GESANG AUF DEUTSCHLANDS STRÖME
Auf dem Rhein in der Nacht, das Wasser führt einen
aaaaaMund mit
und der Mund eine Stimme und die Stimme eine
aaaaaTräne
und eine Träne rinnt den ganzen goldnen Rhein
aaaaahinab,
wo die Süße der Loreley nicht mehr lebt,
eine Träne durchtränkt die aschfarbenen Reben,
auf daß auch der Wein Geschmack von Tränen habe.
Auf dem Rhein in der Nacht, das Wasser führt eine Träne,
eine Stimme mit, einen Mund, der mit Salz ihn anfüllt.
Der ganze Frühling hat sich mit Weinen durchtränkt,
denn der Strom überzieht ihn mit salzigen Wurzeln;
und die Tränen klimmen langsam den Baum empor,
bis sie oben glänzen wie Blüten aus Eis:
vorbei geht die Mutter und gewahrt ihre Träne oben,
vorbei geht der Mann, und erblüht ist sein langes Schweigen:
und von seinem Martyrium her der Gefangene bemerkt,
was ihm der Frühling sagt aus den Lüften.
Die Elbe hat deine ganze kalte Erde durchflossen:
etwas möchte ihre vereiste Zunge dir sagen,
sie schweigt unter des Stadtrands Brücken
und spricht, allein, in den Feldern, ohne ihre Botschaft zu nennen,
umherirrend, wankend wie ein verlorenes Kind.
Die Oder aber hat weder Transparenz noch Gesang,
die Oder führt Blut mit, das weder singt noch glänzt,
heimliches Blut tragen ihre Fluten gen Norden,
und der Ozean erwartet tagtäglich ihr Blut:
der alte Strom zittert wie eine junge Arterie,
ergreift aus dem Martyrium sein Zeugnis und eilt,
daß unser Blut sich nicht in der Erde verliere.
Schon führen die Ströme kein Blütenblatt der Kälte mehr mit,
aber die blutige Rose der Henker
und den herrlichen Samen des Baumes von morgen:
seltsamer Baum, Kreuzung von Peitsche und Lorbeer.
Unter der Erde anwächst das Wasser der Rache,
und es legt die Früchte seiner Geburt der Sieg
auf die alten blauen Adern der Erde,
daß so am blutigen Wasser sich wasche
des Menschen Herz, wenn es wieder hervorkommt.
Freies Deutschland, wer sagt,
daß du nicht kämpfst? Deine Toten sprechen unter der Erde.
Deutschland, wer sagt, daß du nichts bist als Zorn
des Mörders? Und mit wem hat begonnen der Mörder?
Banden sie nicht eines Tags deine reinen Hände von Stein,
sie zu verbrennen? Zündete nicht der Henker
die erste Feuersbrunst an
auf deiner reinen Stirn aus Musik und Kühle?
Zerfetzten sie nicht das innerste Blütenblatt Europas,
voller Blut es reißend aus deinem roten Herzen?
Wer ist der Kämpfer, der sich erdreistet,
anzutasten die Geschlechterfolge deiner Schmerzen?
Brigaden
deutscher Brüder:
ihr durchdrangt das ganze Schweigen der Welt,
um eure breite Brust neben die unsere zu stellen,
eure Kerker waren wie nächtens ein Strom,
der Spanien eure heimlichen Stimmen trug entgegen,
denn dieses war das würdige Vaterland, das wir verteidigten
vor den hungrigen Wölfen, die euch die Seele zerfraßen.
Einsteins Stimme war eine Stimme der Ströme.
Heines Stimme sang wie das Wasser in uns.
Mendelssohns Stimme, der alten Berge
senkte sich herab, unsere trockenen Kehlen zu frischen.
Die Stimme Thälmanns wie ein verscharrter Strom,
sie schlug auf dem Kampfplatz des Menschen,
und eure Stimmen aus Kathedrale und Strombett all
hörte man von den hohen Felsen Europas
herniederfallen in einem ungeheuren Stromkatarakt.
Alle Ströme sprechen von dem, was du stürzt.
Taube Venen Bluts queren dein Gebiet
und die gefesselte Seele schüttelt sich in deiner Erde.
