Ossip Mandelstam: Armenien

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ossip Mandelstam: Armenien

Mandelstam/Herzog-Armenien

Genug gehadert! Lassen wir das Blatt verschwinden!
Ein toller Dämon sitzt mir im Genick,
Es ist, als hätte mich Friseur François von hinten
Gewaltig eingeseift und shampooniert.

Ich bin – wollen wir wetten? – noch am Leben,
Und wie ein Jockey bürge ich dafür,
Dass ich mich in die Zügel legen
Und mächtig traben werde – glaubt es mir!

Ich weiss: der Jahrgang einunddreissig
Erblüht bereits im Faulbeerbaum.
Ich weiss: die Regenwürmer reifen,
Ganz Moskau schwimmt, wiegt sich im Traum.

Nur mit der Ruhe! Ungeduld bringt Kosten.
Ich steigere das Tempo ohne Hast,
Verlasse kalten Fusses unsern Posten
Und halte die notwendige Distanz.

 

 

 

Editorische Nachbemerkung

„Nichts ist wieder gutzumachen…“ Mit diesen Worten unterstrich Ossip Mandelstam in einem Brief vom März 1930 die Tatsache, dass seine private und politische Situation als Sowjetschriftsteller unhaltbar – weil „unerträglich“ – geworden war; doch er fuhr fort:

Jeder Abbruch ist eine Chance. Diese muss ich wahren. Ich darf sie nicht vergeben.

Dem Abbruch von Mandelstams literarischer Karriere – er hatte seit 1925 ausser Kinderversen nichts mehr veröffentlicht und kaum noch etwas geschrieben – war eine von langer Hand inszenierte und mit äusserster Schärfe ausgetragene Verleumdungskampagne vorangegangen, die den damals noch nicht vierzigjährigen Autor physisch wie psychisch schwer belastete: Mandelstam, mittellos, krank und rasch gealtert, hatte keinen Beruf und keine Wohnung mehr:

Schwer ist mir. Schwer ist mir immer, aber ich finde jetzt die Worte nicht, um darüber zu berichten. Man hat mich verwechselt, man hält mich fest wie in einem Kerker, es gibt kein Licht. Ich möchte die Lüge wegfegen – und es geht nicht… Ich muss fort von hier. Und zwar gleich. Doch wohin sollte ich gehen? Eine Wüste umgibt mich…

Dass Mandelstam im Frühjahr 1930 durch Vermittlung Nikolaj Bucharins eine Kaukasusreise unternehmen konnte, änderte zwar nichts an seinem materiellen Elend, verhalf ihm aber – fern vom „buddhistischen“ Moskau, noch ferner vom „revolutionären“ Leningrad, dessen Friedhofsruhe ihn mit Todesangst erfüllte – zu einer mehrmonatigen Atempause und ermöglichte ihm die Wiederaufnahme seiner literarischen Arbeit. In Begleitung seiner Frau hielt sich Mandelstam, nach einem kürzeren Aufenthalt in Georgien, vom Frühsommer bis zum Spätherbst 1930 in Armenien auf, jenem urtümlichen, hochkultivierten Land, das er als Vorposten des mediterranen, mithin des griechisch-römischen Kulturraums und als „jüngere Schwester Judäas“ all „den bärtigen Städten im Osten“ vorzog.
Wie Mandelstam die „Chance“ des „Abbruchs“ genutzt hat, ist belegt durch eine zwischen Mitte Oktober und Anfang November (auf der Rückreise in Tiflis) entstandene – später durch mehrere Zusatztexte ergänzte – Gedichtfolge sowie durch den Prosazyklus „Reise nach Armenien“ (1933) und die dazugehörigen Vorstudien (1931). Mit dem Aufenthalt im Kaukasus, wo die altgriechische, die frühchristliche und die jüdische Geisteswelt sich verschränken, erhielt Mandelstam – sein lyrisches Spätwerk bezeugt es aufs eindrücklichste – die „Gabe der Dichtung“ zurück; die „Verse entstanden in dichter Folge“, und „es begann ein neuer Abschnitt seines Lebens“ – der letzte; 1938, im Alter von siebenundvierzig Jahren, starb Ossip Mandelstam als Opfer des stalinistischen Terrors in einem fernöstlichen Durchgangslager .

Die vorliegende Textsammlung enthält nebst dem zwölfteiligen Verszyklus „Armenier“ eine Reihe weiterer Gedichte und Fragmente Ossip Mandelstams, die in denselben thematischen Zusammenhang gehören. Zur Erhellung des zeitgeschichtlichen, biographischen und literarischen Hintergrunds wurde den Texten eine Auswahl von Notizen beigegeben, in denen Mandelstam seinen Kaukasusaufenthalt – auch dessen Vorbereitung, dessen Folgen – punktuell vergegenwärtigt und die ihm, zumindest teilweise, als Vorlage für sein letztes Prosawerk, Reise nach Armenien, gedient haben.
Mandelstams „Armenien“-Zyklus erschien erstmals (ohne Epigraph) in der Zeitschrift Novyj mir (1931, H. 3); ein ergänzter Nachdruck erfolgte 1966 in der Zeitschrift Literaturnaja Armenija (H. 1) und wurde bald darauf in die amerikanische Werkausgabe von Gleb Struve und Boris Filippow übernommen (Sobranie sočnenij, I, Washington 1967), die auch alle weiteren hier übersetzten Gedichte enthält. Letztmals erschien der Zyklus (wiederum ohne Epigraph) in Nikolaj Chardshijews textkritischer Edition von Mandelstams Gedichten (Stichotvorenija, Leningrad 1973). Den Erstdruck der Notizbücher aus Armenien und Georgien besorgte Irina Semenko für die sowjetische Monatsschrift Voprosy literatury (1968, IV); ein Nachdruck dieses Materials ist in der amerikanischen Werkausgabe enthalten (III, New York 1969). – Wassilij Grossmans Bericht aus Armenien, der hier (soweit er Mandelstam betrifft) als Klappentext verwendet wird, entstammt dem Prosaband Gute Wünsche! (Dobro vam!, Moskau 1967); bei der Notiz von Gework Emin handelt es sich um einen Auszug aus dessen Hinweis auf Mandelstams Reise nach Armenien (in Literaturnaja Armenija, 1967, H. 3).
Für Auswahl und Anordnung der Texte zeichnet der Übersetzer verantwortlich.

Felix Philipp Ingold, Nachwort, Mai 1985

 

Mandelstam und Armenien

… ein wahrhaft biblischer Geist ist in den Gedichten zu spüren, die Mandelstam Armenien gewidmet hat – die Luft des Ararat, des Bibelbergs, vermengt mit dem Geist des Volks, das die Bibel geschaffen hat. Mandelstam hatte schon vor seiner Ankunft in Armenien von diesem Land geträumt, und er hat nicht nur dort an Ort und Stelle darüber geschrieben, sondern auch später in Moskau und in Woronesh, bis in seine letzten Lebenstage… Zu seiner „schöpferischen Dienstreise“ traf Mandelstam zusammen mit seiner Frau im Mai 1930 in Armenien ein und hielt sich hier bis zum November auf. Er war über Leninakan angereist, und danach bereiste er von Eriwan aus ganz Armenien – er fuhr nach Aschtarak und Etschmiadsin, zum Agaraz und zum Sewan… Den Juni und Juli verbrachte er am Sewan-See, und dort hatte er auch Gelegenheit, sich mit zahlreichen Kulturschaffenden bekanntzumachen… Mandelstam beschreibt das problematische Armenien der dreissiger Jahre, ein Land voller Ausrufezeichen, doch sind seine Gedanken und Gefühle in keiner Weise durch den Kalender oder durch besondere Feierlichkeit geprägt; durch nichts eingeengt, können sie sich frei und eigenmächtig entfalten – und das gehört ja zu den charakteristischen Eigentümlichkeiten Mandelstams. Mag sein, dass gerade aus diesem Grund all seine Aufzeichnungen, niedergeschrieben auf grund frischer Erinnerung an konkrete Begebenheiten, noch heute nicht veraltet sind…

Gework Emin

Armenien und Mandelstam

Zwei Monate lang hielt ich mich in Armenien auf; fast die Hälfte davon verbrachte ich in Eriwan. Doch das Leben in Eriwan bescherte mir keine neuen literarischen Bekanntschaften… Ein wenig versuchte ich mich dadurch zu trösten, dass ich den Schriftsteller Martirosjan beiläufig nach Ossip Mandelstams Aufenthalt in Armenien befragte. Mir waren reizende und rührende Einzelheiten über Mandelstams Leben in Armenien bekannt, ich hatte seinen armenischen Gedichtzyklus gelesen. …
Doch Martirosjan konnte sich Mandelstams nicht entsinnen… Er sagte mir blass, dass er sich dumpf an einen hageren, augenscheinlich sehr armen Mann mit langer Nase erinnere, den er zweimal mit Speise und Wein bewirtet habe; nach dem Umtrunk habe der Langnasige jeweils Gedichte rezitiert – allem Anschein nach war dies Mandelstam.
Naja, dachte ich bei mir – ist doch klar! Mandelstams Gedichte sind herrlich, das ist Poesie an sich, das ist reine Wortmusik. Vielleicht sogar ist sie es allzu sehr – zu sehr nur Poesie, zu sehr nur reine Wortmusik. Manchmal kommt es mir so vor, als habe die Dichtung des 20. Jahrhunderts, wie brillant sie auch immer gewesen sein mag, an jener Herzenskraft und Herzenswärme und auch an jener überwältigenden Menschlichkeit verloren, durch welche die dichterischen Genies des vergangenen Jahrhunderts sich ausgezeichnet haben. Als hätte die Poesie den Bäckerladen aufgegeben, um sich dem Juweliergeschäft zuzuwenden; als wären die grossen Bäcker von den grossen Juwelieren abgelöst worden. Mag sein, dass gerade deshalb die Gedichte manch eines bemerkenswerten zeitgenössischen Autors so schwierig sind; weil sie sich nur kraft dieser Schwierigkeit dem Pariser Urmeter – dem Mass aller Seelen und Dinge – entziehen können.
Aber in den Versen von Mandelstam klingt eine bezaubernde Musik auf, und nicht wenige seiner Gedichte gehören zum Besten, was seit Alexander Bloks Tod in russischer Sprache geschrieben wurde… Und obgleich Mandelstam nicht die ganze grosse Last der russischen Poesie auf seinen Schultern getragen hat, ist er ein wahrhaftiger, ein wunderbarer Dichter. Ein Abgrund trennt ihn von den vielen kurzlebigen Autoren. Und doch hat keiner meiner Bekannten in Eriwan irgendeine Erinnerung an Mandelstams Armenienaufenthalt bewahrt.

