ES GIBT KEIN VERGESSEN
(Sonate)
Wenn ihr mich fragt, wo ich gewesen bin,
muß ich sagen E s g e s c h i e h t.
Muß ich vom Erdreich sprechen, das die Steine
aaaaaverdunkeln,
vom Fluß, der in seinem Dauern sich zerstört:
ich kenne nur das, was die Vögel verlieren,
das zurückgelassene Meer oder meine weinende
aaaaaSchwester.
Warum so viele Länder, warum reiht
ein Tag sich an den andern? Warum ballt
sich eine schwarze Nacht im Mund? Und weshalb Tote?
Wenn ihr mich fragt, woher ich komme, so muß ich mit zerbrochnen Dingen mich bereden,
mit allzu peinlichem Werkzeug,
mit oftmals verwesten großen Tieren
und mit meinem bedrückten Herzen.
Nicht Erinnerungen sinds, die sich da kreuzten,
nicht die gelbliche Taube ists, die im Vergessen schläft,
sondern Gesichter voller Tränen,
Finger an der Kehle
und was aus den Blättern da zu Boden sinkt:
die Düsternis eines verstrichenen Tages,
eines mit unserem traurigen Blut ernährten Tages.
Hier gibt es Veilchen wohl und Schwalben,
all das, was uns gefällt und was mit langer Schleppe
auf den hübschen Postkarten erscheint,
auf denen die Zeit und die Lieblichkeit lustwandeln.
Aber laßt uns nicht hinter jene Zähne dringen,
laßt uns die Schalen nicht zerbeißen, die das Schweigen häuft,
denn ich weiß nicht, was antworten:
es gibt so viele Tote
und soviel Molen, zerspalten von der roten Sonne,
und soviel Köpfe, die sich an Schiffen stoßen,
und soviel Hände, die Küsse eingesperrt,
und soviel Dinge, die ich vergessen will.
trat der junge Lyriker Pablo Neruda Herbst 1927 in Rangun das Amt eines Konsuls an. Aus innerer Berufung aber blieb er Dichter. In den Versen eines hier begonnenen Werks kündigte sich eine neue schöpferische Phase an. Zurück lag die Zeit, da der Student poetisch ungestüm und in jugendlicher Leidenschaft seine ersten Bücher verfaßt hatte: Morgen- und Abenddämmerungen (1923), Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung (1924), Versuch des unendlichen Menschen (1925), Ringe (1926), Der Bewohner und seine Hoffnung (1926). Schon hatte er sich in seiner Heimat einen Namen gemacht. Nun lag Weite vor ihm, die erschlossen, in Erfahrung und im dichterischen Wort mitteilbar und umgesetzt sein wollte. Indes: Beklemmung und Düsternis erfaßte ihn beim Anblick von so viel Unbegreiflichem – das vom europäischen Kolonialismus ausgebeutete Asien besaß hundert verschiedene, in Schmerzen verzerrte Gesichter. Später schrieb der Dichter: „Ich lebte getrennt von meiner Welt durch die Entfernung und das Schweigen, ich war außerstande, in die fremde Welt einzudringen, die mich umgab. Mein Buch sammelte als natürliche Episoden die Ergebnisse meines im Leeren hängenden Lebens: ,Näher am Blut als an der Tinte.‘ Aber mein Stil läuterte sich, und in der wiederkehrenden wütenden Schwermut gewann ich Schwingen.“
So entstand in quälender Selbstbefragung die einzigartige Gedichtsammlung Aufenthalt auf Erden. „Trauervoll irdisch“ nannte der Autor die im Orient verfaßten Gedichte. Der Band erfuhr ab 1934, mit dem Wechsel des Diplomaten Neruda nach Madrid, Erweiterung und Aufhellung. Seine Begegnung mit García Lorca, Hernández, Alberti und anderen spanischen Dichtern, sodann das erschütternde Erlebnis eines blutigen Bruderkriegs gaben dem eigenen Aufenthalt auf Erden eine neue Bestimmung, ließen sein Buch mit den flammenden, auf die Kraft des Menschen bauenden Versen von „Spanien im Herzen“ enden.
Der vorliegende Band schlägt einen Bogen von Nerudas lyrischen Anfängen bis zu den überwältigenden späten Gedichten des Aufenthalt auf Erden, er stellt die Schaffensperiode vor, die dem Großen Gesang, Nerudas monumentalem Hauptwerk, vorausging.
Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1979
– Neruda-Zyklus liegt erstmals geschlossen in deutscher Sprache vor. –
Anläßlich des 70. Geburtstages von Pablo Neruda soll hier an seinen Dichtungszyklus Aufenthalt auf Erden erinnert werden, der kürzlich im Reclam-Verlag, Leipzig in einer repräsentativen illustrierten Ausgabe erschienen ist. Die marxistische Literaturwissenschaft bezeichnet dieses Werk des Nobelpreisträgers Neruda als „einen Markstein in der Dichtung unseres Jahrhunderts“, spiegelt es doch in seiner gedanklichen Tiefe und beeindruckenden Sprachgewalt den höchst komplizierten weltanschaulich-künstlerischen Wandlungsprozeß des Dichters wider. Dieser Zyklus, an dem Pablo Neruda über zwei Jahrzehnte schrieb, liegt hier erstmals geschlossen in deutscher Sprache vor, und dies in der kongenialen Übertragung des Lyrikers und autorisierten Übersetzers Erich Arendt, dem auch das Verdienst gebührt, das Werk des chilenischen Poeten im deutschen Sprachraum bekanntgemacht zu haben. In dem Band finden wir auch einige Gedichte, die der namhafte Lyriker, Essayist und Nachdichter Stephan Hermlin übertragen hat.
Aufenthalt auf Erden gliedert sich in drei große Zyklen, genannt „Aufenthalte“. Der erste, 1925 bis 1931 entstandene Zyklus des Dichters bezeugt die Suche in Form von metaphysisch-melancholischen lyrischen Grübeleien, die sich, dann im folgenden Teil zu einer scharfen Auseinandersetzung und kompromißlosen Kritik der spätbürgerlichen Welt steigert, um dann im „Dritten Aufenthalt“ — dem Höhepunkt dieser gewaltigen Dichtung –, geschaffen in den Jahren 1935 bis 1945, mit einem begeisterten Hymnus auf das entstehende sozialistische Weltsystem zu enden, das Neruda in klangvollen, odenhaften Strophen besingt, damit zugleich eindrucksvoll seine weltanschauliche Neuorientierung dokumentierend.
Kernstück dieses letzten Zyklus bildet das Poem „Spanien im Herzen“, jener „Hymnus auf den Ruhm des Volkes im Krieg“, in dem Neruda — ganz aus unmittelbarem Erleben heraus — den heldenhaften Kampf des spanischen Volkes gegen die Übermacht der Franco-Putschisten schildert.
Dieses Exlibris wurde von der Solidaritätskommission des Schriftstellerverbandes der DDR für den Pablo-Neruda-Fonds herausgegeben (Postscheckkonto Berlin 750). Alle Spender erhalten auf der Rückseite zum Dank das Autogramm eines DDR-Schriftstellers ihrer Wahl.
Nerudas Lyrik ist sprachschön, äußerst bildreich, spannungsgeladen und lebt vom Klang. Sie erfordert vor allem in den Versen der beiden ersten „Aufenthalte“ ein aktives Mitgehen und Mitdenken des Lesers: „Bilden doch diese Gedichte ganz aus dem Gefühl und der Gewalt ihrer Bilder eine Einheit“ (Rincón). Die Gedichte des letzten Zyklus verstehen es — durchdrungen vom revolutionären Atem in ihrer klaren und kämpferischen Aussage, den Leser aufzurütteln und mitzureißen.
Aufenthalt auf Erden hat durch die harmonische Verschmelzung von Text, Illustration, Typographie und Einband (Prof. Kapr, Leipzig) buchkünstlerisch eine adäquate Form erhalten. HAP Grieshaber, ein auch in unserer Republik geschätzter Holzschneider, Grafiker und Maler der BRD, dessen engagierte humanistische Haltung und künstlerisch eigenständige Leistung unbestritten sind, schuf hierzu 18 großflächige Farbholzschnitte, die freie Variationen zu den Grundthemen Nerudascher Dichtung bilden. Daß diese mehrfarbigen Holzschnitte in der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst vom Stock, also vom Original, gedruckt worden sind, erhöht den Wert dieser bibliophil wirkenden Edition. Dieser Band wurde als eines der Schönsten Bücher des Jahres 1973 ausgezeichnet.
H.G. Plott, Berliner Zeitung, 12.7.1974
(Bezieht sich auf eine andere Ausgabe)
Der Chilene Neftalé Reyes Basualto, 1904 in Parral geboren, geriet als Philosophiestudent in die politischen Unruhen des Jahres 1920, da ein Gedicht von ihm seine Commilitonen begeisterte. Unter dem Pseudonym Pablo Neruda (der Name eines vergessenen tschechischen Dichters) sollte er später in die Weltliteratur eingehen. Brüderlichen Geistes, ein Romantiker der Freiheit, ein großherziger Mann, der unzähligen Emigranten des spanischen Bürgerkrieges zur Flucht nach „drüben“ verhalf, verfiel er dem – darf man das so nennen? – epochalen Irrtum, daß er alle guten, lieben und schönen menschlichen Eigenschaften nurmehr unterm Schutz der kommunistischen Partei russischer Observanz, gewahrt, bewahrt, gehätschelt, emporgepflegt und gesichert wähnte.