Freies Deutschland, Mutter dieses heimlichen Stromes,
der unterm Beil entspringt, der aus dem Kerker kommt,
und die Schritte belebt des unsichtbaren Soldaten:
in der Nacht, im Nebel hört man deine erstickte Stimme
wachsen, sich vereinigen, sich formen und strömen
und singen mit deiner bejahrten Stimme den alten Gesang.
Ein neuer Strom fließt tief und mächtig daher
von deinem gemarterten Herzen. Deutschland,
aus dem Unglück erheben sich seine Fluten.
Die heimliche Stimme wächst nahe den roten Grenzen,
und der versunkene Mensch steht auf und wandelt.
Wo ist des Dichters Aufenthalt? Nicht in den künstlichen Paradiesen, nicht in der Hölle. Nicht fern dem verlorenen Land. Aufenthalt auf Erden – der lapidare Titel des ungewöhnlichen Buches, das ein Markstein in der Dichtung unseres Jahrhunderts ist und das nun erstmals vollständig in deutscher Sprache erscheint, gibt schon in der Spannung, die er schafft, eine erste Antwort. Der Dichter des Dunklen und der Sänger des Spanien im Herzen wissen sich immer in der Erde verwurzelt, die keinem Gedanken an ein Jenseits mehr Raum läßt. Die Ära der göttlichen Offenbarung durch das Wort ist schon längst zu Ende, die metaphysische Schöpfungsidee hat Schiffbruch erlitten. Auf der Erde: Das Bild vom Dichter-Schwan in der Tradition Ovids, für den das Schöne, das Gute und das Wahre in einer Einheit zusammenfielen, macht mit Baudelaire dem Bild einer Schönheit des Bösen Platz, deren Voraussetzung die Melancholie ist.
Schlaff, undurchdringlich wie ein Schwan aus Filz,
der auf einem Wasser von Ursprung und Asche treibt,
lesen wir jetzt bei Neruda. Die Melancholie ist in höchste Angst umgeschlagen, ein „Meer aus Leben und Tod“ ist das Lebenselement des Dichters, bis er, mitgerissen vom Impuls einer revolutionären Geschichte aus Kampf und Blut und Solidarität „unter neuen Bannern“ seine „Wolfsschritte“ den Schritten der Menschen einte.
Folgen wir dem Weg, den der Dichter-Student durchschritten hat, der mit zwanzig Jahren bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht hatte und nach dem Erscheinen der Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung zum meistgelesenen und meistbewunderten Dichter Chiles wurde. Als Neruda aber die studentische Welt jugendlicher Melancholie und entfesselter Leidenschaften in „dieser Romanze der Stadt Santiago, mit ihren Straßen der Studenten, der Universität und dem Geißblattgeruch der schönen erwiderten Liebe“ wie „eine Haut“ abgestreift hatte, erfaßte ihn tiefe Abwehr und Verachtung gegen das bürgerliche Leben. Und es beginnt eine lange Reise über Abgründe der Angst und Beklemmung im Angesicht der Gewaltsamkeit des Todes, der Liebe und der Einsamkeit. Als Konsul ad honorem seines Landes verschlägt es ihn nach Rangun (1927), Colombo (1928) und bis nach Batavia (1930).
Mehr als zwanzig Jahre schrieb Neruda an seinem Aufenthalt auf Erden, in dem er sich ausdrücklich zu einer Diesseitigkeit bekennt und mit überströmender Sprachgewalt die Entdeckung der Welt unternimmt. Den ersten „Aufenthalt“ begann er 1925 in Chile und beendete ihn 1930 in Ceylon. Der zweite entstand in Chile, Argentinien und Spanien in den Jahren 1931 bis 1935. Beide zusammen erschienen 1935 in Madrid. Am „Dritten Aufenthalt“ arbeitete Neruda von 1936 bis 1945 in Spanien und in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern, er erschien 1947 in Buenos Aires.
Aus dem Fernen Osten nach Chile zurückgekehrt, wird Neruda Konsul in Buenos Aires, dann in Barcelona und Madrid (1935). Er kommt in das Spanien der Zweiten Republik, in dem bald die Kampfansage des internationalen Faschismus mit dem Volkskrieg beantwortet werden sollte. Die Freundschaft mit Federico García Lorca und Miguel Hernández lehrt ihn, daß die Modernität der spanischen Dichtung von der Beteiligung aller Volksschichten an ihrer Erneuerung lebt:
Die beiden großen Ströme der Dichtung sind die Tradition und die Revolution.