Wassilij Grossman

Meine Antwort an Ossip Mandelstam

Die Prosa eines Dichters. Endlich spricht der Dichter einmal unsere Sprache, die Sprache, die wir alle sprechen oder sprechen können. Ein Dichter in Prosa ist ein König, der den Purpur abgelegt hat, der beliebt (oder genötigt ist), unter uns zu erscheinen – als Mensch. Was war denn so königlich an dir? Dieser Purpurfetzen, den du freiwillig oder unfreiwillig fallen gelassen hast? Oder trägst du – an der Schulter vielleicht oder auf dem Herzen – ein geheimes Königsmal?
Grauen und Neugier, Erkenntnisdurst und Erkenntnisfurcht, das ist es, was den Liebenden zur Prosa eines Dichters treibt. Hier stehst du nackt vor mir, entzaubert, ein Orpheus ohne Leier, hier stehe ich als Gleicher vor dir – dein Bruder und Richter. Du warst König, aber ein Schiffbruch oder eine Laune hat dich nackt auf eine kahle Insel verschlagen, wo du nichts hast als deine zwei Hände. Deinen Purpur hat das Meer behalten.
Zwei Fragen: Wirst du imstande sein, auch ohne Purpur ein König zu bleiben (und ohne Verse ein Dichter)?
Wirst du imstande sein, es nicht zu sein – kein König, kein Dichter?
Ist der Dichterrang (das Königliche) etwas Unveräußerliches, ist der Dichter in dir – dein Wesen?
Werde ich mich vor dir verneigen – dem Nackten?
Die Dichtung ist die Sprache der Götter! Diesen Satz hat niemand nachgeplappert, wir haben ihn alle gesagt, jeder – als Erster. Eine Dreijährige, die zum ersten Mal einen leibhaftigen Dichter hört, fragt die Mutter: „Spricht da Gott?“ Das Mädchen versteht nicht, und dabei deklamiert der Dichter nicht einmal. Der Dichter spricht, aber anders, und dieses anders (das wie) lässt das Mädchen verstummen. Das Mädchen hat die Gottheit anerkannt. Von Dershawin bis Majakowskij (kein schlechtes Nebeneinander!) ist die Dichtung die Sprache der Götter. Die Götter sprechen nicht, es sind die Dichter, die für sie sprechen.
Neben all dem (vielen!), was sich an einem Gedicht erfassen lässt, gibt es auch noch das Unerfassbare. Eben darin besteht die Lyrik.
Ossip Mandelstam hat also den Purpur abgeworfen und steht als Mensch vor uns: ohne Purpur ist der Dichter genauso ein Mensch wie ich. Mit den gleichen Voraussetzungen. Besiege mich aus dir selbst heraus.
Ossip Mandelstam. „Das Rauschen der Zeit.“

Zufällig habe ich das Buch beim Kapitel „Der Ornat des Gesetzes“ aufgeschlagen, und mein Blick, von einem Großbuchstaben angezogen, fiel auf die Worte: Oberst Zygalskij. 

Oberst Zygalskij? Ich kenne Oberst Zygalskij. Es taucht kein Bild auf, aber ich kenne ihn. Der erste Blick hat eine erste Klangerinnerung wachgerufen. 

„Oberst Zygalskij hütete seine schwachsinnige, greinende Schwester und einen jämmerlichen, kranken und blinden Adler mit gebrochenen Fängen – den Adler der Freiwilligenarmee. In der einen Ecke seiner Behausung flatterte beim Zischen des Petroleumkochers quasi unsichtbar der Wappenadler herum, in der anderen kauerte, in einen Militärmantel oder ein Flaumtuch gehüllt, die Schwester, die einer verrückten Wahrsagerin glich…“ 

Während ich noch lese und meinen Augen nicht traue, fördert mein Gedächtnis vom tiefsten – tiefer als das Schwarze Meer – Grund das Folgende zutage:
Oberst Zygalskij ist ein Mitglied der Freiwilligenarmee, ein Dichter, befreundet mit Max Woloschin und Mandelstam selbst. 1919 war er auf der Krim, mit seiner kranken Frau und zwei wunderbaren Söhnen. Er war in Not. Er half. Ich bin ihm nie begegnet, aber als mir 1921 nach dem Zusammenbruch der Krim ein Rückkehrer das Gedichtbändchen „Die Arche“ überreichte, blieb ich blätternd bei dem Gedicht eines gewissen Zygalskij hängen, dessen Ende ich bis heute auswendig weiß: 

Die Rus seh ich: verjagt sind die Dämonen,
Gesetz und Recht ihr einziger Ornat,
Ob mit dem Zaren oder frei vom Thron –
Nie mehr regier’ das Schwert in diesem Staat.

Die beiden letzten Verse führte und führe ich an, wenn ich die Idee der Freiwilligenarmee auf eine Formel bringen will. Sie sind auch eine poetische Formel. Ich lese weiter: 

„Das zweite Paar Lackstiefel wartete offensichtlich nicht auf den Sturm des edlen Recken auf Moskau, sondern darauf, dass es zum Markt getragen wurde. Zygalskij war dafür geschaffen, jemanden zu hüten, vor allem über jemandes Schlaf zu wachen. Er und seine Schwester glichen Blinden, doch in den achatschwarz schimmernden, fraulich-gütigen Pupillen des Obersten stand die dunkle Entschlossenheit des Blindenführers, in denen seiner Schwester dagegen nur der erschrockene Ausdruck einer Kuh. Der Schwester gab er Trauben und Reis zu essen, manchmal brachte er aus der Offizierschule bescheidene Verpflegungspäckchen mit, wie ein Klient der KUBU oder des Hauses des Wissenschaftlers. Schwer vorstellbar, was man mit solchen Leuten in einer Armee anfangen soll, ganz gleich welcher?“ 

Das zweite Paar Lackstiefel wartete darauf, dass es zum Markt getragen wurde… Ergo: Zygalskij war arm. Zygalskij pflegte eine kranke Frau und überließ ihr seine letzte Ration. Ergo: Zygalskij war ein guter Mensch. Zygalskijs Essenszuteilungen fanden in bescheidenen Päckchen Platz. Ergo: Zygalskij war integer.
Das sind meine Schlüsse und deine Schlüsse, Leser. Mandelstam dagegen schließt: Was soll man mit solchen Leuten in einer Armee anfangen, ganz gleich welcher?
Weiter: 

„Einmal – er genierte sich für seine Stimme, den Petroleumkocher, seine Schwester, die nicht verkauften Lackstiefel und seinen schlechten Tabak – rezitierte er ein Gedicht.“ 

Warum geniert er sich für seine Stimme? Sie spielt weder vorher noch nachher eine Rolle.
Warum für den Petroleumkocher? Mit dem Petroleumkocher macht er Tee, nicht zuletzt für Mandelstam. Warum für seine Schwester? Wer würde sich für die Krankheit eines anderen Menschen schämen? Warum für die Stiefel? Weil er sie noch nicht verkauft hat? – aber Mandelstam war nicht sein Gläubiger; wegen des Lacks (also des Luxus mitten im Elend)? – aber Mandelstam war kein Leutnant der Heilsarmee, und selbst wenn er einer gewesen wäre, die Absicht zum Verkauf war ja da! Zum Stiefel verkaufen braucht man Zeit, und Zygalskij hat keine Zeit, Zygalskij hat eine kranke Frau und zwei Kinder, um die er sich kümmern muss: um ihre Krankheit, ihren Hunger; Zygalskij trägt die ganze Freiwilligenarmee auf seinen Schultern, hinter ihm liegt schweres Leid, vor ihm vielleicht der Tod. Sie, Ossip Mandelstam, haben nichts vorzuweisen als Ihren eigenen unersättlichen Appetit, der Sie Zygalskijs letzte Krümel vertilgen lässt, und ein neues Gedicht – von acht Zeilen, an dem Sie drei Monate schreiben. Versuchen Sie es doch selbst, verkaufen Sie die Stiefel, aber geben Sie nicht alles Geld für Schokolade aus: es wird gebraucht für eine kranke Frau („mit den Augen einer Kuh“) und hungrige Kinder, die Sie in Ihrer Geschichte leichtfertig unterschlagen. (Zwei kleine Kadetten, zwölf- und dreizehnjährig, die womöglich an Fleckfieber litten, ihre Namen weiß ich nicht.)
Warum sollte er sich für seine Stimme schämen, für seinen Petroleumkocher, seine Schwester, seine nicht verkauften Stiefel und seinen schlechten Tabak – und nicht einfach vor Ihnen, dem großen Dichter Ossip Mandelstam, dem er, der unbekannte Dichter und bescheidene Oberst Zygalskij, seine Verse vortrug?
Ich weiß noch, wie Sie, ein damals schon bekannter Dichter, 1916 nach einer wenig schmeichelhaften Besprechung von Brjussow – geweint haben. Da wird der unbekannte Offizier Zygalskij sich wohl ein wenig genieren dürfen.
Für seinen schlechten Tabak hat er sich aber vielleicht wirklich geschämt. Nicht dafür, dass er ihn selber rauchte, sondern dass er Ihnen, dem großen Dichter Mandelstam, keinen besseren anbieten konnte. Wie Sie ihn verdienten. 

„Darin gab es eine ungeschickte Formulierung wie ,Ob mit dem Zaren oder frei vom Thron…‘ und einen Wunsch in Bezug auf (?) das Russland, das er wollte: eines mit ,Gesetz und Recht als einzigem Ornat‘…“ 

Eine ungeschickte Formulierung. Was ist daran ungeschickt? Ich komme nicht dahinter. Der Thron am Ende der Zeile steht für den Zaren. Oder der Zar am Beginn der Zeile für den Thron. Wie man es auch wendet, der Sinn ist klar: Ob mit oder ohne Zar, ob mit oder ohne Thron.
Bei Ihnen, Ossip Mandelstam, gibt es ungeschicktere Zeilen als diese, zum Beispiel:

Solang sich noch auf fetten Weiden
Lämmer und Ochsen paarten…

Das „sich paarten“ haben Sie auf den vorsichtigen (und bisher nicht öffentlich gemachten) Rat von Freunden durch „grasten“ ersetzt, aber eine andere Ungeschicklichkeit, die Ihre Freunde leider übersehen haben, ist stehengeblieben. Sie betrifft eine Schildkröte. 

Faul liegt sie in der Sonne des Epirus
Und wärmt sich still den goldnen, weichen Bauch.

Eine Schildkröte auf dem Rücken! Eine Schildkröte, die sich umgedreht hat und sich genüsslich den Bauch wärmt? Sie haben nie eine gesehen.
Und in dem wunderbaren Gedicht über Dickens, das in aller Munde ist – wissen Sie noch? 

Ich sehe vor Oliver Twist
Die Kontorbücher aufgetürmt.

Kontorbücher – vor Oliver Twist, der von einer Diebesbande großgezogen wurde! Sie haben das Buch nie gelesen.
All das sind nur Schnitzer, verzeihlich und längst verziehen, ja sogar liebenswert und charmant. Ich würde sie Ihnen niemals zum Vorwurf machen, wenn Sie nicht an den namenlosen Dichter Zygalskij höhere Ansprüche stellten als an sich selbst, den großen Dichter. Zudem sind die Ihren echte Schnitzer: nämlich unsinnig. Das Ungeschick von Zygalskijs Zeilen haben Sie dagegen nicht bewiesen, und ich (ein anderer Dichter) habe es nicht anerkannt. Vorsicht vor pedantischen Urteilen! Wenn man nach Ungereimtheiten und Ungeschicklichkeiten geht, wird von Ihnen wenig übrigbleiben.