Sein Weg begann in den Zwängen (und Zwangsvorstellungen) revolutionärer Welterneuerungsnotwendigkeiten. Das Schicksal, das ihn in den spanischen Bürgerkrieg verschlug, ihm die Erschießung des verehrten Freundes García Lorca unvergeßlich ins Herz brannte, sorgte dafür, daß er auf dem hoch-ummauerten Weg partei-ideeller Überzeugung und Hoffnung verblieb. Ein Umstand, der bewirkte, daß sich in seiner flutenden, strömenden, wuchtig-schwermutsvollen „informellen“ Dichtung der Jargon des missionierenden Parteigängers immer stärker durchsetzte. Mit einer Art von hoffnungslosem Optimismus verkündete er 1935 auf dem linksradikalen Kulturkongreß zu Santiago:
… wir schreiben für den einfachen Menschen.
Nun, für den einfachen Menschen sind in seinem Lebenswerk, dem Canto general einem breit und berauschend von indianischer Urgeschichte durchwobenen „fleuve éternel“ höchstens die Stalin feiernden, und das offizielle Parteiprogramm manifestierenden Schlußhymnen. Zeugend vom kranken Idealismus jener, die das Durchhalten innerhalb einer, – im innersten Herzen doch wohl bereits kritisch bezweifelten, Besinnungsentscheidung für groß und richtig halten. So muß früher Katholiken zumute gewesen sein, die, ohne in ihrem Vertrauen auf Rom wankend zu werden, von den Ketzerverfolgungen entsetzt waren. Sie glaubten, daß ihre Treue zur Kirche letztlich die positive Wendung herbeiführen müsse. Es gab auch Nationalsozialisten, die an die rettende, veredelnde Kraft, jener besseren Intentionen glaubten, die sie durch persönliches Wirken in die Körperschaft der Partei einbrachten. Das menschliche Irren in diesem Betracht kennt keine Grenze. Und daß es nach dem ungarischen Freiheitsaufstand tatsächlich immer noch Intellektuelle, Künstler, Wissenschaftler gibt, die sich zum Kommunismus Moskaus bekennen, ist dem Unverblendeten unbegreiflich. Pablo Neruda nahm 1953 den Stalin-Friedenspreis an. Man hat nichts darüber vernommen, ob der Dichter nach der „parteieigenen“ Demaskierung des Diktators die Last der Mitverantwortung als quälend empfand. Denn als solches mußte er ja das Entgegennehmen jenes „Friedens“-Preises nachträglich empfinden.
Diese, doch wohl wirklich inkommensurablen Dinge müssen wir nun einfach mitverkraften (und der Fall steht ja nicht allein), wenn wir uns in das Werk Nerudas hineinbegeben. Und einem Sichhineinbegeben gleicht das. Nerudas poetische Welt ist ein Labyrinth von wundervollen Höhlen, blitzend von den Kristallen der Melancholie, durchdröhnt von einer anspruchsvoll düsteren Musik, Momberthaft in ihrer Schöpfungs-Urbeziehung, Saint-John-Persehaft in ihrer tiefen Weltgeräumigkeit, Lautréamonthaft in ihrer rätselvollen Mitternächtlichkeit. Dies alles ist drin und nur das eine nicht, nämlich das „wir schreiben für den einfachen Menschen“.
Der Dichter ist hier, wie immer eigentlich wohl, wie z.B. Rilke auch, das Opfer eines Wunschträumens: er möchte der Begründer einer Weltreligion des Poetischen sein. Einer Weltordnung, die von allen Lebenden gebilligt werden kann. Und er vertraut sich aufstrebenden Machtkonstellationen an, um seinen Erlösungstraum durchzusetzen und schließlich gar die Macht selbst noch zu überzeugen, zu überwältigen, sich Untertan zu machen. Wenn sie den Gewalthabern damit unbequem werden, verschwinden sie, wie Pilnjak, Babel, Iwanow in Rußland, oder werden in einem goldenen Käfig isoliert, wie d’Annunzio von Mussolini, oder werden mundtot gemacht wie Benn von den Nazis. Uns bleibt ihr Gesang, solange er rein d.h. tendenzfrei ertönt, und die Pflicht des Verständnisses, und die bittere Einsicht, daß man sich dem dichtenden Menschen als einem führenden und weisenden nicht anvertrauen könne. Brecht, wie groß er immer auch war, wer dürfte seine politischen Empfehlungen ernst nehmen? Auch der Dichter „lebt durch den Kopf und der Kopf reicht ihm nicht aus“. Wir kommen nie aus dem zerebralen Verwirrspiel heraus.
