Ottó Tolnai: Göttlicher Gestank

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ottó Tolnai: Göttlicher Gestank

Tolnai-Göttlicher Gestank

DER FREUNDLICHE STEIN AUS DEM PIEMONT

Als ich meinte
mir wollten sich die Gedichte
sie wollten sich mir
ein für alle Mal verweigern
dachte ich in meiner Not
dass ich einen schmalen
ärmlich grauen Gedichtband
auf Serbisch
schreiben müsste weil ich ohnehin
nur noch so etwas möchte
in einer fremden Sprache sich spreizen
pfauenhaft prahlen kann kein Dichter
(einmal hatte ich ein kleines weißes Buch
geschrieben in Versec erschienen
über Anita Berber die expressionistische Tänzerin
ich schrieb es auf Serbisch
damals habe ich erfahren können
wie eng die Spalte ist durch die man sich
zu einer andren Sprache zwingen muss)
da erwachte ich eines Morgens
das Erwachen war noch ein Teil des Traumes
etwas wie blaues Eis
heißer Jade (Jadeit) lag mir gefroren im Mund
aber plötzlich wusste ich nicht
in welcher Sprache ich träumte
in welcher Sprache ich das Lied
singen wollte
Jade sagte jemand (möglicherweise ich selbst)
auf Serbisch nämlich heißt jad (sprich jad)
so viel wie Kummer (Sorgen Angst Elend Leid)
und etwas wie ein Musikinstrument
halb Zahnarztbohrer halb Bohrer der Bergleute
begann in meinem Mund zu werkeln
konnte aber den grünen Schmelz des Steines unmöglich
angreifen steht doch auch im großen Tolnai-Lexikon
dass Jade
unglaublich hart sei
und der Stein sei freundlich
(dieses Stichwort muss ich wiederholen ohnehin
war ich neugierig mit welchem Prädikat sie ihn im Osten
die großen Weisen im Osten versehen)
zudem steht im Tolnai dass er in Europa im Piemont zu finden sei
folglich ist er freundlich und zugleich ein Stein aus dem Piemont
der Jadeit.

 

 

 

Sprechgesang

Die vierundzwanzig Gedichte für diesen Band habe ich zusammen mit Ottó Tolnai beziehungsweise mit seinem Segen ausgesucht, so ist diese Auswahl eine Komposition für sich. Die Gedichte stammen zwar aus unterschiedlichen Zeiten, unterschiedlichen Büchern, und einige waren erst in Zeitschriften zu lesen, aber sie sind durch gemeinsame Motive, Themen, Bilder, Wörter verbunden, wodurch ein Gedicht mitunter an ein anderes erinnert; das Gedicht erinnert sich an ein anderes.
In Tolnais „Orpheus auf dem Lande“ – dieser Orpheus-Zyklus ist 1992 unter dem Titel Wilhelms Lieder (Wilhelm-dalok) auf Ungarisch erschienen – tritt ein Dorfnarr als Ich-Erzähler auf. Versonnen spricht er über seine Einsamkeit, Hilflosigkeit, aber auch über Glücksmomente, zudem besingt Wilhelm, der Tor, seine traurige, geliebte Umgebung, nämlich die flache, weite, salzverkrustete Landschaft der Vojvodina, Tolnais Heimat. Aus diesem Zyklus stammt unter anderem das Gedicht „Ich der Stein“. Einzelne Lieder des ländlichen Orpheus sind Mitte der 1980er-jahre entstanden, während Tolnais Aufenthalt in New York, und das Liedartige, besser gesagt der Sprechgesang, ist spätestens von da an aus Tolnais Dichtung nicht mehr wegzudenken.
„Omama in einem Gangsterfilm aus Amsterdam“ heißt ein späterer Zyklus, in dem die szenischen Elemente der Gedichte klar hervorgehoben werden. Omama – im Ungarischen heißt das Wort schlicht und einfach Urgroßmutter – lebt zwar nicht mehr, trotzdem ist sie, beinahe schon als Wiedergängerin, stets präsent. Sie kann mitreden, und durch ihre „Auftritte“, durch die Dialoge im Gedicht, zeigen diese so genannten Gangstergeschichten eine Querverbindung zu Tolnais Theaterstücken.
Querverbindungen und Vernetzungen sind ausschlaggebende Stichwörter für das gesamte Werk Tolnais, auch in dem Sinn, dass er ländliche, archaische Bilder und Begriffe mit Bildern und Ausdrucksweisen der Gegenwart verknüpft. Und zu den Querverbindungen gehört auch, dass Tolnai praktisch in jedem einzelnen Fall von seiner allernächsten Umgebung und gleichzeitig von allen erdenklichen Punkten der Welt erzählt, vom Piemont, von New York, Belgrad, Tübingen, Berlin und von der Vojvodina.
Wollte man alle Gedichte Otto Tolnais gleichzeitig betrachten, hätte man eine zusammenhängende, gut sichtbare Landkarte vor sich, auf der man sich relativ vertraut orientieren kann. Vertraut, weil alle Perlhühner, Hunde, Zwetschgenbäume, Urgroßmütter, nackten Frauenskulpturen, alle vom Salz durchsetzten Felder und ledernen Handschuhe, die Tolnai in seinen Sprechgesang einbezieht, zweifellos so sind, wie sie sind, real sind sie und damit wiedererkennbar, sodass man sich auf sie einlassen kann. Und nur relativ vertraut sind diese Wesen und Dinge, weil sie sich ständig verwandeln. Plötzlich sind die Perlhühner echte Perlen, aus Mehl wird Salz oder Schnee, Wörter sind Glasscherben; sie verwandeln sich, ohne symbolisch zu wirken. Tolnai setzt nämlich mit einer realistischen Betrachtung ein, verschärft die Realität, bis sie als Abstraktion erscheint, sich aber schließlich doch als eine Art (als neue Art) der Realität begreifen lässt.
Vor zehn Jahren hat der auch im deutschen Sprachraum bekannte ungarische Autor Lajos Parti Nagy über sechs Tage hinweg ein Interview mit Ottó Tolnai geführt, ein ausführliches Gespräch für den Rundfunk. Aus diesem Gespräch hat sich Jahre später ein ansehnliches Buch entwickelt, eine Art Schlüsselwerk (mit dem schönen Titel Der Dichter aus Schweinefett – Költő disznózsírból), bei dem Parti Nagy, wie er selbst sagt, Geburtshelfer war. Er begann die gemeinsamen Gespräche mit dem folgenden Satz:

Die sechs Sitzungen werden wohl eine Abfolge haben, aber keine Reihenfolge, denn Otto Tolnais Kunstwerk – das ich am liebsten Dichtung nenne – wird gerade dadurch charakterisiert, dass wir, an welchem Punkt wir es auch berühren, wo wir auch etwas hervorziehen und lösen wollen oder zumindest zu lösen beginnen wollen, sofort in die Mitte des Werkes geraten.

In seiner fünfzig Seiten langen Antwort sagt Tolnai unter anderem, dass ihm seit jeher Sätze vorgeschwebt haben, wie sie Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse beschreibt, nämlich kreisförmige Sätze, die im Sinne der Antike eine Einheit bilden, indem sie von einem einzigen Atemzug zusammengehalten werden. Und obwohl Nietzsche meint, dass diese langen Sätze dem modernen Menschen nicht zustünden, da wir zu kurzatmig seien, spüre man die Notwendigkeit solcher Sätze, die zeigen, „dass wir in den aufgewühlten Wellen den Boden unter den Füßen verlieren, nach Luft schnappen, uns verstricken, aber vielleicht werden wir im Wasser nicht untergehen, den Boden unter den Füßen beziehungsweise den so genannten roten Faden nicht verlieren und spüren, dass wir das Ende des Fadens finden können, im schlimmsten Fall um den eigenen Hals gewickelt“.
Dass der rote Faden um den eigenen Hals in Wirklichkeit ein Strick ist, zeigt sich besonders in Tolnais Langgedichten.
Von den Langgedichten gibt es drei in diesem Band: „Der Rosshaarbesen“ und „Du hast dich in den Rosen gewälzt“ sind vor kurzem entstanden, „Das Blut quillt mir aus dem Mund“ schrieb Tolnai vor einigen Jahren, während seines Aufenthalts in Berlin, als Gast des DAAD. Diese Gedichte sind wogende Gebilde, in die man eintaucht, als wäre man verloren, mit denen man allerdings das wirklich tiefe Durchatmen kennen lernen kann.