„In diesem wüsten Raum (der Dichter spricht von Zygalskijs Seele, MZ) irgendwo zwischen Kursk und Sewastopol schwamm wie ein Rettungsring der Ornat des Gesetzes, und es waren keine Freiwilligen, sondern irgendwelche blinden Fischer in Kähnen, die nach diesem seltsamen Detail der staatlichen Toilette angelten, von dessen Existenz der Oberst selbst vor der Revolution wohl kaum etwas gewusst oder geahnt hatte. Ein Oberst als Kindermädchen, im Ornat des Gesetzes!“ 

Das „seltsame Detail der staatlichen Toilette“ ist eine offensichtliche Geschmacklosigkeit, eine beschämende Geschmacklosigkeit. Wir sind so sehr an „Details der weiblichen Toilette“ gewöhnt, dass wir das Wort staatlich überlesen und – vom Gemeinplatz hypnotisiert – keinen Ornat auf dem Wasser schwimmen sehen, sondern rosa Strumpfbänder und dergleichen Damenschnickschnack mehr. War es das, was Mandelstam wollte? Oder, wenn man bei staatlich bleibt, hat er aus Unwissenheit oder Unbedachtheit „staatlich“ und „imperialistisch“ gleichgesetzt, mit seinem Schlag also auf den Imperialismus gezielt, aber den Staat getroffen?
Die „staatliche Toilette“, würde er diesen Ausdruck auch auf etwas anwenden, was mit dem Kommunismus zu tun hat? Nein. Offensichtlich soll die geschmacklose Wendung die Idee der monarchischen Herrschaft herabsetzen, die er unbedacht mit der des Staates gleichsetzt. Auch wenn Sie ein Kämpfer sind, Ossip Mandelstam – so ficht man nicht! Falls Sie jedoch aufrichtig meinen, ein Ornat sei ein Kleidungsstück: Sie irren sich. Er ist es so wenig wie das Georgskreuz oder der Orden des Roten Sterns. Diese Dinge sind Symbole.
„Ein Oberst als Kindermädchen im Ornat des Gesetzes“, so lautet Ihr Schluss.
Nun denn: Ein Mensch, der eine kranke Frau pflegt, ist also ein Kindermädchen. Wenn derselbe Mensch auch noch Verse über den Ornat des Gesetzes schreibt, ist er ein Kindermädchen im Ornat des Gesetzes.
Eine schwache Schlussfolgerung.
Dies ist die Logik und dies ist das Herz von Ossip Mandelstam. 

Das Ganze ist ein kurzes Geschichtchen von drei Seiten, ich habe es fast vollständig zitiert. Hier noch zwei Stellen:
„Das schmutzige, auf grauem, holzigem Papier gedruckte Blättchen der OSWAG, das immer wie ein Korrekturbogen aussah, weckte eine Stimmung wie ein russischer Herbst im Laden eines kleinen Krämers.“ 

Das Papier, auf dem diese Zeilen gedruckt sind (Ossip Mandelstam: Das Rauschen der Zeit. Verlag „Wremja“, Leningrad 1925), ist grau und schmutzig, aber eine Stimmung von Herbst in einem Kramladen weckt es nicht in mir. Das Papier, auf dem etwas gedruckt ist, weckt überhaupt nichts in mir; was gedruckt ist dagegen, also in diesem Fall: Mandelstams Zeilen über das schlechte Papier der Freiwilligenarmee, weckt in mir unüberwindlichen Abscheu vor dieser Sorte Ästhetizismus. Um ihn herum fließt Blut, aber Mandelstam beschwert sich über Papier. Zum Blut hat er überhaupt ein suspektes Verhältnis; „seit 37 (so schreibt er über Puschkin) klingt das Murmeln des Blutes und der Verse nicht mehr wie zuvor“. Das Murmeln des Blutes. Hat das nicht etwas Makaberes? Als läge da einer und lauschte genüsslich dem unschuldigen-Geplätscher. Als hätte er vergessen, was da murmelt, und freute sich einfach am wie. Das Murmeln der Verse wiederum ist einfach nur platt, und zu geläufig, als dass es unheimlich wirken könnte.
Ein letztes Zitat:

„Die Stadt war älter, besser und reiner als alles, was in ihr vorging. Kein Schmutz blieb an ihr hängen.“

Älter. Im ersten Moment musste ich lächeln. Natürlich war sie älter! Eine Genueser Kolonie – verglichen mit den Freiwilligen des 20. Jahrhunderts! Aber – das Lächeln verschwand – auch hier hat Mandelstam unrecht: der freie, der gute Wille war vor der Stadt da: ohne ihn wäre nie eine Stadt gebaut worden. 

„Gefängnis und Kaserne hielten ihren schönen Körper im Zangengriff, auf den Straßen liefen Zyklopen in schwarzen Burkas herum, nach Hund und Wolf riechende Kosakenleutnants, Gardisten der zerschlagenen Armee, die von der Mütze bis zur Sohle unter Strom standen, einem füchsischen elektrischen Strom von Gesundheit und Jugend. (Mandelstam spaziert gleichsam durch eine Menagerie oder eine Krylow’sche Fabel, er wandert von Käfig zu Käfig: Hund, Wolf, Fuchs – assoziiert aufgrund ihrer Nachbarschaft. MZ) Auf manche Menschen wirkt die Möglichkeit ungestraften Mordens wie ein frisches Mineralwasserbad, und die Krim war für diesen Menschenschlag mit den kindlich frechen, gefährlich leeren braunen Augen nicht mehr als ein Kurort, wo sie sich einer belebenden, die Konstitution stärkenden Behandlung unterzogen.“ 

Mandelstam, en connaissance de cause: die Weißgardisten und die Bolschewiki haben graue Augen, es ist das durchschnittliche Russland, das hier auf die Krim gekommen ist, nicht die einheimische Bevölkerung aus Tataren, Bulgaren, Juden, Karäern, Krimtschaken. Die helläugige – so wird man unsere Armee in hundert Jahren nennen. Aber das ist nur ein Detail. Kein Detail ist Ihre absichtliche Blindheit und Taubheit für die Krim jener Tage. Sie haben die Lieder der Freiwilligen nicht gehört, Sie haben auch die leeren Jackenärmel und die Krücken nicht gesehen. Sie haben die Kontur der Mützen auf den sonnenverbrannten Stirnen nicht gesehen. Diese Kontur ist heilig.
Es ist nicht an mir – zumal vor Ihnen –, die Weiße Armee zu rechtfertigen. Für sie sprechen Wirklichkeit und Legende. Aber es ist an mir – vor der gesamten Gegenwart und Zukunft –, Sie, den großen Dichter, anzuklagen. Von allen Liedern der Freiwilligen (und es hat sie gegeben!) nur dies eine festzuhalten: „Schlagt die Jidden“1 –, zudem ohne das nachfolgende: „rettet Russland“, heißt, diese gesamte Armee mit ihrer Spionageabwehr gleichzusetzen. Ich kenne Ihre Biographie nicht – vielleicht wurden Sie von ihr festgehalten, vielleicht hatten Sie unter ihr zu leiden. Aber Oberst Zygalskij, auch er ein Freiwilliger, hat Ihnen Tee angeboten (seinen letzten) und Ihnen seine Gedichte vorgelesen (vielleicht seine ersten). Es gibt einen Dichter, auch er ein Jude, dem die Freiwilligen auf einem Dampfer die Zähne ausgeschlagen haben. In seinen Vorwürfen gegen die Freiwilligenarmee erwähnt er das an letzter Stelle. Denn er ist nicht blind, und er weiß: Es ist nicht der Gute, Freie Wille, der einem Juden die Zähne ausschlägt, sondern derselbe Böse Wille, der auch den Freiwilligen – immer noch auf der Krim, nur wenig später – die Augen ausgestochen hat. Es ist nicht die Idee, sondern das Fehlen von Ideen. Die Rote Armee ist nicht die Tscheka, und die Freiwilligenbewegung ist nicht ihre eigene Spionageabwehr. Sie, Mandelstam, durften die Rote Armee vorziehen, aber Sie hatten kein Recht, auf die Weiße zu spucken. Helden gibt es überall, und Schufte ebenso. Wenn Sie von unseren Schuften sprechen, dürfen Sie auch von Ihren Schuften nicht schweigen.
Wären Sie ein Mann und kein „…“, Mandelstam, dann hätten Sie damals 1918 nicht von der „Periode der Teilfürstentümer“ und einem neuen Kreml gefaselt, sondern wären mit dem Gewehr in der Hand in den Kampf gezogen. Die Rote Armee hätte ihren Dichter gehabt, Sie – ein reines Gewissen, Ihr Volk – eine Daseinsberechtigung mehr, die Welt – einen Stolz mehr und eine Niedertracht weniger. Denn wären Sie in der Armee (ganz gleich welcher!) gewesen, dann hätten Sie, so behaupte ich, dieses Buch nicht geschrieben.
Dessen Blick ist ein äußerlicher, der Blick eines Malers, eines Ästheten. In Ihren Schilderungen der Krim 1921 stecken genau jene Neunziger Jahre, genau jene Fäulnis aus Pasternaks „Potjomkin“, von der Sie sich so abgrenzen. Ihr Buch ist nature morte, und wenn es ein Zeichen der Zeit ist, dann nicht der unseren. In unserer Zeit (dort wie hier) „murmelt“ Blut nicht wie Verse, und auch die Verse selbst murmeln nicht. Murmelt Pasternak? Murmelt Majakowskij? Murmelten Blok, Gumiljow, Jessenin? Murmeln Sie selbst, Mandelstam?
Dieses Buch stammt vom erbärmlichsten Typus, den die Menschheit zu bieten hat: von einem Ästheten; es ist verrottet bis ins Mark (NB! Mark hat es, aber kein Rückgrat), ist reine Attrappe, ohne Kern, ohne Herz, ohne Blut – nichts als Augen, Geruchssinn, Gehör – und selbst die sind parteiisch, am Jahr 1925 ausgerichtet.
Wären Sie ein lebendiger Mensch, Mandelstam, dann hätten Sie dem lebendigen Oberst Zygalskij wenigstens einen anderen Namen gegeben, statt einen Wehrlosen zu attackieren. – Was, wenn er noch lebt und Sie ihm begegnen? Wie wollen Sie ihm in die Augen schauen? Oder werden Sie wieder – wie damals im Flur, 1918, als ich Ihnen nicht die Hand geben wollte – in hektisches Gezappel und Geplapper verfallen, den Kopf hoch erhoben, aber feuerrot bis zu den Ohren?
Auch ich wüsste einiges über Ihre Petroleumkocher und Ihre Schwestern zu berichten. Es ekelt mich!