Der Neruda-Band des Claassen-Verlages, der uns zu diesen Erörterungen bewegte, ist bestens geeignet, das poetisch Überzeugende, das parteiprogrammfreie Werk des großen Dichters zur Kenntnis zu bringen.
Schlechthin großartige und in der Weltliteratur gegenwärtigen Dichtens einzigartige Stücke stehen als Introitus vor dem Riesenwerk des Canto general. Eine seiner zauberhaftesten Schöpfungen, das Gedicht von der Uhr, die im Meer versank, sozusagen die Relativitätstheorie als Zauberformel darstellend, möchten wir besonders erwähnen. Überraschend wirkt es, wenn wir das spanische Original der Gedichte mit dem Wörterbuch in der Hand zu Rate ziehen und die erstaunlichen, anscheinend jeder Willkür Vorschub gebenden Schwierigkeiten der Übersetzung feststellen müssen. In einer alten Übersetzung von Enzensberger in Texte und Zeichen finden wir z.B. das Gedicht „Das Gespenst auf dem Frachtschiff“ respektive „Das Gespenst des Frachtschiffes“ schon mit dem Titel anfangend sehr verschieden verdeutscht. Setzt Enzensberger:
Entfernung, die auf schäumenden Rollen entflieht,
Salz in der Liturgie der Fluten nach verborgenen Regeln,
und das alte Schiff, sein Geruch und Geräusch
nach fauligen Hölzern und geborstenem Eisen
und müden Maschinen, die wimmern und heulen
so setzt der ostzonale Übersetzer des Claassen-Bandes, Erich Arendt, statt dessen:
Entfernung, die sich flüchtet auf Rollen Schaumes,
Salz in rituellen Wogen und nach bestimmten Regeln,
und ein Geräusch, ein Ruch nach altem Schiff,
nach fauligen Hölzern und verworrenem Eisen
und müden Maschinen, die winseln und weinen
− Pablo Neruda erhält den Nobelpreis für Literatur. −
Mit dem Chilenen Pablo Neruda erhält zum dritten Mal ein Schriftsteller aus Lateinamerika den Nobelpreis: Nach Gabriela Mistral und Miguel Angel Asturias wurde jetzt der sprachmächtigste, einflußreichste und wandlungsfähigste zeitgenössische Dichter der spanischen Sprache ausgezeichnet. Wie Asturias erreichte Neruda die Entscheidung aus Stockholm als Botschafter seines Landes in Paris. Neruda, seit über dreißig Jahren Kommunist, vertritt die Volksfront-Regierung Salvador Allendes in der französischen Hauptstadt. Seine Partei hatte ihn zunächst als Gegenkandidaten Allendes bei der letzten Wahl aufgestellt, ihn aber dann zugunsten des jetzigen Präsidenten zurückgezogen. Der Politiker Neruda, der sich immer der Parteidisziplin unterworfen hatte, gab sich mit einem diplomatischen Posten zufrieden, der ihm früher gern Anlaß zum Spott war. Politische Ereignisse haben Nerudas Poesie häufig die großen Themen gegeben; doch sind auch seine politischen Gedichte keine kritisch-reflektierte Lyrik. Nerudas Dichtung ist immer Bekenntnis gewesen, in Metaphern umgesetzte Emotionen, die aus seiner Entrüstung und seinem Willen zur Solidarität mit den Besiegten und Unterdrückten entstanden ist. Neruda ist ebenso radikal im Angriff und in der Verdammung wie im grenzenlosen Lob. Das Vokabular für seine Schmähreden und seine bösartigen Wortkarikaturen ist nur mit dem des spanischen Klassikers Quevedo zu vergleichen. Manchmal trifft Preislied und Schmähung die gleiche Person. Etwa Josef Stalin, den der Chilene in langen Hymnen gefeiert hatte und mit dem er erst recht spät (1964 im „Memorial“) abrechnete. Pablo Neruda wurde 1904 im südchilenischen Parral als Sohn eines Lokomotivführers geboren. Nerudas eigentlicher Name ist Neftali Reyes Basualto, sein Pseudonym nahm er von dem tschechischen Schriftsteller Jan Neruda. An Pablo Nerudas mit 16 Jahren begonnenem Gedichtband Crepusculario fielen der neue lyrische Ton auf, die kühne, bisher in Süd- und Mittelamerika unbekannte Benennung der Realität und neue, aus dem Bereich des Sexuellen kommende Metaphern. Das nächste Buch, Zwanzig Liebesgediche und ein Lied der Verzweiflung, ist bis heute das populärste Werk Nerudas geblieben. Mit ihm beginnt die Dichtung der Verzweiflung, des dauernden Todesbewußtseins, der Angst, der Häßlichkeit aller Dinge, die „einsame Poesie einer toten Welt“. „Aufenthalt auf Erden“ (1925-1935) ist das Meisterwerk des frühen Neruda. Es ist dunkle, hermetische Dichtung. Zentrales Thema bleibt die Verzweiflung dessen, der „mit dem gewaltsam und auf schreckliche Weise offengehaltenen Augenlid“ dem Sterben