In dieser kulturellen Erneuerungsbewegung ergreift Neruda mit seinen beiden ersten „Aufenthalten“ und der Herausgabe der programmatischen Zeitschrift Grünes Pferd für die Dichtung Partei für eine „unreine Dichtung, wie ein mit Speisen befleckter Körper“. Der Spanische Bürgerkrieg erzwingt die Überprüfung alles zuvor Geschriebenen. Spanien im Herzen, stimmt Neruda jetzt seine „Hymne zum Ruhm des Volkes im Krieg“ an, dessen Teile während des Kampfes vervielfältigt und überall verbreitet wurden. 1937 erschien das Werk, direkt an der Front, vollständig in Buchform.
Immer dichtet ein Herz in der Welt des Aufenthalt auf Erden: „mit einem besonderen Herzen ausgestattet und unseligen Träumen“ im ersten, „staubbedeckte Träume… voller Hast und Unglück“ sprudeln aus dem „Herzen… gleich Quellen“ im zweiten und endlich „dieses neue Herz“, das „dich grüßt / mit seiner überströmenden Blüte, entschlossen und golden“. Nerudas Dichtung ist eruptive Lava, die sich noch nicht verkrustet hat, die skizzierten Bilder – zwei oder mehr auf einmal – bilden sich immer in einem gewaltsamen Ausbruch.
Im ersten Teil des ersten „Aufenthaltes“ fließt der poetische Bildstrom ununterbrochen, während „Dichtkunst“ und „Sonate und Zerstörungen“ – poetische Selbstauslegungen – in Wellengewaltsam aus ihm empordrängen und dann wieder in ihn zurückfließen. Das Gedicht ist „das befremdliche Zeugnis… mit grausamem, in Asche geschriebenem Erfolg“, der Name, den es den Dingen zu geben versucht. Im zweiten Teil folgen dann Gedichte in Prosa, die nicht nur die Negation des herkömmlichen Gedichts sind, sondern auch alle jene hinter sich lassen, die in den Spuren Baudelaires Prosagedichte verfaßten, wie man eben zuvor Sonette zu schreiben pflegte. Sie lösen, intensiviert und erweitert, von Bildern bevölkert, ohne Reim und Metrik auf, was es noch an geformten Gedichten bei Neruda gab. Nichts Paradoxes liegt darin, daß sie in Prosa sind, ihre Bilder sind stärker als einige der ihnen verwandten Gedichte, die zu Beginn des dritten Teils unmittelbar auf sie folgen und von einem syntaktischen Rhythmus getragen werden. Denken wir nur an „Liturgie meiner Beine“, zum Teil trifft das auch für „Der Tango des Witwers“ und „Einsamer Herr“ zu. „Das Gespenst des Frachtschiffes“ nimmt sich ganz die Zeit als eine Dimension zum Thema, in der alles zergeht und versinkt. Den ersten „Aufenthalt“ beschließen Bilder erotischen Verlangens und Bilder des Dichtens als Formen der Sehnsucht zu überdauern („Es besagt Schatten“).
Der zweite „Aufenthalt“ erreicht in seinen sechs Teilen eine größere thematische Einheit. Die dissonanten Erfahrungen der Zerstörung in der ständigen Berührung mit dem Nichts, die in der Nacht des ersten „Aufenthaltes“ wie Blitze aufgleißten, steigern sich jetzt zur Gewalt eines Zyklons. „Ein mit Gewalt grauenvoll offengehaltenes Lid“ erlebt die Zeit und das Leben als Tod:
Wie ein Schiffsuntergang sterben wir dem Innern zu.
Im zweiten Teil entsetzt sich der Dichter vor dem prosaischen und bürokratisierten Leben des Alltags:
Die Taube ist vollgestopft mit heruntergefallenen Zetteln,
ihre Brust von Radiergummis und Wochen befleck,
heißt es in „Entprotokollierung“. Der dritte Teil lebt erneut, vom Anekdotischen ausgehend, in der Sexualität („Ode mit einer Klage“, „Hochzeitliche Materie“), und der vierte singt die Materien der Natur in ihren verschiedenen Stadien: Holz, Sellerie, Wein. Der fünfte Teil steht unter dem Zeichen der entscheidenden Freundschaft mit García Lorca und gleichzeitig der Frage:
Wozu sind Gedichte gut?