*

Ungarisch, eine nichtindoeuropäische Sprache, nimmt sich für das germanische, slawische, romanische Verständnis schon von der Struktur her fremd aus. Zum Beispiel ist die Grammatik konziser und verlangt viel dichtere Satzformen als die indoeuropäischen Nachbarsprachen. Das heißt, die Wörter sitzen dichter beisammen, der Sinn ist weniger detailliert aufgeschlüsselt; was gesagt und erzählt wird, kommt dadurch ins Taumeln, wobei dieses Taumeln wunderbare Qualitäten hat und unbedingt zu den Talenten dieser Sprache gehört.
In der deutschen Übersetzung kann man die vielschichtigen Sprachschwankungen nicht ganz nachvollziehen, etwas von jenem Torkeln, das Tolnai im Original gut und klug eingebaut hat, geht zwangsläufig verloren. Der „Seegang“, die Gefahr des Ertrinkens, ist im Original also stärker.
Über die Sprachstruktur hinaus gab es bei diesen vierundzwanzig Gedichten auch mit einzelnen Wörtern Probleme, natürlich gab es sie, solche Hürden stellen sich bei Übersetzungen aus allen Sprachen. Zwei Beispiele möchte ich trotzdem nennen.
Auf ein einziges ländlich-barock anmutendes Wort hat Tolnai sein Gedicht „Urgroßmama“ ausgerichtet, nämlich auf das Wort almárium, in dem man das lateinische armarium leicht entdecken kann, und auch das französische armoire ist zu wittern, aber das hilft nicht viel. Gesucht ist ein Wort, das an Bauernschränke erinnert, möglichst an bemalte ungarische Bauernschränke, und der Schrank sollte ein klein wenig nach Äpfeln riechen, weil der Apfel im Ungarischen alma heißt und alma in almárium hörbar enthalten ist und weil Tolnai mit solchen Hörbarkeiten intensiv arbeitet (so, dass ich vergleichbare Probleme auch mit anderen Wörtern hatte). Tolnais almárium riecht also nach der Großmutter, sodass die Großmutter nach Äpfeln riecht. Und erst als ich die grüne Truhe in eine apfelgrüne Truhe verwandelt hatte, kam etwas wie ein Geruch im Gedicht auf, womit Ottó Tolnai glücklicherweise einverstanden war. Er sagte, auf dieses Möbelstück stelle man im Herbst ohnehin auch Äpfel.
Das andere problematische Wort ist (zufällig) ebenfalls lateinischen Ursprungs, in Ungarn allgemein bekannt, im deutschen Sprachraum nicht: Hypermangan. Hypermangan steht für kleine dunkelblaue beziehungsweise dunkelviolette Körnchen, die man im Wasser auflöst, meist in einer Schüssel, um (heilsame) Sitzbäder zu nehmen. Das Besondere ist die hellviolette Färbung, sobald sich die Kristallkörner im Wasser aufgelöst haben. Diese Farbe zieht durch viele Gedichte Tolnais; er ist ihr – wie auch seinen anderen Farben, dem Olivgrün, dem blassen Lorbeergrün – seit Jahren treu geblieben. Treu ist er auch dem weißen Salzschnee, dem leuchtenden Salzboden – dem szík – der Tiefebene, für den es im Deutschen kein Wort gibt.

Zsuzsanna Gahse, Nachwort, Januar 2009

 

„Orpheus vom Lande“,

so bezeichnet Ottó Tolnai sich oft in seinen Gedichten. Mit großem Atem besingt er seine nähere Umgebung, die Vojvodina, die Kargheit ihrer Landschaft, ihre dörflichen Bewohner. Tolnai folgt den Bildern, Worten und Sätzen, über die er stolpert, folgt ihrer Sprach- und Bildlogik, ihren unerwarteten Wendungen, bis die Erinnerungen, Wahrnehmungen und Träume sich absurd und präzise zur feinmaschig verknüpften Welt hin öffnen.
Ein einfacher Besenstiel wird zur glänzenden Achse des Alls, ein verlorener Handschuh zum Geschlechtsteil eines Engels. Alltag und All, Derbheit und Poesie finden in Ottó Tolnais Sprechgesang leichtfüßig zueinander, um sich als zwei Seiten ein und derselben Medaille zu erweisen.
Zsuzsanna Gahses in Absprache mit dem Autor zusammengestellte Auswahl vereint Kurz- und Langgedichte aus unterschiedlichen Zeiten, die über gemeinsame Motive, Themen und Wörter miteinander korrespondieren und – eindringlich übersetzt – eine eigene Komposition bilden. Abgerundet wird die Sammlung durch ein Nachwort der Übersetzerin.