Zitate.

Die patriotische Kakophonie der Ouvertüre von 1812. 

Es ergab sich, dass meine frühe Petersburger Kindheit im Zeichen eines veritablen Militarismus stand, doch die Schuld daran liegt nicht bei mir, sondern bei meiner Kinderfrau und den damaligen Petersburger Straßen.

An die Kasaner Kathedrale glaubte ich bezeichnenderweise kein bisschen, trotz des tabakbraunen Dämmerlichts ihrer Gewölbe und ihres durchlöcherten Standartenwalds. […] Das Hufeisen der steinernen Kolonnade und das breite, von Ketten gesäumte Trottoir waren wie geschaffen für einen Aufstand (der Autor spricht von der Wahrnehmung eines sechsjährigen Kindes – MZ). 

Ich war begeistert, als die Laternen anlässlich der Beerdigung des Thronfolgers mit schwarzem Flor verhüllt und mit schwarzen Bändern umwunden wurden. (Aus Anlass von Lenins Tod. MZ) 

„Durchfahrt“ nannte man es damals, wenn der Zar mit seiner Familie durch die Stadt kutschierte. Ich hatte mich darauf spezialisiert, diesen Geschichten auf die Spur zu kommen. (Abgeschmackt. MZ)
Es amüsierte mich, die Polizisten mit Fragen zu quälen, wer und wann unterwegs sein würde, wozu sie grundsätzlich nichts sagen durften. (NB! der revolutionäre Geist. MZ) Offen gestanden hat mich das kurze Aufblitzen der wappengeschmückten Kutsche mit den goldenen Vögeln auf den Lampen oder des englischen Schlittens mit den Trabern im Maulkorb jedes Mal enttäuscht. Trotzdem fand ich das Durchfahrtspiel recht unterhaltsam.

Aber was für eine Beleidigung ist das scheußliche, wenn auch korrekte Russisch des Rabbiners, wie abgeschmackt dieses „Seine Majestät der Kaiser“, wie abgeschmackt alles, was er sagt. (Jüdisches Chaos. MZ)

Haben so nicht auch die Römer griechische Sklaven in Dienst genommen, um beim Abendessen mit einem gelehrten Traktat auf ihrem Täfelchen zu glänzen? (Der kleine Mandelstam hat einen Hauslehrer. MZ)

Mit ihm die Straße entlangzugehen war das reine Vergnügen, er zeigte mir die Polizeispitzel, er hatte nicht die geringste Angst vor ihnen. […] Sein höchstes Glück war es, einen General oder einen Wirklichen Staatsrat durch den Schmutz zu ziehen – Glück hier im Sinn eines mathematischen, quasi abstrakten Grenzwerts. 

Ist Kautsky vielleicht ein Tjuttschew? […] Ja, man stelle sich vor, für ein gewisses Alter und einen gewissen Moment ist Kautsky (den ich hier nur stellvertretend nenne; ebenso gut und mit viel mehr Recht könnte es Marx oder Plechanow sein) dasselbe wie Tjuttschew, das heißt: ein Quell kosmischer Freude, Stifter eines starken, schlüssigen Weltbilds, denkendes Schilfrohr und goldner Schleier überm Abgrund.

… die sichtbare Welt mit ihrer Gerste, ihren Feldwegen, Schlössern und Sonnenspinnweben konnte ich nun bevölkern und sozialisieren, sie nach einem Schema gliedern und an das blaue Himmelszelt eine alles andere als biblische Leiter stellen, über die nicht Jakobs Engel (diese religiöse Loyalität! MZ) auf- und abstiegen, sondern kleine und große Grundbesitzer, die die Stadien der kapitalistischen Wirtschaft durchschritten.
Ja, mein von einer fernen Dreschmaschine im Feld gewecktes Ohr hörte förmlich das Schwellen und Schwerwerden – nicht der Gerste in den Ähren, nicht der Äpfel des Nordens, sondern der Welt, der kapitalistischen Welt, die schwoll, um endlich abzufallen.

… Eine gewisse Natascha, ein so albernes wie liebenswertes Geschöpf. Boris Naumowitsch duldete sie als Hausdummchen. Natascha war nacheinander Sozialdemokratin, Sozialrevolutionärin, orthodoxe Christin, Katholikin, Hellenistin und Theosophin, mit diversen Krisen. Vom häufigen Wechseln der Weltanschauung war sie früh ergraut. (Das ist – in umgekehrter Reihenfolge – Mandelstams eigene Geschichte. Imperialist, Hellenist, Orthodoxer, Sozialrevolutionär, Kommunist. Nur dass Natascha – eine Frau, ein Dummchen – graue Haare darüber bekommt. Mandelstam ergraut nicht! – MZ) 

Verglichen mit der Welt des Erfurter Programms, der Kommunistischen Manifeste und der Debatten um die Bodenreform war das alles widerlich.

Nie habe ich die Tolstojs und Aksakows verstanden, all diese Bagrow-Enkel mit ihrer Schwärmerei für Familienarchive und epische häusliche Erinnerungen. Noch einmal: Mein Gedächtnis ist nicht liebevoll, sondern feindselig, und es arbeitet nicht an der Reproduktion, sondern an der Beseitigung der Vergangenheit. (An ihrer Verfälschung! MZ) 

Diese Scheu, diese Angst, etwas aus fremder Hand entgegenzunehmen, ist typisch für die Revolution, sie wagt nicht, sie fürchtet sich, an die Quellen des Seins zu treten. (73 Seiten lang lobt Mandelstam, statt zu tadeln. MZ) 

Fets wunde, entzündete Lider ließen mich nicht schlafen. Tjuttschew lagerte sich als frühe Sklerose, als Kalkschicht in den Adern ab.

„Für mich, für mich, für mich“, sagt die Revolution. „Jeder für sich, für sich, für sich“ – erwidert die Welt.

Wessen Lebensbeichte ist das? Die eines Revolutionärs von der Wiege an, dessen Revolutionsverlangen endlich gestillt wurde. Ein anderes Fieber hat er scheinbar nie gekannt. Für seinen kindlichen Imperialismus macht er voll und ganz sein Kindermädchen verantwortlich und datiert ihn auf ein Alter, in dem ein Kind auch noch nicht ohne Kindermädchen herumläuft. Kaum ist er etwas größer, sind die Bonnes schon Sklavinnen, ist das Gebet für das Wohlergehen Seiner Majestät des Kaisers schon abgeschmackt… Und so geht es dahin, immer weiter. Warum sollten wir ihm nicht glauben? Weil Mandelstam vor dem „Rauschen der Zeit“ ein Buch namens „Der Stein“ geschrieben hat, weil vor dem Prosaiker Mandelstam der Dichter Mandelstam da war.
Blättern wir in „Der Stein“: „Auf nach Zarskoje Selo“, „Über gelben Regierungsgebäuden“, …, …
Blättern wir in seinem zweiten Buch, „Tristia“: „Im Stimmenwirrwarr eines Mädchenchores“ (über die Entschlafens-Kathedrale), „Wir glaubten nicht ans Auferstehungswunder“ (wieder über Moskau und die Orthodoxie), „O diese Luft, von Wirren trunken“ (wo er die Kremlkathedralen namentlich aufzählt). Wo ist da das Erfurter Programm, wo ist der fallende Apfel der kapitalistischen Welt, wo auch nur ein schwacher Widerhall der heroischen Tenischew-Schulzeit? Wo sind die Knaben? Nirgends. Weil es sie nicht gegeben hat.
Der Dichter Mandelstam fällt dem Prosaiker Mandelstam in den Rücken. Der ganze permanente, komplizierte, wunderbare legitim-illegitime Aufstand: des Dichters (des Geistesfürsten) gegen den Despoten (den Herrn der Körper), des Juden (des Verfolgten) gegen den Zarismus (den Verfolger), des Schülers (Herz!) gegen den Kosaken (Peitsche!), zuletzt des Sohnes (der Zukunft) gegen den Vater (die Vergangenheit) – dieser ganze permanente, komplizierte, wunderbare legitim-illegitime Aufstand der GRÖSSE gegen die MACHT ist frei erfunden.
Mandelstam ist ein Revolutionär nicht von 1917 an – vorwärts, sondern von 1917 aus – zurück. Nicht 1891–1917 (wie er es heute gern hätte), sondern 1917–1891, von rechts nach links. Das ist eine Lüge, es ist das Kommando des Roten Oktobers – auf den Kopf gestellt. Der Oktober kennt: vorwärts!, aber er kennt kein Zurück. Der Oktober kennt: es wird, nicht: es war, da kann Mandelstam sich noch so große Mühe geben mit seinen erfundenen revolutionären Windeln. Die Revolution nimmt die Dinge, wie sie sind. An einem dreijährigen Revolutionär namens Mandelstam hat sie keinen Bedarf. Als die Revolution kommt, ist er 25, und so, als 25-Jährigen, braucht sie ihn auch – wenn sie ihn denn braucht… Es lag bei ihm, neu geboren zu werden: geboren 1917, davor gab es mich nicht. Wenn die Revolution Mandelstam die Augen geöffnet hat, lag es bei ihm, ein für alle Mal zu vergessen und löschen, was vor 1917 war. Es lag bei Mandelstam, sich mit donnernder Stimme vor aller Welt von seinem „orthodoxen“, „imperialistischen“, „sozial-revolutionären“, „hellenistischen“ Selbst loszusagen, ein vollständiges, unüberhörbares Schuldbekenntnis vor der Revolution abzulegen: „Ja, ich habe Kathedralen und Klöster besungen, und Ketzer und Narren in Christo, und die Hofdamen und Ulanen des Zaren, und Rechtsgelehrte in Biberpelzen. Ja, ich habe alles besungen, was ihr – hinweggefegt habt. Heute bin ich ein anderer Mensch. Der Oktober hat mir die Augen geöffnet. Was ich – als Dichter – hätte tun müssen, hat die Revolution mit mir – dem Dichter – getan. Sie hat jenes Wunder an mir vollbracht, das der Dichter an der Welt vollbringt: sie hat mich verwandelt. Ich war blind und taub. Ich habe den nahenden Donner nicht gehört, die Blitze nicht gesehen. Ich war kein Prophet. Ich war nur ein Sänger des Bestehenden. All das bekenne ich und beuge mein schuldiges Haupt vor euch. Vor eurem Willen, vor eurer Macht.“
Macht! Das ist das Zauberwort, der geheime Schlüssel zu Mandelstam.
„Das Rauschen der Zeit“ ist Mandelstams Tribut an die Macht, so wie auch viele Gedichte in „Der Stein“ ein Tribut waren. Würde Mandelstam nicht die Macht, sondern die Größe lieben, wäre er 1.) vor 1917 ein Revolutionär gewesen (wie die Besten der damaligen Jugend) – er war aber keiner; 2.) wäre er, wenn er schon vor 1917 kein Revolutionär war, nicht nach dem kommunistischen Oktober einer geworden – das ist er aber; 3.) hätte er, wenn er schon nach dem kommunistischen Oktober zum Revolutionär geworden war und so zur Unzeit (oder gerade rechtzeitig!) auch diese Größe gewürdigt hatte, nicht seine früheren Vorstellungen von Größe verleugnet. Doch Mandelstam besingt die Macht (gerade die der Gendarmen! Ein Ulan ist nicht dasselbe!), deren sinnlose, äußere Schönheit. Zu einer Transfiguration hat er sich niemals aufgeschwungen. Die Macht der Herrschenden ist zusammengebrochen, es leben ihre Nachfolger! „Ich habe dich geliebt und liebe dich nicht mehr. Ich habe nicht dich geliebt, sondern meinen Traum von dir.“ So spricht jeder, dessen Liebe zu Ende ist.
„Ich habe nicht dich geliebt, sondern deinen Feind.“ So spricht Mandelstam, dessen Liebe zu Ende ist. 