In der Erinnerungselegie an Alberto Rojas Jiménez besingt sich der Dichter in den Zügen des toten Dichterfreundes selbst. Die Vision der Zeit, die nicht verstreicht, sondern sich anhäuft und dann in die unermeßliche Ewigkeit eingeht – „Die Uhr, die im Meer versank“ –, geht der Poetik des zweiten Aufenthaltes, „Es gibt kein Vergessen (Sonate)“ voran: „Wenn ihr mich fragt, woher ich komme, muß ich mit zerstörten Dingen reden“ – hier versucht der Dichter eine Bestandsaufnahme. Das Buch schließt mit „Josie Bliss“ ab, Bild einer Liebe, die, wenn auch vergangen, die Zeit überdauert.
Der dritte „Aufenthalt“ nimmt in seinem langen zweiten Teil, „Die Leidenschaften und die Qualen“ das erotische Erleben auf. Sexualität nicht des sündigen Körpers, der über die Begierde zu Trunkenheit und Exstase und dann in der Mystik zur göttlichen Liebe gelangt, Nerudas sexuelle Erfahrung lebt die Bereiche des Tabu, der Sprache, des Bewußtseins bis in ihre Grenzen aus. Die Sprache absorbiert die Sexualität, und in dem Wissen, daß Gott tot ist, wird sie Synonym der Rebellion, die in den beiden ersten „Aufenthalten“ aufbrach und in diesem Gedicht zur Herausforderung wird. Dem Gedicht voran stehen gleich zwei Versuche, den poetischen Standort zu bestimmen, offenbarer Ausdruck dafür, daß Neruda sich seines Schaffensumbruches wohl bewußt ist: „Walzer“ und „Brüssel“. Bis „Vereinigung unter neuen Bannern“ den dritten „Aufenthalt“ teilt und den Bogen zu „Spanien im Herzen“ – endgültige Neuorientierung der Dichtung Nerudas – schlägt:
Die Welt hat sich verändert und meine Dichtung hat sich verändert. Ein Tropfen Blut, auf diese Zeilen gefallen, wird auf ihnen fortleben, unauslöschlich wie die Liebe!
Nach diesem langen Poem aus Anklagen, Verfluchungen, Visionen in der Art der Höllenmeditationen und Gesängen, das Spanien im Herzen in seinem Prosatonfall darstellt, bricht sich das „Verlangen eines unermeßlichen Gesanges, eines Metalls, das Krieg und nacktes Blut aufgreift“, im folgenden fünften Teil Bahn.
Die chilenische Regierung hatte Neruda wegen seiner entschiedenen Parteiergreifung für die spanische Republik seines Konsularpostens enthoben, und so fuhr er im Namen der republikanischen Regierung Spaniens nach Paris, gründete die Zeitschrift Alle Dichter der Welt verteidigen das spanische Volk, und mit César Vallejo das lateinamerikanische Komitee der Solidarität mit Spanien. Im Oktober 1937 kehrte er nach Chile zurück und gab dort sein Spanien im Herzen heraus, das 1938 dann auch von den republikanischen Soldaten an der Kampffront von Barcelona gedruckt und verbreitet wurde. Nach dem Sieg der chilenischen Volksfront ernannte ihn die neue Regierung zum Konsul für die spanische Emigration. Neruda organisierte die Überfahrt Hunderter republikanischer Flüchtlinge nach Chile. Spanien im Herzen war bereits in mehrere Sprachen übersetzt und hatte Neruda über die Grenzen Chiles und Spaniens hinaus bekannt gemacht. 1940 ging er, wieder als Konsul seines Landes, nach Mexiko. Die Kämpfe der Völker in Europa führten ihn zurück auf seinen Kontinent. „Der Gesang für Bolivar“ entstand in der gleichen Zeit, in der er an den ersten Gedichten des Großen Gesangs zu arbeiten begann. „Das Herz, das Ausschau hält“, folgte wachsam den neuen Schauplätzen des Widerstandskampfes gegen den Faschismus. In den Straßen Mexikos klebten überall Plakate mit dem „Gesang auf Stalingrad“ an Häuserwänden und Mauern. Nach einer Reise durch mehrere lateinamerikanische Länder kehrte Neruda 1943 nach Chile zurück, wo er im März 1945 Senator der Republik wurde. Im Juli 1945 trat er der Kommunistischen Partei Chiles bei und setzte damit gleichsam seine Unterschrift unter die letzten Zeilen des Zyklus Aufenthalt auf Erden.