Edition Korrespondenzen, Ankündigung

 

Ottó Tolnai: Gedichte

Göttlicher Gestank – ein Widerspruch? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Gedichte des vojvodinischen Autors Ottó Tolnai glänzen mit solchen Ungereimtheiten. Das zum Titel gehörige Gedicht heißt „Der göttliche Gestank des Leims“. Die „klebrige Pampe“, von einer Leimköchin angerührt, könnte dem lyrischen Ich helfen:

um nicht wie eine lose Schuhsohle
endgültig vom Erdball zu fallen

Tolnais Gedichte sind bukolische Verse in subtilen freien Rhythmen, reimlos, mit chorischen Refrains verbunden. In ihren kürzesten Varianten setzen sie kleinste Bilder aufs Papier. In ihren epischen Langformen mäandern sie erzählend durch Landschaften und Geschichten und nehmen Widersprüchlichstes in sich auf, um es zu verwandeln. Eindrücke, Metaphern und Mythen – aus der Vojvodina – verstricken sich ineinander und begründen eine poetische Wirklichkeit, die sich dem schnellen Einverständnis verweigert. Ihre lächelnde Anschaulichkeit aber ist förmlich zu spüren. Tolnai lässt einen am Gedicht erleben, dass es ein poetisches Vorverständnis gibt, welches sich hier in der lauten Lektüre seiner Sprechgedichte vollzieht.
Leicht macht es sich der Autor selbst nicht, wie das wunderbare „Oberhalb von Edenkoben“ zeigt. „Es ist gar nicht einfach, Nägel in Bleiplatten zu hauen“ – in die „Bleiplatte des Firmaments“. Und doch probiert er es täglich. Das Schreiben als Exerzitium der Vergeblichkeit, mit dem sich das weiße Papier füllt. Der Leser vollzieht es mit: „es ist schön derlei Poesie zu machen“. Die Übersetzerin Zsuzsanna Gahse – offenkundig eine Geistesverwandte Tolnais – hat eindrückliche Arbeit geleistet im Namen – aller, die kein Ungarisch verstehen. Ihre Auswahl gibt Einblicke frei in einen dichterischen Kosmos, der die karge Landschaft der Vojvodina direkt mit dem Firmament verbindet. Ein kommuner Besenstiel legt die Achse dazwischen.

Beat Mazenauer, Volltext, Heft 2, 2010

Die Angst, vom Erdball zu fallen

– Orpheus vom Lande: Der ungarische Lyriker Ottó Tolnai treibt luftige Metaphysik. –

Ottó Tolnai, 1940 im ungarischsprachigen Teil der Vojvodina im heutigen Serbien geboren, ist ein ungemein produktiver Autor. In über dreißig Bänden hat er Gedichte, Theaterstücke und Essays publiziert und dafür etliche Preise bekommen. Auf Deutsch sind zwei Bände mit Erzählungen erschienen und nun auch eine erste Auswahl seiner Gedichte. Der Titel Göttlicher Gestank klingt nicht gerade attraktiv. Soll er wohl auch nicht.
Tolnai ist ein überaus phantasievoller Lyriker. Er sprudelt vor Einfällen und setzt sie mit neuen Einzelheiten und Assoziationen fort. Worte generieren Worte, Bilder immer neue Bilder. So entstehen feinmaschige Netze von Bezügen, in denen sich Wahrnehmungen, Erinnerungen und Träume zu bunten Textteppichen verknüpfen. Der Dichter verwebt alles, was ihm geeignet scheint, mit Gusto, oft auch mit ziemlicher Willkür. Doch langweilig ist er nie.
Er selbst nennt sich einen „Orpheus vom Lande“. Und wirklich kann man ihn einen Bukoliker nennen. Die karge ländliche Landschaft der Vojvodina ist in vielen Gedichten Erlebnishintergrund. Tolnai kommt gern auf seine Herkunft, auf Sippe und Familie zurück. Er beschwört die Urgroßmama, die es angeblich nicht gibt und doch in dem Gedicht als „Omama“ aufersteht. Was er über sie schreibt, ist ihm zugleich „reine“ wie „rauhe“ Poesie – nämlich „poésie pure“ und „poésie brute“.
Solche Ambivalenz ist Tolnais Stärke und Verführung. Er ist ein surrealistischer Realist und ein realistischer Phantast. Er schreibt Dutzend Seiten über den „Rosshaarbesen aus Pest“ und kommt über Hölzchen und Stöckchen zuletzt auf die Nabe der Welt. Das ist á la Alfred Jarry eher Pata- als Metaphysik.
Sehr ernst darf man den Metaphysiker ohnehin nicht nehmen. In seiner fluktuierenden Welt gibt es nichts Festes, nicht einmal die lyrische Form. Alles, was die Phantasie in die luftige Höhe treibt, kann auch wieder zur Erde fallen. Deshalb wohl muss der schlitzohrige Poet seinen Leim kochen, „so eine klebrige Pampe / um nicht wie eine lose Schuhsohle / endgültig vom Erdball zu fallen“. Wenn dieser Leim etwas Göttliches hat, darf er auch stinken, sagt sich der Leser. Hauptsache, er hält.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.10.2009