Nicht-Revolutionär vor 1917, Revolutionär ab 1917 – die Geschichte eines Spießbürgers, belanglos und unauffällig. Wofür soll man ihn verurteilen? Dafür, dass Mandelstam nicht den Mut hatte, sein politisches Spießbürgertum vor 1917 einzugestehen, dass er sich nachträglich zum Helden und Propheten gemacht hat, dass er seine Gefühle von einst manipuliert, dass er gespuckt hat auf das, was er früher einmal – auf seine spießbürgerliche Art, aber immerhin – liebte.
Nehmen wir Ehrenburg – wer von uns würde ihm nach dem „Gebet für Russland“ seinen „Julio Jurenito“ vorwerfen? Damals hat er das eine geliebt, jetzt liebt er etwas anderes. Ihn trifft keine Schuld. Jeder von uns hatte seine eigene Tragödie mit der alten Welt. Mandelstam aber ist einfach über sie hinweggegangen. 

Es ist nicht die Zeit, die hier rauscht. Die Zeit rauscht in Majakowskijs wunderbarem frühen Poem „Welt und Krieg“, in Gumiljows „Arbeiter“, in Bloks brennendem Russland. Das Rauschen der Zeit ist immer ein frühes, vorweggenommenes, es tönt nur im weit geöffneten Ohr des Dichters. Marx konnte wissen, der Dichter konnte nur sehen. Der größte Dichter der russischen Revolution war Heine, mit seinem prophetischen:
„Ich sage euch, das Jahr wird kommen, da der Schnee im Norden rot wird.“
Mandelstams Rauschen der Zeit ist die Rückschau, das Rückwärts-Verhören eines Feiglings. Korrekte Fakten, manipulierte Gefühle. Zu diesem Weggefährten ist der Sowjetmacht nicht zu gratulieren. Er wird sie genauso verraten, wie er Kerenskij für Lenin verraten hat, zu seiner Zeit, zu seiner Stunde, nämlich: in der Sekunde ihres Sturzes. 

Ich nehme nicht die Neunziger Jahre in Schutz, sondern das schwache, enge, aber unschuldige Herz Mandelstams, des Knaben und Halbwüchsigen.
Sehen Sie genau hin: ein kleiner Moralist, ein kleiner häuslicher Ankläger, eine Nemesis in kurzen Hosen, das Erfurter Programm unterm einen und Kautsky unterm anderen Arm. Eine großspurige Marionette. Ein Homunculus der Revolution. Das Wesen, das Ossip Mandelstam für sich selbst als Kind ausgibt, hat etwas Hoffmannianisches an sich. Er tötet jede Freude – ein Magister Tinte als Wickelkind.
Aus einem Schüler (Kopf, Herz, Ranzen) mit nichts als Bomben, Volksfreiheit und Leutnant Schmidt im Sinn hätte der Dichter Ossip Mandelstam werden können. Aus diesem kleinen Ungeheuer aber, das aus der Höhe seiner marxistischen Leitern auf den Sklavinnenmarkt (bei der Anstellung eines Kindermädchens) herabblickt und statt des gutmütigen Getrommels von echtem Fallobst auf dem Boden das Anschwellen kapitalistischer Äpfel hört – aus ihm konnte für die Dichtung nichts werden, aber alles für ihren größten Feind – ein fanatischer Politiker. Dieser Politiker ist Mandelstam nicht geworden. Lügen über Lügen. 

In Mandelstams Prosa ist nicht nur die Göttlichkeit des Dichters, sondern auch die Menschlichkeit des Menschen verlorengegangen. Was blieb erhalten? Der scharfe Blick: Die sichtbare Welt sieht Mandelstam sehr genau, und solange er sie nicht ins Unsichtbare übersetzt, greift er nicht daneben.
Für die Liebhaber der Wortmalerei ist Mandelstams Buch vielleicht keine Schatzkammer, aber immerhin eine Vorratskammer. 

Es wäre ehrlos, zu verschweigen, dass der Dichter Mandelstam (anders als der Prosaiker, also der Mensch) sich in den Jahren der Revolution nicht schuldig gemacht hat. Was hat ihn gerettet? Die Göttlichkeit des Wortes. Den liebenden Leser möchte ich auf „Tristia“ verweisen, auf die allmähliche Verwandlung eines schwachen Menschen und nicht der Rede werten Bürgers, der vom Sänger der alten zum Künder einer neuen Welt wird. Ein großer Dichter (der Zauber!) ist er geblieben.
Meine Antwort an Ossip Mandelstam ist eine Frage an alle, an jeden: Wie kann ein großer Dichter ein kleiner Mensch sein? Ich weiß keine Antwort.
Meine Antwort an Ossip Mandelstam ist – diese Frage an ihn. 

Marina Zwetajewa, März 1926, aus Marina Zwetajewa: „Lichtregen“. Essays und Erinnerungen. Suhrkamp Verlag, 2021
Übersetzung: Olga Radetzkaja

Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier

5
Wenn die Frucht vom Baum sich trennt

(Heidelberg 1909–1910/Finnland 1911) 

Juli/August 1908: Reise in die Schweiz. Kurze Flucht nach Italien und spätere Italien-Träume. Erste Gedichte und frühe Reife: eine fallende Frucht, „wissende Trauer“ und „stille Freiheit“. Hindernisse für den jüdischen Studenten: die Dreiprozentquote an Petersburger Hochschulen. 16. Mai 1909: literarische „Taufe“ in Wjatscheslaw Iwanows Turm. Zweite Reise in die Schweiz: Beatenberg und Montreux 1909. Universität Heidelberg, „Mekka der russischen Wissenschaft“. Wintersemester 1909/1910: französisches Mittelalter und venezianische Maler. Die Jugendgedichte des „Heidelberger Zyklus“ und Briefe an Iwanow. „Nicht ein Wort ist zu verlieren“: Verweigerung der Lehre und Rückzug auf die Tierseele. Scheue Liebe, zarte Gedichte. Lugano und Berlin-Zehlendorf 1910: ein letztes Mal Westeuropa. Die Kreuzigungsszene im frühen Gedicht. Christliche Motive bei Mandelstam. Das Leben des Schilfrohrs. Finnland, Mai 1911: die christliche Taufe, ein pragmatischer Akt.

Im Mai 1908 reist der Student nach Petersburg zurück, im Juli und August ist er mit seiner Familie als Tourist zum erstenmal in der Schweiz.2 Das Land beeindruckte ihn nicht besonders. Die hymnische Verehrung der Schweiz mit ihren erschütternden Naturschauspielen war seit den Briefen eines reisenden Russen (1791) des Sentimentalisten Nikolaj Karamsin derart zum Klischee verkommen, daß ein siebzehnjähriger russischer Jugendlicher zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr selbstverständlich in den Chor der jubelnden Touristen einstimmen konnte. Immerhin wird in Mandelstams ironischem Eiscreme-Gedicht von 1914 der Traum zu den „milchigen Alpen“ und ins „Land der Schokolade“ fliegen:3

„Gefrorenes!“ Sonne. Die Luft – ein Biskuit.
Beschlagen das Glas voll von eiskaltem Wasser.
Und hin zu den milchigen Alpenterrassen –
Ins Land der Schokolade: unser Traum, wie er fliegt!
(Der Stein, S. 135) 

Später aber wird Mandelstam bissige Bemerkungen über das „wohlbehaltene“ Land verlieren. In einer Besprechung von Andrej Belyjs Aufzeichnungen eines Sonderlings äußert er sich 1923 sarkastisch über Symbolisten und Anthroposophen, den Tempelbau in Dornach und die von Hoteliers beherrschte satte Schweiz:

Was ist das für eine geschmacklose, alberne Idee, an einem derart unpassenden Ort einen ,Tempel der Weltweisheit‘ zu bauen? Ringsum Portiers, Pensionen und Hotels, die Leute leben auf Schecks und kurieren ihre Gesundheit. Der wohlbehaltenste Ort der Welt. Ein reinliches neutrales Fleckchen Erde, und gleichzeitig in seinem satten, international gestimmten Wohlergehen der unreinste Winkel Europas. (Über den Gesprächspartner, S. 205)

Mandelstam, dessen Leben alles andere als verschont und wohlbehalten blieb, hatte wenig Verständnis für ein Land, das sich in seiner „Reinlichkeit“ und „Neutralität“ gefiel. Schon bei jenem ersten Aufenthalt in der Schweiz im Sommer 1908 kommt es zu einer überstürzten Flucht nach Italien, deren Kürze und Kopflosigkeit er später bereuen wird. Dazu ein Brief an seinen Bruder Alexander („Schura“, „Schurinka“) vom 24. Juli 1908, den er im Zug nach Genua schrieb:

Schurinka!
Ich fahre nach Italien! Das hat sich von selbst ergeben. Ich habe 20 Franken bei mir – aber das macht nichts. Einen Tag in Genua, ein paar Stunden am Meer und dann zurück nach Bern. Mir gefällt diese Eile sogar. Der Zug windet sich durch das enge Rhonetal. Steile Wände – Felsen und Wald sind von Wolken verhangen.
„Sie“ wissen nichts davon – vorläufig natürlich.
Addio!
Ossja
. (Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David, S. 12) 