allen Seins beiwohnt. Alle Bewegungen des Lebendigen sind nichts weiter als Schritte auf den Tod zu, Metamorphose der Dinge ist permanentes Sterben. Die Metaphern bleiben dunkel, chaotisch nebeneinandergereiht. Freie Metren dominieren, die Syntax zerbricht feste Formen ohne Rücksicht auf grammatische Richtigkeit. Aufenthalt auf Erden ist ebenso wie Garcia Lorcas Dichter in New York – der andere Höhepunkt der spanischsprachigen Dichtung des Jahrhunderts reich an surrealistischen Elementen. Mit Garcia Lorca und den anderen großen spanischen Dichtern der Generation von 1927 war Neruda befreundet, als er als Diplomat in Madrid lebte. Der Aufenthalt in Madrid wurde zum großen Wendepunkt in Nerudas Werk: Der chilenische Dichter erlebte den Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs. Spanien im Herzen ist das Resultat des Bürgerkriegserlebnisses, ist Zeugnis und Empörung über sinnloses Leiden und Zerstörung, aber auch wütende Schmähung der rechten Generale. Für sie – Franco, Mola, Queipo de Llano – erfindet Neruda in langen Poemen die schrecklichsten und empfindlichsten Höllenqualen. Für Neruda beginnt nun die Zeit des entschiedenen Engagements. Vielleicht war das auch für den Dichter ein Akt der Selbstrettung. Die verzweifelte Ausweglosigkeit des „Aufenthaltes“ mit der Negation Gottes, des Menschen und der Natur mußte gradlinig zur Selbstvernichtung führen. Statt Verzweiflung finden sich nun Parteinahme und Gericht. Im letzten Jahr des Spanienkriegs schreibt Neruda, wieder in seine chilenische Heimat zurückgekehrt, die ersten Gedichte des Canto General, des großen Gesangs Iberoamerikas: einen Hymnus auf Fauna und Flora des Halbkontinents, historische Chronik und politische Anklage – eine auch noch in der künstlerischen Ungleichwertigkeit der einzelnen Teile faszinierende Mischung… Im Canto General akzeptiert Neruda nur den indianischen Anteil an Geschichte und Kultur Südamerikas: Von der Verdammung alles Europäischen nimmt er selbst die spanische Sprache nicht aus. Er belegt das Instrument seines Schaffens, die Sprache, deren wortgewaltigster Vertreter er heute ist, mit immer neuen Schmähungen. Nur kurze Zeit versucht Neruda die Doktrin des sozialistischen Realismus streng zu befolgen: Es entstanden dabei seine schwächsten Gedichte … In den Büchern der letzten Jahrzehnte findet sich glücklicherweise nichts mehr von der aufdringlichen Didaktik der stalinistischen Epoche. Es erscheinen wieder Ironie, pikaresker Humor, Satire, ja manchmal selbst ein Ton des Zweifels, obwohl der grundsätzliche Glaube an das politische Ideal geblieben ist. Viele der letzten Gedichte sind wieder Liebesgedichte. Die erotische Thematik ist vielleicht neben dem sprachlichen Virtuosentum das konstanteste Merkmal der Dichtung Nerudas. Literarisch ist Nerudas Werk der Weg vom spanischen Modernismus unter dem Einfluß Rubén Daríos über die „Poésie impure“ zur „Poésie engagée“ – ein Weg mit manchen Irrungen, der möglicherweise noch nicht zu Ende gegangen ist. Pablo Neruda hat viele Richtungen und Tendenzen der zeitgenössischen Literatur in seinem Werk assimiliert. Dabei ersetzt eine extreme Sensibilität meistens die kritische Reflexion. Neruda ist bereits ein Klassiker der spanischen Sprache und der hispanoamerikanischen Literatur. Er weiß diese Literatur in imposanter Selbststilisierung zu repräsentieren. Bis vor kurzem lebte er in seinem Haus auf der „Schwarzen Insel“ – Wallfahrtsort für Literaten – und seit kurzem als Botschafter in Paris. An Angriffen hat es auch in der letzten Zeit nicht gefehlt: Die jungen kubafreundlichen Schriftsteller Lateinamerikas haben öffentlich und vehement Nerudas politische Seitensprünge denunziert. An der Dichtung des Patriarchen wagt aber niemand zu zweifeln. Ohne Neruda hätte fast die gesamte zeitgenössische spanische und hispanoamerikanische Lyrik ein anderes Gesicht. In Deutschland ist ein beträchtlicher Teil des Werkes in der Übersetzung von Erich Arendt erschienen. Die Übersetzung ist ein Beispiel für strenge Treue dem Original gegenüber, wobei allerdings, obwohl Arendt selbst Lyriker ist, die poetische Qualität der deutschen Version beeinträchtigt wird. Die Zeit für die Übersetzung des Gesamtwerkes scheint jetzt wohl endlich gekommen.