In den ersten beiden „Aufenthalten“ siedelt das Herz in seinen Erfahrungen, Gefühlsausbrüchen und Intuitionen, jenseits des direkten sprachlichen Austauschs von Mitteilungen, das Gedicht nahe den Schauplätzen des Unbewußten und des Traumes an. Die Realität des Gedichts, die die erlebte Wirklichkeit gesplittert und verfremdet hat, besitzt Traumcharakter, und zwar bis zu einem Grad, daß einige Gedichte – „Nächtliche Sammlung“ und „Pferd der Träume“ – den Traum selbst oder zumindest die Spannung aufnehmen, in die er das Leben bringt. Die Sprache verfährt in konkreten Bildern, Aneinanderreihungen und Aufzählungen von Elementen, die nicht formal verkettet sind und ebenso übergangslos das Sprungbrett für Assoziationen bilden können. Oder aber das Bild behauptet sich, seinen eigenen Gesetzen folgend, als eigenständige Realität. Gedichte wie „Krankheiten in meinem Hause“ („Das Meer bemüht sich, jahrelang einen Vogelfuß zu treffen“) und „Der Süden des Ozeans“ („Ihre Augen sind bereits gestorben an totem Wasser und Tauben“) sind so gebaut, daß ihre Bilder den analogen Bezug zur Wirklichkeit ausgespart haben. Darum sind Bilder wie „ein Weltmeer, das den Schatten eines zerbrochenen Pfeiles peitscht“ oder „Wale auf der Suche nach Smaragden“ und „Revolver aus Schuppen“, die durch die „Augen der Zeit“ ziehen, wörtlich und in jedem Sinne des Wortes zu nehmen, und nicht allegorisch zu deuten. Nerudas Gedichte haben mit den Träumen gemein, daß in den einen wie in den anderen die Verschiebung und Verdichtung eines latenten Traumgedankens durch die Traumarbeit in Verwendung bestimmter Darstellungsmittel geleistet wird.
Eben mit dieser Traumarbeit lassen sich unmittelbar Verfahren vergleichen wie diese: Nichtmaterielles wird konkretisiert, und Allgemeines wird zum Besonderen. In der „Sonate und Zerstörungen“ sind die überkommene Schwermut und die Traurigkeit der Dinge „des Vaters Gebeine, des toten Schiffes Holz.“ Meist werden diese Vorgänge durch den Rückgriff auf Materien, Lebewesen und Substanzen erreicht. Salz, Wolle, Schwefel, Fische, Steine, Namen, Ameisen, Mohn wollen hier nicht den Schlüssel für eine genaue Entsprechung in der Wirklichkeit liefern. Die Poetik des zweiten „Aufenthaltes“, „Es gibt kein Vergessen (Sonate)“, erklärt, daß die Materie der Dichtung nicht Leben in Erinnerung und Vergessen ist, „nicht die vergilbte Taube“. Die äußerste Lebensfülle des Alberto Rojas Jiménez versinnbildlicht Neruda, indem er ihn „bekleidet mit Bienen“. Salz kann sowohl das Wesen und die Substanz der Dinge sein, „die im Salz meines Daseins entspringt“, als auch die Säure, die alles zersetzt, einschließlich des Blutes selbst:
Trockene Salze, luftgleiches Blut.
Diese metaphorischen und metonymischen Vorgänge – die so sehr dem Traum eigen sind – weiten sich oft im traumgewaltigen Impuls, alle Grenzen sprengend, zur Dimension des Tellurischen, Kosmischen, Maßlosen. Die Bilder der einzig dauernden Realität Zeit und des Meeres als räumlicher Dimension der Zeit brechen auch den chaotischsten Ordnungsversuch auf. Andere bildliche Vorgänge übertragen einen Gefühlszustand in die Dinge, oder setzen umgekehrt die Eigenschaften der Dinge als das Ding selbst, konkretisieren die absolute Einsamkeit in den das Ich umgebenden Materien und Substanzen. „Einsam zwischen zerfallenen Materien“ fühlt das Ich, „mich umgibt eine einzige Sache, ein und dieselbe Bewegung“. Besonders zahlreich im zweiten „Aufenthalt“ werden heterogene losgelöste Dinge aufgehäuft, Gliedmaßen gevierteilt als Sinnbild von Auflösung und Zerfall, der alle anorganische und organische Materie unterliegt, sehen wir nur die Gedichte „Es gibt kein Vergessen (Sonate)“ und „Der Süden des Ozeans“ oder „Verfall der Straße“. „Der Ausgegrabene“ hingegen, Vision der Wiederauferstehung, und „Ein Tag ragt hervor“, Beginn des Tags, der die Erschaffung der Welt in einer Gleichsetzung von Licht und Ton nachvollzieht, fügen die Glieder in der Wiederbelebung zusammen.