Der weltmännische Abschiedsgruß auf Italienisch paßt zu diesem kleinen Ausbruch eines Siebzehnjährigen, der einige Flausen im Kopf hat. Die Mama und der jüngere Bruder Jewgenij sitzen derweil ahnungslos in Bern. Einen Tag in Genua verbracht – und so viele Träume von Italien! Viel spekuliert wurde über Mandelstams eventuelle weitere Aufenthalte in Italien, aber es gibt dafür keinerlei Belege. Alle Hinweise auf Italien in seinem Werk sind Fantasmen eines Dichters, dem sehr bald jede Reisemöglichkeit genommen wurde. Die Rom-Gedichte der Jahre 1913/1914 und 1937, das grandiose Venedig-Gedicht von 1920, die mit der Begeisterung für Petrarca, Ariosto und Tasso – und mit dem großen Essay über Dante (1933) – verknüpften Hinweise auf Verona, Ferrara, Florenz und die Toskana: lauter Zeugnisse geistiger Reisen, keine Belege für einen realen Aufenthalt an jenen Orten.4
Was sind die Schweizer Reise und der Abstecher nach Genua gegen das wirkliche Ereignis dieses Jahres 1908: Mandelstams Anfang als Dichter. Zwar sind zwei Schülergedichte aus dem Jahr 1906 bekannt:5 durch die niedergeschossene Revolution von 1905 inspirierte, allegorisch-pathetische Beschwörungen von ungemähten Kornfeldern, weinenden Birken und russischem Martyrium, wie sie im 19. Jahrhundert dem sozialkritischen Dichter Nikolaj Nekrassow gut angestanden hätten. Im letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Sammelband von Mandelstams Gedichten (1928) ist das frühe Jahr 1908 – er war siebzehn Jahre alt – gleich mit vier Gedichten vertreten. Am Anfang steht ein schlichter Vierzeiler:

Der Laut – behutsam, stumm –
Der Frucht, wenn sie vom Baum sich trennt,
Die Melodie der Stille um
Ihn her: der Wälder, ohne End
… (Der Stein, S. 7) 

Eine glänzende Würdigung dieses Beginns unternahm Mandelstams Dichterkollegin Marina Zwetajewa 1933 in ihrem Pariser Exil. In ihrem Essay „Dichter mit Geschichte und Dichter ohne Geschichte“6 ist der Vierzeiler ein Beleg früher Reife, früher Vollendung. Mandelstam ist ein Beispiel für jene Dichter, die „keinen Weg“ haben:

Sie sind von Geburt an da. Ihr Kinderlallen schon ist Summe, nicht Quelle.

Die Reife des jungen Dichters entspreche der Reife der fallenden Frucht. Die Strophe selber sei die fallende Frucht, von der sie spricht. 

Die Frucht, die vom Baum sich trennt, bedeutet einen Augenblick des Loslassens und der Freiheit, den Beginn der Emanzipation von Familie und Abstammung, die Loslösung von der Fremdbestimmung. Sie steht für eine dichterische Stimme, die schnell und unverkennbar sie selber wird. Und noch ein Gedicht des Jahres 1 908 zeigt eine erstaunlich frühe Reife. Es spricht von „Spielzeugwölfen“, die kaum noch kindlich anmuten, von Trauer und von Freiheit. Es stammt von einem, der später als der Dichter des Jahrhunderts der Wölfe berühmt sein wird.

Ein Flittergold, das helle Brennen
Der Weihnachtstannen drin im Wald;
Der Spielzeugwolf mit schrecklich strengen
Augen aus dem Busch da schaut.

O meine Trauer, du Prophetin,
O stille Freiheit, du mein Ball.
Der Himmelsraum, der unbelebte,
Ein immer lachender Kristall!
(Der Stein, S. 9) 

Zur frühen Reife kamen frühe Hindernisse, die sich dem Jugendlichen in den Weg stellten. Der Himmel lachte hämisch. Als Mandelstam im September 1908 nach Petersburg zurückkehrte, um an der Universität zu studieren, erwartete ihn ein Rückschlag. Es war die vom Ministerrat beschlossene, vom Zaren am 16. September 1908 bestätigte Diskriminierung von jüdischen Studienanwärtern. Nur gerade drei Prozent der Studenten an den hauptstädtischen Hochschulen durften Juden sein. Und sie brauchten dafür beste Zeugnisse. Die Dreiprozentquote war ein abschreckendes Hindernis für den mittelmäßigen Schüler Mandelstam. Er wird es 1911 formell mit der Taufe überwinden.
Vorerst entmutigt, besucht der Achtzehnjährige zur Überbrückung der Zeit die Vorträge der Petersburger Religionsphilosophischen Gesellschaft und ab April 1909 die Sitzungen der „Pro-Akademie“ beim Oberhaupt der Petersburger Symbolisten, Wjatscheslaw Iwanow. Dessen Wohnung an der Tawritscheskaja beim Taurischen Garten war ein Tempel der Gelehrsamkeit und der Dichtung, in dem viele Berühmtheiten jener Zeit verkehrten: der Philosoph Nikolaj Berdjajew, die Dichter Alexander Blok, Andrej Belyj, Michail Kusmin, Fjodor Sologub… Es bedeutete eine Ehre, in Iwanows Turm zugelassen zu werden. Dort erfuhr Mandelstam am 16. Mai 1909 seine literarische „Taufe“. Iwanow lobte die von ihm vorgetragenen Gedichte. Doch sein Lob war keine Seltenheit und es war weitgestreut.
Von Ende Juli bis September 1909 ist der verhinderte Student und ermutigte Dichter mit seinen Eltern wiederum in der Schweiz, in Beatenberg und Montreux. Auf Briefpapier des Sanatoriums L’Abri schickt er von dort aus am 13. August 1909 an Iwanow ein Schreiben, in dem er sich ziemlich altklug über dessen Essays äußert, nicht ohne dem arrivierten Autor ein paar Ermahnungen zu spenden. Mandelstam ist ein Grünschnabel, der erst ein Jahr später seine ersten fünf Gedichte in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht sehen wird. Nach frühreifen Auslassungen über Literarisches bricht erneut das Weltmännische durch. Er schildert die „heilige Stille des Sanatoriums“, die nur vom Gong zum Mittagessen unterbrochen wird, und das abendliche Roulette im Kasino. Und weiter:

Ich habe einen seltsamen Geschmack: ich liebe die elektrischen Lichtblitze auf der Oberfläche des Leman, die ehrerbietigen Lakaien, den lautlosen Flug des Lifts, das marmorne Vestibül des Hotels und die Engländerinnen, die Mozart spielen für zwei, drei offizielle Zuhörer in einem halbdunklen Salon.
Ich liebe den bürgerlichen, europäischen Komfort und bin ihm nicht nur physisch, sondern auch sentimental zugetan.
Vielleicht ist meine schwache Gesundheit daran schuld? Doch ich frage mich nie, ob das auch gut sei.
(Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David, S. 14f.) 

Ironie der Literaturgeschichte: Nicht weit von der nachmaligen letzten Bleibe seines aristokratischen jüngeren Zeitgenossen Vladimir Nabokov entfernt, dem „Palace in Montreux, gibt sich der jugendliche Mandelstam also dem „europäischen Komfort“ hin. Wenn man Mandelstams „letzte Bleibe“ bedenkt, könnte der Kontrast nicht größer sein: die Baracke 11 des Zwangsarbeiterlagers „Wtoraja Retschka“ bei Wladiwostok, wo er am 27. Dezember 1938 herzkrank, halbverhungert und von Halluzinationen gepeinigt umkommen wird. Überhaupt sollte Mandelstams ganzer Lebensweg sehr wenig mit dem „bürgerlichen, europäischen Komfort“ gemein haben. Um so kurioser mutet das Bekenntnis des jugendlichen Dandys an.
Da ein Studienplatz an der Petersburger Universität vorläufig unerreichbar war, mußten sich seine Eltern nach einer anderen Möglichkeit umsehen. Bereits im Pariser Brief vom 7. April 1908 an seine Mutter hatte Ossip geschrieben:

Und wenn sie mich nicht nehmen, gehe ich an eine der deutschen Universitäten… und verbinde ein Literaturstudium mit dem Studium der Philosophie. (Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David, S. 9)

Tatsächlich waren die deutschen Universitäten, zumindest jene, die nicht wie Bonn oder Berlin von preußischem Geist beherrscht waren, damals weitaus liberaler als die russischen. Eine diskriminierende Dreiprozentquote für jüdische Studenten gab es hier nicht. In Marburg studierte Boris Pasternak 1912 Philosophie bei dem Neukantianer Hermann Cohen. Ossip Mandelstams Wahl fiel auf Heidelberg.
Die Stadt war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – wie zuvor Göttingen – ein „Mekka der russischen Wissenschaft“.7 Die russische Kolonie war zeitweise so zahlreich daß Heidelberg den Eindruck einer russischen Kleinstadt machte.
Vor allem nach den Unruhen von 1861 kamen viele studentische Flüchtlinge nach Heidelberg, als die zaristischen Behörden die Petersburger Universität zeitweilig geschlossen hielten. Für den im Londoner Exil lebenden Zarenkritiker Alexander Herzen und den Anarchisten Michail Bakunin war Heidelberg ein wichtiger Umschlagplatz für anti-zaristische, revolutionäre Literatur, für Zeitschriften und Flugblätter. In der Heidelberger „Pirogowschen Lesehalle“ konnten die russischen Studenten all jene Literatur lesen, die in Rußland verboten war. Doch Mandelstam war nicht mehr gefährdet, seine revolutionäre Versuchung war Ende September 1909, als er in Heidelberg eintraf, längst überwunden. Als junger Dichter kam er in die Stadt am Neckar.8
Ein Zimmer fand er in der Familienpension Continental der Kapitänswitwe Frau Johnson an der „Anlage 30“. Heute lautet die Adresse: Friedrich-Ebert-Anlage 30 (seit 1993 zeugt dort eine Gedenktafel von Mandelstams Aufenthalt). Die Pension lag am Rand der Altstadt, am Fuß des Gaisberges. Am 1. November 1909 schreibt sich „Joseph Mandelstamm“ in der gleichen Namenslautung wie einst an der Sorbonne für das Wintersemester 1909/1910 an der Philosophischen Fakultät der Heidelberger Universität ein. Das 1907/1908 am Collège de France geweckte Interesse wird in Heidelberg bekräftigt: Mandelstam belegt die Vorlesungen des Romanisten Friedrich Neumann zur „Geschichte der französischen Literatur des Mittelalters“ sowie „Übungen zu altfranzösischen und provenzalischen Texten“. Mandelstams Essay über den spätmittelalterlichen Poeten François Villon, 1913 in der Petersburger Literaturzeitschrift Apollon (Nr. 4) abgedruckt, wurde vermutlich 1910 in Heidelberg entworfen. In der Essaysammlung Über Poesie von 1928 jedenfalls wird er ihn auf 1910 datieren.
Sein Mitstudent Aaron Steinberg erinnert sich, daß Mandelstam auch bei den Heidelberger Philosophen Vorlesungen hörte, bei Wilhelm Windelband über Kant und bei Emil Lask neuere Philosophiegeschichte.9 Bei dem Kunsthistoriker Henry Thode belegte er die Vorlesungen „Grundzüge der Kunstgeschichte“ und „Die großen venezianischen Maler des 16. Jahrhunderts“. Auch hier liegen Keime eines fortdauernden Interesses. Ein ganzes Kapitel der Prosa Die Reise nach Armenien (1931/1933) führt unter dem Titel „Die Franzosen“ eine eigenwillige Beschwörung von Gemälden der Impressionisten und Postimpressionisten vor. Und die Venezianer des 16. Jahrhunderts, Tizian und Tintoretto, haben im Gedicht „Mir fehlt noch etliches zum Patriarchen“ (1931) während einer einsamen Erkundung Moskaus ihren unerwarteten Auftritt:

Ich tret in wunderliche Grotten: die Museen,
Wo Zaubergeister, Rembrandts blähig schimmern
Mit ihrem Glanz von Leder wie aus Cordoba;
Steh staunend vor gehörnten Mitren Tizians
Und staun den bunten Tintoretto an –
Für seine tausend schreierischen Papageien
… (Mitternacht in Moskau, S. 105)

Der Heidelberger Studienaufenthalt bedeutete auch eine ungewöhnlich fruchtbare Schaffensperiode des jungen Mandelstam. Für den „Heidelberger Zyklus“10 werden 15 bis 23 Gedichte angenommen. Die meisten legte er, energisch um Aufmerksamkeit bittend, seinen Schreiben an die symbolistischen Dichter Maximilian Woloschin und Wjatscheslaw Iwanow bei (Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David, S. 16–19).
Letzterer ist Adressat von mehreren schon sehr selbstbewußten Briefen Mandelstams. Am 30. Dezember 1909 spricht der junge Dichter von seinem Wunsch, es mit dem beigelegten Gedicht Paul Verlaines Romanzen ohne Worte nachzutun und das Intim-Lyrische, Persönliche „mit dem Zügel des Rhythmus bändigen“ (Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David, S. 19). Den Willen zur Bändigung des Ichs zeigt schon der frühe Mandelstam. Und in Heidelberg bestätigt sich noch einmal der Favorit der Pariser Zeit: Verlaine. Die in Heidelberg geschriebenen Jugendgedichte wird Mandelstam später nicht in seine Gedichtbücher aufnehmen. Einzige Ausnahme ist ein im Dezember 1909 entstandenes Gedicht, das ihm so wichtig schien, daß er es in die erweiterten Ausgaben seines Bandes Der Stein von 1916 und 1923 sowie in seine letzte Sammlung Gedichte von 1928 aufnahm:

Nicht ein Wort ist zu verlieren,
Nichts zu lehren weit und breit –
Schön die Seele, Trauer spürend
Tier ist sie und Dunkelheit:

Keine Lehre will sie ziehn,
Nicht ein Wort, das sie behält –
Jung durchschwimmt sie, ein Delphin
Weiße Schluchten alter Welt.
(Der Stein, S. 27) 

Das kurze Gedicht nimmt Postulate der zwei Jahre später gegründeten Dichtergruppe des Akmeismus voraus: die Verweigerung der „Lehre “ und den Rückzug auf die ungebändigte, dunkle „Tierseele“.11 Entschiedene Äußerungen eines Dichters, doch zweifelhafte Zeugnisse für einen Studenten, der eigentlich nach „Lehre“ und „Wissenschaft“ streben sollte. In einer ersten Version fand sich dazu noch das aufschlußreiche Bekenntnis:

Ich bin im Herzen noch ziemlich wild.
Langweilig ist mir unsere verständliche Sprache.

Wenn das keine Losung für einen beginnenden Dichter ist… Sie zeigt bereits die Entscheidung für eine andere, vermeintlich „dunkle“ Sprache der Lyrik.
Auch eine scheue Liebe bewegte den Studenten Mandelstam in Heidelberg. Spuren einer ersten Liebeserfahrung – und Liebesenttäuschung – sind in mehreren dieser Jugendgedichte auszumachen.12 Die Brunnenfigur eines traurigen Amor wird beschworen, ein abwesend bleibendes weibliches „Du“ in einem Café vergeblich erwartet. Die als „Eremitin“ bezeichnete Adressatin muß für immer unbekannt bleiben.

Der Ort wird leer. Der Abend dauert
Gequält, weil du nicht da bist jetzt.
Statt daß er deinen Mund benetzt
Dampft auf dem Tisch ein Trank und lauert.

Du kommst mit wahrsagenden Schritten
Der Eremitin nicht mehr her;
Und auf das Glas legst du nicht mehr
Ein Muster mit schläfrigen Lippen.

Die Gedichte drücken vielleicht nur eine jugendliche Sehnsucht nach Liebe aus, noch keine wirkliche Erfahrung. Auffällig ist immerhin das wiederkehrende Wort „Zartheit/Zärtlichkeit“ und das Adjektiv „zärtlich“: „Deine fröhliche Zärtlichkeit“, „Was soll die Musik meiner zärtlichen / Lobpreisungen“ (beides Gedichte von 1909). Dieses Wort wird in Mandelstams späterer Lyrik eine besondere Aura haben. In der „Zartheit“ als einem Gegenpol zur irdischen Schwere auf der Krim der Bürgerkriegszeit, in einem Gedicht von März 1920:

Schwestern: Schwere und Zartheit. (Tristia, S. 75)

Oder in den „Lethe-Gedichten“ (Tristia, S. 87/89) von Oktober/November 1920, in denen ein Abstieg in die Unterwelt und „stygische Zärtlichkeit“ beschworen werden. Zärtlichkeit und Tod bleiben bei Mandelstam ein seltsam eng verbundenes Paar.
Ende Februar 1910 ist das Wintersemester in Heidelberg zu Ende. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht wird Mandelstam nicht zum Sommersemester erscheinen. Vielleicht geschah es aus Geldmangel, vielleicht aus schlichtem Mangel an Ausdauer. Mandelstam war alles andere als ein fleißiger Student. Anfang März unternimmt er wieder einen Versuch, nach Italien zu gelangen, doch ob er über die Südschweiz hinauskam, bleibt rätselhaft. Der einzige Beleg für die Reise ist ein mit „Lugano 1910“13 datiertes Gedicht, eines der frühen religiösen Gedichte Mandelstams. Es beschwört den Gang in eine Kirche und das faszinierte Betrachten von Heiligenbildern. Und es bedeutet eine schmerzliche, mit Schuldgefühlen belastete Zwischenposition des jugendlichen, ein Angezogenwerden vom Christentum und die Unmöglichkeit, sich vom Judentum zu lösen:

Der bösen Schlange gleich im Dunkeln
Kriech ich zum Fuß des Kreuzes her…

Und trinke Zartheit, mönchisch-offen
In diesen Zügen klar gebannt,
Wie die Zypresse ohne Hoffnung
In unerbittliche Höhen langt.

Ich liebe die gebogenen Brauen
Der Heiligengesichter – schwarz,
Von Gold und Blut die Flecken auf den
Körpern der Statuen aus Wachs.

Nach seiner Rückkehr nach Petersburg hält sich Mandelstam bis Juli 1910 im nahen Finnland auf, nach dem er in Paris so starkes Heimweh verspürt hatte, in Talbacka bei Helsinki und in Hangö (finnisch Hanko). Dort lernte er den zehn Jahre älteren Sergej Kablukow kennen, den Sekretär der Petersburger Religionsphilosophischen Gesellschaft. In dessen Tagebuch14 sind bis 1917 viele Einträge den Begegnungen mit Mandelstam gewidmet. Kablukow beschäftigt sich mit religiösen Fragen und geistlicher Musik. Der junge Poet erscheint ihm „liederlich“ und „leichtsinnig“, doch zeigt er sich von dessen „Sensibilität“ und „Feinheit des Erlebens“ beeindruckt. Schon im ersten Eintrag erfährt man, daß sich Mandelstam seiner jugendlichen revolutionären Begeisterung von 1906/1907 jetzt schämt.
Am 24. Juli 1910 fuhr Mandelstam nach Berlin-Zehlendorf, wo seine Mutter operiert wurde. Er bleibt bis Mitte Oktober dort. Es wird seine letzte Reise nach Westeuropa sein. Alle weiteren Reisen werden sich innerhalb des Zarenreiches oder des Sowjetimperiums abspielen – oder im Kopf, als geistige Reisen. Auch in Berlin ist er umgetrieben von religiösen Fragen, von seinem Ringen um eine persönliche religiöse Empfindung. In Lugano hatten ihn die Heiligenbilder fasziniert und verstört, jetzt ist es die Kreuzigung Christi in dem Gedicht „Unerbittliche Worte“.15 Christus am Kreuz wird mit einer Wasserlilie verglichen:

Wie ein Blütenkelch hing der Kopf
an einem dünnen und fremden Stengel.

Von einem „versteinerten Judäa“ ist die Rede, von einem „triumphierenden Gesetz“. Das mosaische Gesetz wird als tiefer, undurchdringlicher Tümpel und trüber Urgrund bezeichnet.
Ihm gegenüber – der hochaufragende Christus am Kreuz. Die Wurzeln der christlichen Pflanze aber stehen im nährenden Wasser des Judentums.
Mandelstams frühe Gedichte sind keine Glaubensbekenntnisse.
16 Sie zeigen nur ein Fortdauern jenes schmerzhaften Ringens um eine religiöse Empfindung, von der schon der Brief aus Paris vom 14. April 1908 an Wladimir Gippius berichtete (Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David, S. 9–11). Man sollte nicht aufgrund dieser Gedichte auf eine geistige Konversion zum Christentum schließen. Ein anderes Gedicht von November 1910 spricht von Gefahr und Schrecken des Religiösen:

Schrecklich ist für mich unter Wasser der Stein des Glaubens,
Sein fatales unaufhörliches Kreisen.

Die späteren Gedichte werden zahlreiche christliche Motive aufweisen, religiöse Monumente, sakrale Räume, die Eucharistie ebenso wie eine orthodoxe Totenfeier beschwören, nach Rom wie nach Byzanz ausschweifen, kurz: die „kalte Bergluft des Christentums“ trinken (Tristia, S. 73). Doch Mandelstam wird immer ein Dichter sein, kein Prediger. Sein Werk ist der Versuch, sämtliche abendländisch-europäischen Kult- und Kultur-Elemente in sich zu vereinen und zu einer poetischen Synthese zu führen. Sein Bekenntnis ist die Poesie. Einer Vereinnahmung durch irgendeinen Glauben verweigert es sich vehement.
In einem anderen Gedicht ist nicht der gekreuzigte Christus die Wasserpflanze, sondern das Ich vergleicht sich mit einem Schilfrohr. Das „denkende Schilfrohr“17 war ein Bild des französischen Philosophen Blaise Pascal (1623–1662) für Elend und Größe des Menschen, für seine Zerbrechlichkeit und seine durch die Möglichkeiten des Denkens bedingte Würde. Der Anfang von Mandelstams Gedicht beschwört wiederum eine „morastige Tiefe“, das Reich des Schlamms, den Ursprungsort, den trüben Ort der Geburt. Es ist jenes „judäische Chaos“ seiner Familie, das er in der autobiographischen Prosa schildern wird. Der Schluß des Gedichtes aber führt ein überraschend eigenständiges Leben des Schilfrohrs vor:18

Aus zäher, morastiger Tiefe
Wuchs ich, als ein Schilfrohr, herauf:
Das heftige, zärtliche, wilde
Verbotene Leben – mein Hauch.
(…)
Und glücklich bei grausamster Kränkung,
Im Leben, das traumhaft geschieht,
Beneide ich still einen jeden,
In jedermann heimlich verliebt
. (Der Stein, S. 39) 