Walter Haubrich, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.10.1971
„Ich bin ein Allesfresser von Gefühlen, Menschenwesen, Büchern, Ereignissen und Schlachten“, schrieb der vor 85 Jahren im chilenischen Temuco geborene Neftali Basoalto, der 1973 als Pablo Neruda starb. Leidenschaftlich lebensbegeistert, war Neruda das, was man eine unheroische Persönlichkeit nennt. Seine Anteilnahme an allem ließ ihn zu einem immer entschiedeneren Teilnehmer an den „Schlachten“ der Welt werden. Den spanischen Bürgerkrieg („Spanien im Herzen“), das Los der spanischen Emigranten, die Wahlkampagnen der KP Chiles und schließlich der Unidad Popular unter Führung Allendes machte er zu seinen Angelegenheiten. Als Senator der Republik, als Diplomat, als Mitglied internationaler Jurys (Leninfriedenspreis) war der Dichter Repräsentant der Öffentlichkeit. Weltbegegnung, Welterfahrung und Weltempfindung begleiteten und bestimmten das Leben des Privatmannes wie das des Poeten. Neruda politisierte die Poesie und poetisierte die Politik. Mit Recht sträubte er sich dagegen, ein Pamphletist genannt zu werden. Er war seinem ganzen Naturell nach ein Künstler. Wie kein anderer verhalf er der Dichtung in seinem Land, der chilenischen Dichtung zu nationaler Beachtung und internationaler Anerkennung.
„Der Dichter, der nicht realistisch ist, stirbt. Aber der Dichter, der nur realistisch ist, stirbt auch“, war die Gewißheit des Künstlers. Sie bewahrte ihn davor, in Sentimentalität zu verharren. Pablo Neruda formulierte Gefühle und Erfahrungen sehr exakt. Höchste Ansprüche stellte er an sich und an sein lyrisches Werk. So entschieden die Welt in der Dichtung Nerudas ist, so entschieden ist seine Dichtung eine Welt (Aufenthalt auf Erden). Den Urstoff, die Urstimmung für alle seine Verse empfing er, der Sohn eines Lokomotivführers, in seiner Heimat. Landschaft und Menschen Chiles haben ihn geformt und gestärkt, haben seinem Leben Sinn und Halt gegeben. Vielen Härten – materiellen Nöten und politischen Verfolgungen mußte er standhalten. Der Poet und Politiker Neruda hat immer auf seinen chilenischen Ursprung hingewiesen und so alle Interpreten widerlegt, die den Strom seiner Erinnerungen in anderen Weltregionen fließen sahen.
Pablo Neruda war ein Botschafter des geliebten Lebens, das er in der Welt, für die Welt popularisierte. Wie sein Leben war, wie es erhalten und wie es gekräftigt wurde, davon berichtete Neruda in seiner Selbstdarstellung Ich bekenne, ich habe gelebt. Das eigene Schicksal auszuleuchten, um andere Schicksale zu erhellen, war Nerudas Sinnen und Trachten. Die Dichtung Pablo Nerudas ist bezugsreich, weil sie konkrete Lebensgefühle in poetischen Bildern und Formen den Menschen aller Kontinente näherbringt.
Bernd Heimberger, Neue Zeit, 12.7.1989
Josef-Hermann Sauter: Herr Neruda, Sie traten in Chile in den zwanziger Jahren mit zwanzig Liebesgedichten in die literarische Öffentlichkeit. Diese Gedichte sollten gleichzeitig ein Beitrag zur Revolutionierung der südamerikanischen Dichtung sein, die damals von den Verfallserscheinungen der bürgerlichen Literatur stark betroffen war. Kann man diese Gedichte als eigentlichen Anfang Ihres literarischen Schaffens betrachten oder sollte man lieber sagen, daß der Beginn Ihrer Dichtung in den Zeitabschnitt fällt, da Sie in Spanien als chilenischer Konsul tätig waren, mit der spanischen Arbeiterklasse Verbindung bekamen und leidenschaftlichen Anteil am Freiheitskampf dieses Volkes nahmen?