Nerudas Gedichte bilden ganz aus dem Gefühl und der Gewalt seiner Bilder eine Einheit. Schon die Titel zeigen diese Einheit an, womit sie eine orientierende Funktion erhalten. Gibt es im ersten „Aufenthalt“ noch Gedichte, die zum Teil traditionelle Form haben, setzt sich dann der freie Vers durch – zum erstenmal in spanischer Sprache –, der von einem neuen gefühlsbetonten Rhythmus getragen wird. Jeder Vers ist ein Bild und erreicht in seiner Monotonie und seiner Spannung, der stets erneuerten Überraschung durch den Wechsel des Versmaßes seine besondere rhythmische Absicht. Sichtbar auch in den Fällen, wo das Bild nicht mit dem Versende zusammenfällt und wir die Macht der Verwandlung eines Bildes in ein anderes verfolgen können. Variationen eines Bildes wiederholen sich in Kombinationen, die einen unterschiedlichen Rhythmus tragen oder ihre Zusammensetzung verändern, deren Klang verschieden ist, deren emotioneller Wert sich aber nähert. Das trifft besonders auf den zweiten „Aufenthalt“ zu. Diese Variationen, in freier Syntax, treiben die poetische Spannung bis zum Äußersten. Ein besonders augenfälliges Beispiel dafür ist die „Barkarole“. Poetische Möglichkeiten der Syntaxbrechung öffnen sich, die in der Dichtung spanischer Sprache einzig noch César Vallejo nutzte. Die gewaltsame Auflösung oder Verschiebung der syntaktischen Bindungen setzt die Wörter frei: das hervorgebrachte Bild verdichtet nach eigenen Gesetzen die Vorstellung. Und aus diesem Grunde kann auch den Bildstrom plötzlich eine Reflexion, ein kritisches überdenken aufhalten: „Gut denn“ in „Toter Galopp“, und ein „aber das ist es nicht“ in „Die Uhr, die im Meer versank“. Das Ergebnis dieser Verfahren ist niemals ein strenges poetisches Ordnungsgefüge, denn „vom Fluß, der in seinem Dauern sich zerstört“ muß der Dichter reden, er hat zu tun mit allem, was in der „Mühle der Formen“ zu Staub wird. Die Formen erscheinen so nur in ihrer Einmaligkeit, sie sind unverwechselbar, nicht wiederholbar, offen.