Göttlicher Gestank

– Gespräch von Beatrice Simonsen mit dem serbisch-ungarischen Autor Ottó Tolnai. –

Stellt man Ottó Tolnai eine Frage, antwortet er mit einer Geschichte – es können aber auch mehrere sein. In seiner Heimat, der Vojvodina, gilt er als „Orpheus vom Lande“ – in Titel, den auch die Hauptfigur seiner Wilhelm Lieder [Wilhelm-dalok, 1992] trägt. Tolnais Sehnsucht nach Ferne manifestiert sich in der Identifikation mit jemand, der aus der Realität herausgerückt ist, dessen Wahrnehmung ver-rückt ist. Verrückt ist im Ungarischen jemand, der „halbe Lieder singt“ und das nimmt Ottó Tolnai wörtlich, weshalb er für seinen Dorfnarren Wilhelm einen eigenen Rhythmus, eine eigene Sprachwelt erfand. Was sich einprägt, sind bizarre Bilder, Splitter wiederkehrender Assoziationen. Vor den Hintergrund schimmernder Landschaften streut er Namen von Orten und Menschen: Belgrad, Venedig und Uppsala führt er ebenso leichthändig zusammen wie Jean Gabin, Anita Berber und Danilo Kiš.
Berühmtheiten dieser Art werden Teil einer ländlichen Welt, in der die Kamillen gekehrt werden und Perlhühner in den Bäumen sitzen. Tolnai ist ein Dichter, der mit opulenten Bildern und Emotionen nicht spart. Großteils in Ich-Form beschreibt er fühl-und riechbar ein buntes Leben von Mensch und Tier in den Dörfern an der Theiß und in der Puszta. Alltägliche Ereignisse werden zu Sinnbildern, zu komischen, skurrilen Fantasien, deren lautmalerischen Ton man nur ahnen kann, wenn man zum ungarischen Original der zweisprachigen Ausgabe von Göttlicher Gestank“hinüber lugt. Hierin sind Ausschnitte seines poetischen Werkes aus verschiedenen Epochen versammelt.

Der 1940 geborene Autor ungarischer Abstammung lebt in der serbischen Kleinstadt Palics nahe Subotica an der serbisch-ungarischen Grenze. Palics (auf Serbisch Palić), das zur Zeit der österreichischen Monarchie als Kurort galt und in seiner Architektur an Baden bei Wien erinnert, ist von der jahrhundertelangen Multiethnizität Suboticas (ungarisch Szabadka, deutsch Maria-Theresiopel) geprägt. Etwas davon spiegelt das Schreiben Tolnais wider – die große weite Welt findet sich für ihn wie selbstverständlich hier zwischen den Steinen der Häuser und auf den erdigen Landstraßen. Der Autor ist eine wichtige Identifikationsfigur für die in Serbien lebenden Ungarn, seine Literatur eine Erinnerung an das alte Jugoslawien. Die politischen Veränderungen, die diesen Landstrich an der Grenze niemals verschont haben, betrachtet er mit dem Freigeist des gelernten „Dorfnarren“. Mehr als 30 Bücher hat er in allen Sparten der Literatur von Prosa über Lyrik bis hin zu Theater und Hörspiel veröffentlicht.
Erst zwei schmale Erzählbände liegen von Ottó Tolnai auf Deutsch vor, seit 2009 eine Auswahl seiner Gedichte. Das Nachwort der wunderbaren Übersetzerin Zsuzsanna Gahse in Göttlicher Gestank bringt Erhellung in die Ursprünge von Tolnais Gedankenwelt und dessen melodiösen Sprechgesang, der Gott und der Natur immer nahe ist. Ilma Rakusa rückte Ottó Tolnai in einer Rezension in der NZZ in die Nähe von Herta Müller und Lajos Parti Nagy preist ihn als einen nahen Verwandten von Danilo Kiš und Bohumil Hrabal. Mit solchen Referenzen ausgestattet, mag es mehr als verwundern, dass diesem Orpheus der Weg in den Westen noch nicht mit einem roten Teppich ausgelegt wurde.

