… II
Im selben Jahr, als Boris Pasternak seine poetologischen „Grundsätze“ aufschrieb, verfaßte der Dichter und Kritiker Ossip Mandelstam einen ebenso grundsätzlich gedachten, freilich viel klarer ausformulierten Aufsatz über „Staat und Rhythmus“, den er 1920 in Charkow erscheinen ließ. Mandelstam, der nach der bolschewistischen Machtergreifung vorübergehend beim Volkskommissariat für das Bildungswesen tätig war, entwarf in dem verhältnismäßig knappen Text, ausgehend von der Rhythmiklehre des Schweizer Pädagogen Jacques Dalcroze, so etwas wie eine rhythmologische Ethik und plädierte für eine enge Verbindung von Körperkultur und gesellschaftlicher Solidarität:
Unsere Gesellschaft wird zusammengehalten durch Solidarität und Rhythmus. Solidarität heißt – Übereinstimmung im Ziel. Notwendig ist aber auch Übereinstimmung im Handeln. Übereinstimmung im Handeln ist an sich schon Rhythmus … Solidarität und Rhythmizität sind Quantität und Qualität der gesellschaftlichen Energie.
Im weitern unterstreicht Mandelstam die synthetische, die synthetisierende Funktion rhythmischer Strukturbildungen und fordert dazu auf, „Geist und Körper“, „Arbeit und Spiel“ in ausgewogener Wechselbeziehung auf ihren gemeinsamen Rhythmus zurückzuführen. Wenn die vom Rhythmus mitgeführte „Kraft dereinst gefunden“ sei, werde sie sich, schreibt Mandelstam, „von selbst weiterentwickeln“. Zu unterstreichen ist hier der Hinweis auf die Selbsttätigkeit, die Eigendynamik rhythmischer Verläufe, ein Hinweis, der in die selbe Richtung weist wie Pasternaks Vergleich des Rhythmus mit dem Automatismus des Balzens, der den Akt der Zeugung unmittelbar vorbereitet und somit den Fortbestand der Vogelwelt sichert. So verstanden sichert der „ewige“ Rhythmus, von dem jeder Dichter wie übrigens wohl jeder Mensch – durchwirkt ist, den Fortbestand der Poesie, indem er den Schreibakt in stets gleicher Weise auf immer wieder neue Gedichte hin einspurt. Ossip Mandelstam hat diese Grundannahme so weit ins Extrem getrieben, daß er selbst – als Autor – sich vom Schreiben, von der Schrift emanzipierte, sich aus der Literatur ausschloß, um nur noch – als Resonator seines inneren rhythmischen Erlebens sowie der Rhythmen seiner Epoche – der Sprache dienstbar zu sein. Das Gedicht kann nicht erfunden, nicht „geschaffen“ werden; es erwächst, vom Dichter hervorgerufen und in Worte gefaßt, aus einem tieferen, lebendigen Grund…
Felix Philipp Ingold, aus: Rhythmische Präfiguration
Nebenschnittlinien. Jener teilt mit diesen den Eigenschaft, wodurch er den flieht, der ihm folgt, und dem folgt, der ihm flieht. Die unter dem Aspekt Rhythmus versammelten Beiträge sind als Wiener Vorlesungen zur Literatur im Sommersemester 1996 sowie im Wintersemester 1996/97 in der Alten Schmiede in Wien gehalten worden. Besonderer Dank gilt der einräumenden, genuinen Gastlichkeit, mit welcher Kurt Neumann beständig der Sprache Raum fürs Gespräch offen hält, und jener diskreten Stetigkeit, mit welcher sich die Alte Schmiede darauf versteht, sorgsam und bedacht der Literatur, ohne Ort und Jahr, Quartier zu schaffen.