Die ersten beiden „Aufenthalte“ seien dunkel, schlußfolgerte sogleich die bürgerliche Kritik und warf ihnen vor, unlesbar zu sein. Kaum war der dritte „Aufenthalt“ erschienen, erhob die gleiche Kritik diese Dunkelheit zu ihrem höchsten Wert, um so die „Modernität“ der ersten beiden Bücher gegen das dritte auszuspielen. Doch ist Nerudas Dunkelheit keineswegs eine sich selbst genügende negative Kategorie. Baudelaire ließ das Prinzip der Nachahmung der großen Werke der Vergangenheit als auch der Natur und damit gleichfalls die vertraute lyrische Erfahrung hinter sich, indem er ein imaginäres Reich der Schönheit schuf, in das er das damals Unpoetische selbst – das Häßliche und das Böse – aufnahm. Der Ausgangspunkt aus der erlebten Wirklichkeit hüllt sich in geheimnisvolles Dunkel, und in dieser Verdunklung entzündet sich mit der Schockwirkung der Funke des Schönen als das Neue. Dieses dichterische Vorgehen ist kein Schritt von dem nicht unmittelbar Verständlichen zur Klarheit, wie es in der „Dunkelheit“ Góngoras der Fall war, Baudelaire will, von der formalen Evidenz des Gedichts ausgehend, den Leser, an den er sich wendet – „Mein Leser, Heuchler du – mein Bruder – meinesgleichen!“ –, zwingen, den Sprung von der Unmittelbarkeit und Klarheit zur Dunkelheit und damit den poetischen Vorgang im Gedicht in seiner neuen Schönheit mitzuvollziehen. Baudelaire suchte sich durch die Schaffung einer dunklen und nicht konsumierbaren Dichtung den Gesetzen des Marktes zu entziehen, doch ist in diesem „Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, so Walter Benjamin, „das Neue, welches die Erfahrung des Immergleichen, in dessen Bann der Spleen den Dichter geschlagen hat, sprengt, nichts anderes als die Aureole der Ware“. Nerudas Fall liegt vollkommen anders. Die thematische und formale Grenzöffnung, die aus den veränderten historischen Verhältnissen der literarischen Produktion und Rezeption hervorging, erlaubt jede nur mögliche poetische Verbindung. Das den ersten „Aufenthalt“ einleitende Gedicht „Toter Galopp“ – die erste Hürde, die der Leser zu nehmen hat beginnt mit einem WIE, Zeichen der Metapher, unveränderliche Achse, um die das ganze Gedicht in dem ausgesparten Vergleich (Das Leben ist) WIE… kreist. Es verweist das Gedicht ganz auf die bildliche Seite des Vergleichs, wo sich erst auf die offene Frage nach dem Geheimnis des Lebens – „dieses Hervorschwirren von Tauben… zwischen Nacht und Zeit“ – das Chaos von Gewalten und Materien ohne Namen und Formen und unbeweglich in aller Bewegung ganz intuitiv in metonymische Bilder ordnet. Erst aus der Perspektive des Gedichtendes begreift der Leser das WIE als Zeichen des Lebens und der Macht der poetischen Sprache. Diese Dichtung in statu nascendi verlangt vom Leser, sich an die Stelle des Ichs zu setzen und von dort Schritt um Schritt, Wort um Wort das Hervorströmen der Bilder nachzuvollziehen. So enthüllt sich ihm die Dunkelheit in ihrer Funktion, nämlich sowohl die Aussage als auch den Bezugspunkt in der Realität zu verfremden, ohne daß es aber genügen würde, sie wie bei Baudelaire als poetisches Verfahren bloßzustellen. Die Dunkelheit Nerudas erschöpft sich nicht in herkömmlichen ästhetischen Kategorien, sondern ist Ergebnis einer tiefen moralischen Revolte. Sie ist Protest gegen die hier herrschende bürgerliche Form, die Welt zu leben und zu sehen, und eine Herausforderung – darin Rimbaud vergleichbar –, „das Leben zu ändern.“ Der Überraschungseffekt und die Schockwirkung der Bilder richtet sich gegen die gewohnheitsbedingten, aufgezwungenen Lebensformen, die sich als das „Menschliche“ ausgeben, vor denen aber die Spiegel „weinen müssen vor Scham und Entsetzen“. Mit dem Ineinanderspielen verschiedener Sinnesebenen eröffnen die neuen Aspekte, die das Bild aufblitzen läßt, neue Möglichkeiten der Wahrnehmung und Ordnung der Dinge. Die Dunkelheit der ersten beiden „Aufenthalte“ ist Teil eines Prinzips der Suggestion, das Verständnis des Gedichts vollzieht sich nicht auf der Ebene des Begreifens, sondern vermittelt sich durch die Aufnahme von Bildern, die dem Leser das Zuendeführen des Gedichts übertragen.
Mit Spanien im Herzen folgt die Aufnahme des Gedichts durch den Leser anderen Wegen. Beschaffenheit und Aufgabe des Gedichts ändern sich, es wendet sich an einen veränderten Leser. Die dichterische Spannung, „Spanien zermalmter Stein“, „bekämpfte zärtliche Liebe“ wechselt oft in den Tonfall der Prosa über:
Ich will dir jetzt alles sagen, was mir geschieht.