Pablo Neruda: Es ist gar nicht so leicht, darauf zu antworten. Diese Frage kommt mir etwas überraschend. Ich muß nachdenken darüber, in Anbetracht der Tatsache, daß ein großer Teil meines Werkes schon vor dem spanischen Krieg publiziert war. Das Werk, das diesen zwanzig Gedichten voranging – es handelt sich noch um vieles andere –, ist bedeutungsvoll, und zwar bedeutungsvoll für mich selber als Schriftsteller, weil es die Grundlage für alles Spätere war. Ein Schriftsteller muß sich selbst suchen und finden, er muß Entdeckungen machen und macht sie auch. Diese Bedeutung hat für mich der frühe Teil meines Werkes. Der Kontakt mit den Volksmassen ist für einen Schriftsteller selbstverständlich von entscheidendem Einfluß, gleichsam eine Neugeburt. Dieser Kontakt bedeutet das Finden eines neuen Stils und gewissermaßen auch einer neuen Ästhetik. Dieses Zusammentreffen mit dem Volk bedeutet für mich eine ungeheure Bereicherung, nicht allein wegen der neuen Leser, die ich bekam, sondern es war die Bereicherung um eine ganz neue Welt, von der ich bis dahin nichts gewußt hatte. In meinem Fall geschah es, daß ich vor die Notwendigkeit gestellt wurde, meine Gedichte vor einer großen Volksmasse zu rezitieren. Das wirkte sehr stark auf den Stil meiner Arbeit zurück. Ein Schriftsteller, ein Lyriker, der allein für sich arbeitet, wird von gänzlich anderen Empfindungen bewegt. Aber in meinem Fall war es so, daß ich meine Gedichte manchmal vor 50.000, ja, vor 100.000 Menschen lesen mußte, und das beeinflußt natürlich den Stil.
Sauter: Sie gehörten zu den Verfolgten in Ihrem Lande, weil die Wirkung Ihrer Dichtung und Ihre aufrechte Haltung der herrschenden Klasse gefährlich wurden. Sie waren geächtet in Ihrer eigenen Heimat. Welche Möglichkeit fanden Sie nun, den innigen Kontakt mit Ihren Lesern und Ihren Hörern fortzuführen, und in welchem Maße war es Ihnen möglich, Ihre neuen Arbeiten zu publizieren?
Neruda: Ich war in dem Augenblick, als die Verfolgungen einsetzten, kein einsamer Mensch mehr, sondern ich hatte den Kontakt mit meiner Partei, mit den Gewerkschaften, mit großen Massen. Die Organisationen sorgten dafür, daß viele illegale Broschüren mit meinen Gedichten herauskamen, die auf diese Weise im ganzen Land verbreitet wurden. Mein Canto General erschien in einer illegalen Ausgabe in Chile, die unter ungeheuren Schwierigkeiten hergestellt wurde. Dieses Buch haben Arbeiter unter großen Gefahren gesetzt, gedruckt und gebunden. Diese illegale Ausgabe hat José Venturelli illustriert, den man ja auch bei Ihnen kennt. Es ist wahrscheinlich eines der umfangreichsten illegalen Bücher, die je unter solchen schwierigen Umständen herausgekommen sind.
Sauter: Herr Neruda, nicht nur Ihre Dichtung dokumentiert in jeder Zeile die enge Verbindung mit den Interessen und mit dem Kampf des Volkes. Sie haben doch auch starken Anteil am politischen und gesellschaftlichen Leben Ihres Landes.
Neruda: Ich habe einiges getan, obwohl ich gern viel mehr getan hätte. Ich bin nur ein kleiner Teil einer Bewegung, ein diszipliniertes Mitglied meiner Partei, und als solches habe ich gehandelt. Ich habe an dem heroischen Kampf meines Volkes teilgenommen. Man muß sich dabei vergegenwärtigen, wie unglaublich niedrig die Lebensverhältnisse des chilenischen Volkes und fast aller südamerikanischen Völker sind, die in schrecklichen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen leben, unterdrückt sind und von großen ausländischen Trusts ausgebeutet werden. Der Kampf dieser Völker richtet sich gegen die ausländischen Trusts und deren Bestrebungen. Es ist ein Kampf um Frieden und Freiheit; in diesem Kampf hat das chilenische Volk unter allen lateinamerikanischen Völkern vielleicht die größten Traditionen.