Der Prokurist, Begleittext, 1998
Als Ereignis an immerhin [immer] anderen Orten, im Kontext von, sagen wir, bestimmten Organisationsformen für Öffentlichkeit. Im Konnex mit anderen [Publikationen]. Die Zweitschrift einer Zeitschrift, Nummer Null und Nummer Eins Null. Plötzlich vielleicht und unerwartet tritt Der Prokurist in den Zusammenhang einer Auseinandersetzung, die es ohne [Konjekturen] vielleicht gar nicht gegeben hätte. Der Prokurist aber (Turist im Korpus? Ruki im Orkus? – Pastiors Übertragungsdoppelpunkt der Metapher ins Syntagma) ist immer schon weiter, voraus[sichtlich] nur um weniges, Wort für Wort [vorläufig] ohne Ort [und Jahr]. Der Verteter einer unbegrenzten [unermess-lichen] Vollmacht, seine Freiheitsgrade selbst[vergessen] zu bestimmen oder [auch] zu ver-lieren. Der Prokurist ist kein Sitz für Stimmen einer Sprache [Organ für Literatur], aber jeweils deren Versprechen [Leertasten] um einen attraktiven Punkt. Eine Erscheinungsform mit Mobilität zwischen den Medien: vorübergehend taucht von Mal zu Mal ein Prokurist auf und verschwindet wieder; gleichzeitig aber – und das ist immerhin paradox – wird er immer als derselbe und selbander bändig identifiziert. Ein Name, der nichts benennt als seinen Ruf. Der Prokurist ist als [chaing of?] Beam [Korruptele] ein Hasardeur, der wie alle Parasiten, Schulterhocker, Aufsitzer, tapferen Schneider, Zaunkönige und Zwerge auf Schultern von Riesen die Welt, die er lebt [doch ja, ein bißchen gewiß], schlecht verwaltet, privilegiert [und] bleibt, und jeden Händedruck [lectio difficilior:] Hand in Hand umdreht. [1988/1992]
Edition per procura, Ankündigung
Verein für Organisation und Austausch von Kunst und Kultur ist im Jahre 1989 in Wien gegründet worden. Ein Stammtisch von Schriftstellern, Künstlern und Kulturwissenschaftlern konnte kraft Organisation und Koordination von Literatur, Wissenschaft und Kunst im engeren kulturellen Wechsel mit Lana (der Verein ist aus der Tätigkeit und einigen Vorstandsmitgliedern des Vereins der Bücherwürmer Lana hervorgegangen) – aber auch mit weitem Europa überhaupt – eine eigene Informationsstruktur samt Redaktionskonzept aufbauen, gruppieren und weitertragen. Von Lana aus gesehen machte die real existierende und wachsende Vernetzung mit anderen Veranstaltungsorten und Ideenbereichen ein eigenlebiges Büro in Wien notwendig und ermöglichte im gleichen Zuge („transalpin“) die Zeitschrift Der Prokurist mit doppelter Buchführung („Und Tuchfühlung?“). Ein Scharniergelenk dieser Zwillingsbindung war 1989 die Rückführung des Kravoglschen Kraftrades aus dem Technischen Museum Wien ins Geburtshaus des Erfinders nach Lana.
Seit April 1990 hat sich der Verein in zuzüglich strukturierten Räumlichkeiten eingemietet, um von dort aus seine kulturelle Tätigkeit („ungleich“) intensiver aufzunehmen. Die Veranstaltungen der Secession Lana erbieten damit ihr entsprechendes, gleichsam größeren Aktionsradius ermöglichendes, betriebliches Pendant. Die kontinuierliche, propädeutische Vor- und unterstützend redaktionelle Nachbereitung in der Session Wien stillen gleichsam mehrere Verlangen nach erbittlich geltender, ebenso ersichtlich wie repräsentativ einräumender Vermittlungsstruktur, stellvertretend zwischen Wien und Südtirol („wer so will“). Beide zentrieren Sammel- und Verteilungsträger – Archiv und Vertrieb, springender Doppelpunkt – von aktuellen literarischen und offenbaren Beziehungslinien. Damit sind im Modell endlich jene Voraussetzungen zur Organisation von Selbstorganisation gekoppelt, aus denen heraus die procura selbstgewiß hervorragt und – déjà-vu anscheinend – punktet: Es entstand nachgerade das gemeinsame, in Wien und Lana erscheinende Publikationsprojekt edition per procura (Abteilung B) und die alljährlich stattfindenden Kulturtage Lana werden ebenfalls von hier aus konzipiert und bereitet. Von nun an können Lesungen, Veranstaltungsreihen, Symposien und Ausstellungen in Lana sowie Exkursionen und eigene oder nachbarschaftlich berührende Publikationen in einem konzeptionell weiterreichend eingebundenen Zusammenhang koordiniert und operativ, geographisch übergreifend, gewertet werden.
Die dazu erforderlichen Vorarbeiten sind inzwischen soweit abgeschlossen, um die Räumlichkeiten einer literarischen Öffentlichkeit zugänglich und keinen Staat zu machen. Die Session Wien jener ideellen Akademie umfaßt in Ergänzung („ein Herz und eine Seele“) zur erprobten Einrichtung ihres Voraussetzungssystems in Lana: erstens ein funktionales Büro mit entsprechender Geschäftsführung, das die erforderliche redaktionelle Mitarbeit in bezug auf jedwede Produktion in Lana erleichtert; zum andern einen Veranstaltungsraum mit kleinem Schanktisch, wo Werkstattgespräche und Sessionen mit („Sitz im Leben“) Lesungen, Vorträgen und Ausstellungen organisiert bzw. ermöglicht werden sollen; darüber hinaus eine Sammelstelle des Europäischen Archivs für Poesie, welches in Lana in Aufbau ist sowie eine Einlauf- und Vertriebsstelle von Informationen, Ideen und Interessen.