Es ist ein Gedicht, das von Zähigkeit, Morast und Kränkung spricht und dennoch die Möglichkeit des Glücks und der Liebe beschwört. Schon der junge Mandelstam versteht sich auf das poetische Paradox. Und gibt in einem anderen Gedicht, sich statt des Schilfrohrs mit einem Strohhalm vergleichend, sich selber Ratschläge mit auf den Lebensweg: 

Am Bett steh mit gespielter Zärtlichkeit
Und wieg dich selber hin durchs Leben,
Als wärs erfunden: leid am eignen Leid,
Tret stolzer Unlust – sanft entgegen
. (Der Stein, S. 41) 

Von März bis zum Herbst 1911 lebte Mandelstam vorwiegend in finnischen Sanatorien und Pensionen, in Hyvinkää, Konkkala und Mustamäki. Über Gedichten brütend, auf die Möglichkeit zu einem Studium wartend. Einige Fahrten nach Petersburg – meist zu Konzerten – unterbrechen die Zeit in Finnland. Mandelstam schwärmte für Alexander Skrjabin, dessen sinfonisches „Feuer-Poem“ Prometheus mit dem berühmten Farbenklavier am 9. März 1911 uraufgeführt wurde und Furore machte.
In diesem Jahr erkrankte Mandelstam an einer schweren Typhus-Infektion. Die Fahrt in der Ambulanzkutsche ins Krankenhaus, samt Fieberträumen, Kälte und Schlafwunsch, wird ihm im Gedächtnis bleiben. Ein Gedicht von 1911 beschwört diese Fahrt, ein kühles Auge-in-Auge mit dem Schicksalsstern, das Wissen, von Fremden gefahren zu werden (wie im Kutschen-Traum von „Himbeerstadt“ in der Ägyptischen Briefmarke!) und dennoch ein wundersames Aufgehobensein in einer „fremden Hand“. Vielleicht meinte Durs Grünbein diese Verfassung des Ichs, als er festhielt, Mandelstam habe „das Urvertrauen in die Moderne geschmuggelt“.19

Wie langsam nun der Schritt der Pferde,
Wie wenig Licht, Laternenschein!
Mich fahren Fremde – und sie werden
Das Ziel wohl wissen, sie allein.

In ihre Sorge mich ergebend –
Ich möchte schlafen, mir ist kalt;
Es wirft mich hoch, mich wirfts entgegen
Dem einzigen, dem Sternenstrahl.

Der Kopf, er brennt, er schaukelt lange,
Und sanft das Eis der fremden Hand,
Der dunkle Umriß dort, die Tannen,
Noch nie gesehen, unbekannt
… (Der Stein, S. 47) 

In Finnland hielt er sich zeitweilig in der Pension Linde bei Mustamäki auf, wo russische Revolutionäre verkehrten und wo die Polizei im August 1911 eine Razzia durchführte, bei der es zu Verhaftungen kam. Mit dem zehn Jahre älteren Fjodor Linde, einem Mathematiker und Revolutionär, war Mandelstam gut bekannt. Zum Zeitpunkt der Razzia war Mandelstam anderswo, aber noch im Jahr darauf, von Juni bis Dezember 1912, wird er bei seinen Finnland-Aufenthalten wegen Verdachts auf regimefeindliche Agitation von der Polizei observiert.20
Im Frühjahr 1911 hatte Mandelstam andere Sorgen. Er hielt nach einer Kirche Umschau, die ihn taufen könnte. Im Herbst 1911 wollte er endlich sein Studium an der Petersburger Universität beginnen und mit diesem formellen Akt das Hindernis der Dreiprozentquote für Juden überwinden. Am 14. Mai 1911 läßt er sich im finnischen Viborg bei einem Pastor Rosen christlich taufen, nach methodistisch-episkopalem Ritus.21 Seine Mutter war über diesen Schritt nicht allzusehr betrübt, für seinen Vater hingegen war es eine „ernstliche Prüfung“ (so der jüngere Mandelstam-Bruder Jewgenij).
Warum ließ sich Mandelstam nicht gleich zur russischen Orthodoxie bekehren, warum wählte er den Weg zu Außenseitern, den finnischen Methodisten, die im intoleranten Zarenreich keinerlei Gewicht hatten? Vermutlich um den rein praktischen Zweck dieses Aktes zu unterstreichen. In diesem Sinne war es auch ein Akt der Freiheit und keine Kapitulation vor den gestrengen Behörden. Mandelstams eigentliche spirituelle Vertiefung in ein christliches Universum sollte – in Essays und Gedichten – erst noch folgen. Jetzt war ein simpler formeller Akt gefordert. Die „stille Freiheit“, die das frühe Gedicht von 1908 beschwört, wird Mandelstam nicht leichtfertig aufgeben. Die Frucht war tatsächlich reif, sich von ihrem Stamm zu lösen, von der Familie, von der Stimme des Blutes, von seinen literarischen Vätern. Aber auch die Mandel fällt nicht weit vom Stamm.

Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier. Eine Biographie, Ammann Verlag, 2003

Als Mandelstam Stalins Lieblingsdichter ohrfeigte

– Ossip Mandelstam war mutig. Er schrieb ein Spottgedicht auf Stalin – und er ohrfeigte Alexej Tolstoi. Trotzdem geschah ihm lange nichts. Das hatte mit einem Lenin-Vertrauten zu tun. Als der starb, schlug seine Stunde. –

Zwei korrespondierende Eröffnungssätze der Weltliteratur – der eine fiktiv, der andere erinnerte Realität: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ – „Nachdem er  Alexej Tolstoi  geohrfeigt hatte, kehrte O. M. eilends nach Moskau zurück.“ Die Szene, mit der Nadeschda Mandelstams Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe beginnen, ereignete sich vor 90 Jahren; der Beginn von Franz Kafkas Proceß wurde immer wieder als Präludium zur Kollektiverfahrung in totalitären Staaten à la Hitler oder Stalin verstanden.
Auch wenn er vor der Oktoberrevolution zur lyrischen Avantgarde Russlands gehörte, nämlich zur Bewegung des sogenannten Akmeismus, so war  Action  dem Dichter Mandelstam kaum in die Wiege gelegt, dafür ein umso größerer Gerechtigkeitssinn. Wäre der  Terror, dem die Menschen unter Stalin ausgesetzt waren, nicht so fatal gewesen, hätte man den Dichter als Wiedergänger Don Quichottes belächelt, der mit Versen die Inkarnation der Macht bekämpfen will.
Als Mandelstam dem Lieblingsautor Stalins die Ohrfeige wegen Demütigung seiner Frau verpasste, kursierte unter Freunden des auf zehn Quadratmeter hausenden Poeten mit abgeschnittenen Einkünften bereits sein Tyrannenspott:

Und wir leben, doch die Füße, sie spüren keinen Grund,
Auf zehn Schritte nicht mehr hörbar, was er spricht, unser Mund,
Nur zu hören vom Bergmenschen im Kreml, dem Knechter,
Vom Verderber der Seelen und Bauernabschlächter.
Seine Finger wie Maden so fett und so grau,
Seine Worte wie Zentnergewichte genau.
Lacht sein Schnauzbart dann – wie Küchenschaben,
Und sein Stiefelschaft glänzt hocherhaben.
Um ihn her – seine Führer, die schmalhalsige Brut,
Mit den Diensten von Halbmenschen spielt er, mit Blut.
Einer pfeift, der miaut, jener jammert,
Doch nur er gibt den Ton an – mit dem Hammer.
Und er schmiedet, der Hufschmied, Befehl um Befehl –
In den Leib, in die Stirn, dem ins Auge fidel.
Jede Hinrichtung schmeckt ihm – wie Beeren,
Diesem Breitbrust-Osseten zu Ehren.

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des Willkürstaats wie zu den Glücksfällen der Literatur, dass Mandelstam nach seiner Tätlichkeit gegen Stalins Günstling und dem durchgestochenen Schmähgedicht zunächst – nichts geschah. Zwar durfte er sich Moskau nicht mehr nähern, doch für drei Jahre bescherte ihm die Sympathie des Lenin-Vertrauten  Nikolai Bucharin  eine Schonfrist im Schwarzerdegebiet Woronesch unweit der Ukraine – Mandelstam wurde 1891 in eine jüdische Familie in Kiew geboren und empfand sich neben der Identifikation mit Dante als Wahlverwandten Taras Schewtschenkos, der wie Mandelstam sein Dichterleben zwischen Exil und Verbannung hatte fristen müssen.
Als Bucharin 1938 mit einem Schauprozess hingerichtet wird, gibt es niemanden mehr, der die Hand über Mandelstam hält; eine halbherzige Stalin-Ode, die er Tolstoi zur Entschuldigung schickt, ändert nichts an seinem Schicksal – dem Tod im sibirischen Durchgangslager um Weihnachten 1938.
Noch immer wird gerätselt über den Inhalt eines ominösen Anrufs Stalins bei Boris Pasternak; Fakt ist, das Pasternak neben Viktor Schklowski zu den wenigen gehörte, die Ossip und Nadeschda bis zuletzt stützten. Die von Nadeschda geretteten späten Gedichte Mandelstams sind ein ebensolches Wunder wie die von Bruce Chatwin gepriesenen Capriccios seiner „Reise nach Armenien“  von 1930. Aufrecht blickt er bei der NKWD-Vernehmung ins Objektiv – heute haben wir die letzten Fotos Alexej Nawalnys zum Vergleich.

Jan Röhnert, Welt, 11.11.2024

 

 

MANDELSTAM

Am Leben –
wem verdanke ich diese Ehre?

Meine Seele zögert. Mit Dante
durch die Sowjetnacht.

Ich streune durch die Ruinen
von Hellas.

Ich komm hier nicht raus.
Nadeshda, weg
mit den Gedichten, schnell!

Caesar, wie hast du es geschafft,
unsere Lebendigkeit
zu vernichten?

Am Lagertor
verließ mich alle Hoffnung.

Der Einzige, der Russisch spricht,
konnte es nicht vergessen.
Ein Gott vergibt,
ein Halbgott nicht.

Die Schreie
verlieren sich in den Weiten meines Landes.

Rafael Cadenas
Übersetzung: Geraldine Gutiérrez-Wienken und Marcus Roloff

 

Frank Diamand: Die Jahrhunderte umgeben mich mit Feuer. Osip Mandelstam, 1976.

 

Joseph Brodsky spricht über Mandelstam.

 

 

Zum 70. Todestag des Autors:

Olga Martynova: Eine Streichholzflamme im Wind
Frankfurter Rundschau, 29.1.2019

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram 1 & 2KLfG +
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Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Paul Celan liest Ossip Mandelstam: „Diese Nacht, nicht gutzumachen“.

 

1. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2005 an Felix Philipp Ingold.

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Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
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