Sauter: Können Sie uns vielleicht einige Worte über Ihre künftige Arbeit sagen? Denn es ist ja zu hoffen, daß auch Ihre neuen Werke in unserer Republik veröffentlicht werden.
Neruda: Ich habe die Erfahrung gemacht: Je mehr ich versuche, darauf zu antworten, desto weniger tue ich, und je weniger ich davon spreche, desto mehr tue ich. Ich hoffe, auch weiterhin Gedichte zu schreiben, über meine Erfahrungen, über das, was ich erlebe und empfinde.
Ich werde mich bemühen, in meinen Gedichten vom Glück der Menschheit, vom Kampf des Menschen um das Glück, von Heldentum und Liebe, von Licht und Schatten zu schreiben.
Aufgenommen im Oktober 1957, aus: Josef-Hermann Sauter: Interviews mit Schriftstellern. Texte und Selbstaussagen, Gustav Kiepenheuer Verlag, 1986
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Pablo Neruda
LETZTER AUFENTHALT AUF ERDEN
(Für Pablo Neruda)
An seinen laubigen Zaun, in der Dunkelheit
Klammern sich Kraken, fallend aus Tanks
Auf seinen Treppen hocken, schwitzend vor Dummheit
Die geheimen Schaben der öffentlichen Ordnung
An den Telefonkabeln wie wuchernder Rotz.
Die Ohrmuscheln der Miliz, unter seinen Bäumen
Die Gewehre im Anschlag, warten Kadaver
Unsterblich in ihrer Schande, in spanischer Angst:
Aber in seinem umzingelten Zimmer der Dichter
Sagt, das ist sicher wie nie sein verbrennendes
Leben mehr, die tödliche Wahrheit.
Volker Braun
ERINNERUNG AN PABLO NERUDA
wolkenverhangen das flachland gibt nicht mehr
her wenn nicht das eine oder das andere oder
überhaupt. der pulvergestank dieser glattglanz
der stiefelwichse das grinsen unvermittelt
unter oberlippenbärtchen diese rückzüge in
schneckengehäuse, salz das so salzig schmeckt
gebirge die schroff im inneren wachsen oder
verteilt sind über die welt-alpen oder anden
egal – dieser da mit seinem stahlhelm und dem
krummen finger (alles abknalln was sich noch
regt!) der schöne wohlstand auf mattscheiben
irgendeine nachricht von leichen die ein fluß
ausspuckt irgendwo das geht weiter und bleibt
doch. und die herren offiziere mit dem
amerikanischen geld in ihren raschen: NIE ZU
VERGESSEN PABLO NERUDA DAS WOLLT ICH NUR
SAGEN. wo die kunst aufhört
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaabeginnt barbarei.
Dieter Kerschek
Jürgen P. Wallmann: „Ich werde niemanden exkommunizieren“
Die Tat, 21.9.1974
Uwe Berger: Seine Poesie ist Stimme des Volkes
Neues Deutschland, 12.7.1979
H. U.: Einheit von Poesie und Politik
Neue Zeit, 11.7.1979
Hans-Otto Dill: Seine Dichtung – leidenschaftlicher Hymnus auf den Kampf der Völker
Neues Deutschland, 12.7.1984
Volodia Teitelboim: Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1984
Margit Klingler-Clavijo: Ich bekenne, ich habe gelebt
Deutschlandfunk, 12.7.2004
Josef Oehrlein: Die drei Archen des Dichters
Cicero
Karin Ceballos Betancur: Das Kind und der Dichter
Die Zeit, 8.7.2004
Holmar Attila Mück: Krieger mit der Lyra
Deutschlandradio Berlin, 12.7.2004
Claudia Schülke: „Militanter Stalinist und kolossaler Dichter“: Pablo Neruda
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.2004
Leopold Federmeier: Der trunkene Durst des begeisterten Schleuderers
Neue Zürcher Zeitung, 12.7.2004
Sergio Villegas: Beerdigung unter Bewachung
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1978
Karl Bongardt: Seinen Atem durchwob die singende Liebe
Neue Zeit, 24.9.1983
Holger Teschke: Sänger des Regens und der Klassenkämpfe
junge Welt, 23.9.2023
Manfred Orlick: „Ich bekenne, ich habe gelebt!“
literaturkritik.de, 23.9.2023
Gerhard Dilger: Dichterfürst im Zwielicht
taz, 23.9.2023
Benjamin Loy: Schwieriges Schweigen
ORFSound, 20.9.2023
Pablo Neruda – Fragmente zu einem Portrait. Ein Film von Hans Emmerling, 1974
Pablo Neruda – Lesung und Interview des Literaturnobelpreisträgers 1971.
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