht, aus: Oskar Pastiors Band Wechselbalg. Gedichte 1977–1980 (Spenge: Verlag Klaus Ramm 1980):

FARN-VIDEO

Fortan wird man sich suchen müssen – nicht
nur am Fußende: auch in den Gummilinsen geht
es kniehoch hin und her. „Gleichwohl, man

wird es noch erleben“ – ein Wort, das man
sich merken müssen wird. Gesondert stehen
Imbiß-Kübel zur Verfügung – einstweilen, so.

„Wenn Sie mitnehmen könnten: was ließen Sie
zurück?“ Leuchtkraft läßt sich dahingehend
pressen, daß „man sortieren wird – vorausge-

setzt, es wird getrennt“. Insofern winkt Na-
tur – Mai kann im Mai sehr kalt sein; man
wird sich zu entziehen wissen; Entwicklung

ist kein Abbruch der Gefühle, eher ein Full-
time-Kübel. Gemessen an der Deutlichkeit von
alten Schuhen droht nur ein kleiner Abstand –

dem wird entsprochen werden, vorausgesetzt,
man findet darin Platz. Denn an den Schirmen
scheiteln hinfort sich die Haare – man wird

sich kniehoch schultern müssen. „Im Anschluß
finden Sie Gelegenheit zum Rauchen.“ Insofern
wird man große Stücke suchen – der Wald lebt.

Oskar Pastior

Ulf Stolterfoht, aus Theresia Prammer (Hrsg.): Der Ort des Schreibens findet statt. Begegnungen mit Oskar Pastior. Verlag Peter Engstler, 2019

 

 

ATEM IST…

… was den Mund hält. Schürt’s kein
Wunder. Löst die Stimme ein
als kein Versprechen. Im
Bähnchen bis
zur Raspelière
nur summen. «Passt
ins Ohr!» Für
diesmal alles Kuss. Ein Alt
der aus der Zukunft
muht. So
geht der Sturm
am Wind zugrund. Statt
hungers leben.

Felix Philipp Ingold, Romainmôtier, Le Prieuré; Oskar Pastior zugedacht

 

 

 

Interview mit Oskar Pastior für das Haus des Deutschen Ostens.

Interview mit mir. Diese Aufnahme beinhaltet ein poetologisch dichtes, leider aber nicht realisiertes Interview von Christian Prigent mit Oskar Pastior, dass vermutlich für die von Christian Prigent herausgegebene französische Zeitschrift TXT geführt wurde.

Lesung Oskar Pastior am 20.7.2005 im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Herta Müller: Mein Freund Oskar

Studio LCB mit Oskar Pastior am 20.12.1990 im Literarischen Colloquium Berlin
Moderation: Hajo Steinert
Gäste: Francois Bondy und Klaus Ramm

Gespräch I
Wie sieht die alchimistische Poesie des Oskar Pastior aus?

Lesung I
Oskar Pastior liest Gedichte

Diskussion I
Wie deutet man die Texte Oskar Pastiors?

Fortsetzung von Diskussion I und Lesung II
Oskar Pastior liest Gedichte vor

 

Diskussion II
Der aleatorische Charakter seiner Poesie

 
Franz Josef Czernin: Die Regel, das Spiel und das Andere. Zum Werk Oskar Pastiors.

Oskar Pastior liest aus seinen verschiedenen Texten und Übersetzungen ein Programm, das die Sprachbewegung jeweils in der Konzentration auf einzelne Laute und Buchstaben nachvollzieht. Aufgenommen auf einem mehrtätigen Festival mit dem Titel Für die Beweglichkeit im Kunstverein Maerz in Linz.

 

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Jochen Hieber: Die Suppe ist einmalig
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.1987

Herbert Wiesner: Frauen-Bild-Beschreibungsschrift
die tageszeitung, 20.10.1987

Hans Bergel: Vom Rückzug der Sprache auf sich selbst
Siebenbürgische Zeitung, 31.10.1987

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Hannes Schuster: Ein „Wörtlichnehmer“, der das Wörtlichnehmen ertragbar macht
Siebenbürgische Zeitung, 15.11.1992

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Bettina Knauer/Gunnar  Och (Hg.): Oskar Pastior, 70
Akzente, 1997

Herta Müller: Minze Minze
Die Zeit, 17.10.1997

Franz Mon: die krimgotische Schleuse sich entfächern zu lassen“
Der Literaturbote, 2004

Jörg Drews: Eros & Callas?-: Ein Echo-Kollaps
Süddeutsche Zeitung, 20.10.1997

Zsuzsanna Gahse: Schwitt, Schwitter, am Schwittersten
Stuttgarter Zeitung, 20.10.1997

Harald Hartung: Jalousien aufgemacht!
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.1997

Paul Jandl: Die Hosenträger der Erkenntnis
Neue Zürcher Zeitung, 20.10.1997

Cornelia Jentzsch: Gimpelschneise in der Winterreise
Berliner Zeitung, 20.10.1997

Dorothea von Törne: Der Meister der Wortlust
Der Tagesspiegel, 20.10.1997

Ernest Wichner: Magier der Vernunft
Frankfurter Rundschau, 20.10.1997

Thomas Krüger: hart pommern die fritten
Die Woche, 31.10.1997

Gerhard Mahlberg: Aus Anlaß seines 70sten Geburtstags am 20. OktoberDeutschlandradio

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Thomas Kling: Die Ballade vom defekten Kabel
Literaturen, Heft 10, Oktober 2002

Thomas Kling: Die glühenden Halden
Frankfurter Rundschau, 19.10.2002

Nachrufe auf Oskar Pastior: NZZ ✝ FAZ ✝ BZ ✝ Der Tagesspiegel ✝
Die Welt ✝ der Freitag ✝ die horen 1 + 2 + 3 + 4 + 5 ✝ AdK ✝
Chimaere ✝ Schreibheft

Weitere Nachrufe:

Nico Bleutge: Ein Verwandlungskünstler der Sprache
Stuttgarter Zeitung, 6.10.2006

Michael Braun: Vom Sichersten ins Tausendste
Basler Zeitung, 6.10.2006

Michael Krüger: Schamane des Experimentellen
Süddeutsche Zeitung, 6.10.2006

Christine Lötscher: Er verzauberte die Sprache und Menschen
Tages-Anzeiger, 6.10.2006

Martin Lüdke: Aus dem Staub gemacht
Frankfurter Rundschau, 6.10.2006

Peter Mohr: Ein Magier der Sprache
Badische Zeitung, 6.10.2006

Lothar Müller: Der Zungenzwinkerer
Süddeutsche Zeitung, 6.10.2006

Hubert Spiegel: Im Exil bei Freunden
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.10.2006

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Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Autorenarchiv Susanne Schleyer + Galerie Foto Gezett +
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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Oskar Pastior

Oskarine ist ein Gedicht-Generator von Ulrike Gabriel, der auf den Gedichten von Oskar Pastior basiert. Jedes Gedicht spricht sich selbst – immer neu und mit der Dichter-Stimme.

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