Beatrice Simonsen: Haben Sie denn Deutsch in der Schule gelernt?

Ottó Tolnai: [Die Antwort kommt zweisprachig]: Igen, ja.

Simonsen: Musste man oder konnte man Deutsch lernen?

Tolnai: Von 1945 bis 1948 musste man Russisch lernen, aber dann erfolgte der Bruch zwischen Tito und der Sowjetunion und danach musste man nicht mehr Russisch lernen, aber man konnte eben Deutsch lernen.

Simonsen: Wie ist das heute mit der berühmten regionalen Vielsprachigkeit?

Tolnai: Natürlich gibt es noch die Vielsprachigkeit, obwohl es jetzt mehr Grenzen gibt als vorher, aus Jugoslawien sind ja mehrere kleine Staaten geworden. Ich fühle mich in diesem Kontext am besten. Ich brauche es, dass so viele Sprachen und Kulturen um mich sind. Ich reise oft nach Dalmatien oder Slowenien oder Montenegro, für mich ist das Ganze irgendwie zusammengeblieben. Cioran sagte einmal, er könnte nie in einem Land leben, wo nur eine Sprache herrscht. Er brauchte auch die Vielsprachigkeit, das Abwechslungsreiche.

Simonsen: Da Sie ungarischer Abstammung sind, schreiben Sie auch auf Ungarisch. Sie möchten aber nicht in Ungarn leben?

Tolnai: Ich habe derzeit die serbisch-ungarische Doppelstaatsbürgerschaft. Nein, ich möchte dort bleiben, wo ich lebe. Meine Tochter lebt in Ungarn und ich besuche sie natürlich oft, aber das ist genug, weil ich mich nur in der Vojvodina zuhause fühle. Es gibt im Ungarischen einen Ausdruck, der heißt: „verliebte Geographie“. Ich bin auch verliebt in die Vojvodina, in das Land. Allerdings sehe ich das nicht so eng, es gehört ein bisschen Venedig dazu, es gehört ein bisschen Wien dazu und Griechenland und so fort, dieser breite Horizont, das ist mein Land.

Simonsen: Wo ist hauptsächlich Ihre Leserschaft, in Ungarn oder in Serbien?

Tolnai: Es sind auch einige Bücher von mir auf Slowenisch und auf Serbisch übersetzt erschienen, aber ich bin ein ungarischer Dichter oder Schriftsteller.

Simonsen: Terézia Mora sagte mir, ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen, weil Sie für die ungarische Literatur eine wichtige Persönlichkeit sind. Sind Sie vielleicht auch ein Symbol für all jene, die nicht mehr in ihrer Heimat Ungarn leben?

Tolnai: Wenn ich zuhause bin, bin ich offen für die Welt und erzähle darüber, wie groß die Welt ist und wie offen ich für die Welt bin, aber wenn ich außerhalb von Serbien oder von zuhause bin, dann erzähle ich von meiner Heimat, dann bin ich ein „Lokalautor“. Oft mache ich das so mit meinen Helden aus den Gedichten oder Novellen, ich beschreibe ganz genau den sozialen Hintergrund ihres Zuhause und dann platziere ich sie irgendwohin, nach Wien oder Venedig. Aber eigentlich, was mir wichtig im Hintergrund ist, ist immer Dalmatien, das ist wie eine große Leinwand dahinter. Die Adria ist mir überhaupt sehr wichtig. Ich beschäftige mich sehr oft mit dem Meer, geographisch und chemisch, von vielen Gesichtspunkten aus. Ungarn hat kein Meer und jetzt hat auch Serbien kein Meer – Jugoslawien hatte ein Meer. Einmal, als ich in Amerika war, wurde ich gefragt, inwiefern ich mich von den anderen Autoren unterscheide und da habe ich gesagt: „Ich habe ein Meer.“ Zuhause gab das dann einen großen Wirbel (lacht).

Textfeld Südost

 

 

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Porträt von Zsuzsanna Gahse.

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Tolnai Ottó – Ma sem értem az egészet.

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