Auch im Jahre 1991 werden Bücherwürmer und Prokuristen als betriebsame Verbindung ihre Tätigkeit im Gefüge verschiedener Veranstaltungsformen, Beziehungslinien und Arbeitsbereichen fortsetzen. Nach erfolgter Verfestigung der infrastrukturellen Voraussetzungen und wechselseitiger Koordination von Sitz und Stimme, zeichnet nunmehr kräftiges Kolorit sichtbar Konturen, zeiht Parcours, Projekt und Produktion nach Jahr und rotem Faden, und noch und noch ergeben einander Ereignisse laufender Dinge, Zeit des Wartens. Der Kreis von Aktivitäten mag sich („Runde“), und mit beruhigter Gelassenheit sehen der Verein der Bücherwürmer und dessen Prokuristen auf alle eingelösten Ankündigungen zurück, sehen zu, daß im gegenwärtigen Jahr das erreichte Tableau gefestigt und wohl zum Teil auch erweitert werden kann. Rückblickend auf einen vervielfachten Realumsatz, welcher jene qualitative Schwelle überschreiten half und ein neuartiges, komplexes Geflecht literarischer Öffentlichkeit entstehen ließ, lokal bis kontinental, wissen mehr und mehr zu schätzen, worauf Tätigkeit jederzeit rückführbar erbaut werden will. Wohl trägt der Fortlauf der Geschehnisse einigen Keim zwar nicht zur Sorge, aber doch zu besonnener Aufmerksamkeit, und die nachdrückliche Bereitschaft zu breitflächig versponnener Aktivität ist dauernd. Einigen war die Akademie noch nie plausibel und, täuscht nicht alles, so rochieren jetzt Demarkationslinien. Schade, soviel Ungestüm. Procura erscheint republik, siebenmal im Jahre 1990 allein: das PR-Projekt mag nur die Stillen vom Land kongregieren, um, aber in ungleich weiterreichter Nachbarschaft wirken, eine Art Exportartikel geistigen Binnenmarktes wiederherzustellen und sich nicht irgendeinem Vergleich kraft ökonomischer Verkaufskraft messen, welcher zudem noch anzuzetteln wäre. Nur die Ruhe. Zum anderen, aber das fällt schon leichter, ist gewiß das Niveau der Veranstaltungen (Abteilung A) – samt dem Ausbau des Europäischen Archivs für Poesie (Abteilung C) – zu halten (aber in Bewegung), zu welchem bereits namhafte Schriftsteller ihre Zuträgerschaft beginnen. Als Akademie für Sprache (Abteilung D) wird die traditionelle Exkursion (Abteilung E) dann nach (und nah) dem Osten – in die Autonome Tschuwaschische Sowjetrepublik – unterwegs sein, so viele mögliche Welten in wie vielen ermöglichten Tagungen („Session aus Secession“). Selbstredend, aber nicht angekündigt, werden einzelne Autoren, Projekte oder Bücher vorgestellt. Dazu kommen Ausstellungen, die den Bereich des Literarischen berühren, etwa die erstmalig vollständige Präsentation der Gemälde Pier Paolo Pasolinis, welche vom Assessorat für Kultur der Provinz Pordenone zur Verfügung gestellt werden. Aus solchem Ungefähr heraus erfolgt, genüglich und wiederholt verjüngt, unablässige Dislokation. Vorausgesetzt, die Dinge laufen.
Seit 1990 erscheint die Zeitschrift Der Prokurist
in Wien und Lana mit mindestens drei Literaturnummern und einer nicht festgelegten Anzahl von Supplementbänden (edition per procura) pro Jahr. Südtiroler Eigentümer des mehrstelligen Publikationsprojekts ist der Verein der Bücherwürmer Lana, Herausgeber Oswald Egger. In Wien trägt die Publikationen als Zweitstelle der gleichnamige Inhaber – Der Prokurist. Verein für Organisation und Austausch von Kunst und Kultur – unter integrierend redaktioneller Mitarbeit bislang vor allem von Peter Waterhouse. Zuträger und Kommanditär Felix Philipp Ingold haftet in korrespondierender Teilhabe aus Zürich am PR-Projekt, Hermann Gummerer hält in der Secession Lana kulturwissenschaftliche Leitlinien inne – mit ermessendem Beirat – sowie jedwede Endredaktion in Zusammenarbeit mit Robert Huez und Arnold Mario Dall’O durch. Damit erfüllt sich das Desiderat einer unmittelbar anwendbaren, funktionalen, zugleich publizistisch präsenten Vermittlungsstruktur zwischen Wien und Lana: Zum einen, was die organisatorischen Voraussetzungen der kulturellen Übertragung betrifft – im Hinblick auf seine ebenenweite Vernetzung – zum anderen, was einen entsprechenden distribuierten medialen Träger bereitet, der Zentrum und Peripherie faktisch ineins setzt. Die Veranstaltungen des Vereins der Bücherwürmer einerseits und die entsprechenden Tätigkeiten des Wiener Büros – vorgestellt repräsentiert als Akademie für Sprache (Abteilung D) finden so endlich ihr geeignetes mediales Pendant.
Aus: Die Akademie ist der einzige hüpfende Punkt im Staate. Jahresbericht der Akademie für Sprache, 1991
Der Dichter Oswald Egger.
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