Hier bedeuten, bezeichnen und werten die Bilder die Realität, auf die sie unmittelbaren Bezug nehmen, indem sie einem thematischen Faden folgen. Die Untertitel dieses langen Poems suchen den Verlauf der einzelnen Stationen zu markieren. In seinem klaren und zugleich immer unverwechselbaren Ton weitet sich Nerudas Dichtung, die den Beziehungen unter den Menschen eine neue Ordnung schaffen will, zum „Gesang von dem, was geschieht, und dem, was sein wird“. Selbst der Tod, der das Leben bedrohte, ist besiegt, denn im Kampfsterben, bedeutet, im täglichen Kampf der Menschen weiterleben:
Denn nun haben Menschen keinen Tod mehr.
Eine neue Funktion hat der Dichter zu erfüllen:
Der Dichter ist kein ,kleiner Gott‘. Weder hat er das himmlische Feuer an sich gerissen, noch entstammt er einer besonderen, zwitterhaften oder bösen Rasse. Der Dichter ist der fleißige Arbeiter seines Handwerks.
Carlos Rincón, Januar 1972, Nachwort
(Aus dem Spanischen übersetzt von Gerda Schattenberg)
Residencia en la tierra, das frühe Meisterwerk des Stalin– und Nobelpreisträgers Pablo Neruda, liegt zum ersten Male vollständig in deutscher Sprache vor, in einer Ausgabe, die Reclam Leipzig und der Claassen Verlag Düsseldorf gemeinsam herausgebracht haben. Es zeigt sich, was alles möglich ist, wenn die feindlichen Brüder einmal friedlich zusammenwirken: ein bibliophil „mit allem proletarischen Pomp“ ausgestatteter grossformatiger Band, in einer eigens dafür geschaffenen Schrift, der Leipziger Antiqua, gedruckt, mit 18 Farbholzschnitten von Griesbaber und einem ausführlichen Nachwort von Rincon.
„Residencia“ meint hier Wohnen, Leben, nicht Ankunft von irgendwoher und Abreise irgendwohin. En la tierra – „auf Erden“ nimmt nochmals sprachlich das liturgische Erbe auf, von dem auch Nerudas Werk nicht frei ist. Was ist mit „tierra“ – „auf der Erde“ gemeint? Nichts anderes als das Wort sagt: solo la tierra, nur die Erde, kein jenseitiges Leben davor oder dahinter. Konkret ist tierra für den Dichter erst einmal seine chilenische Heimat: die erbarmungslose Härte und Rauheit der Kordilleren, das Salz des Meeres und die Dürre der Salpeterwüste, das tödliche Grün der Urwälder, ihre Feuchte und Fäulnis, die gewaltigen Regengüsse, die aufs Wellblech trommeln, das Dahinvegetieren der entrechteten Indios in ihren Lehmhütten; die abgrundtiefe Melancholie dieses Landes, die zum beherrschenden Wesenszug Nerudas wird. Zweitens meint „tierra“ auch die Länder, die sein Fuss als Abgesandter seiner Heimat oder als Verfolgter und Flüchtender betrat. Der 1904 als Sohn eines Lokführers und einer Dorfschullehrerin in Parral geborene Ricardo E. Neftali Reyes legte sich mit 16 Jahren aus Verehrung für den tschechischen Nationaldichter Jan Neruda das Pseudonym zu, unter dem er Weltruhm erlangte. Im diplomatischen Dienst waren Rangoon, Colombo, Ceylon, Batavia, Singapur, Barcelona, Madrid, Paris die Stationen seiner Tätigkeit.
Mehr als zwanzig Jahre schrieb er an den Gesängen der Residencia. 1925 wurde der erste Teil in Chile begonnen, 1930 in Ceylon beendet, 1931–35 entstand in Chile, Argentinien, Spanien der zweite Teil. Beide erschienen zusammen 1935 in Madrid. 1936–45 arbeitete er am dritten Teil, der 1947 in Buenos Aires erschien. Was er in diesen Jahren mit Haut und Haar erlebte und erlitt, hat seinen fast autobiographischen Niederschlag in den Rhythmen seiner Gedichte gefunden; und zwar zuerst die durch ausweglose Melancholie bestimmte Jugendphase des egozentrischen Literaten, in deren Ruhelosigkeit er später „das Krankheitssymptom eines im Kapitalismus verstrickten Arbeitersohnes“ sehen wird. Zweitens die durch die Erschiessung Lorcas bewirkte Wandlung zum homme engagé, der „seine Wolfsschritte… unter neuen Bannern… den Schritten der Menschen vereinte“ und für den verlorenen Gott einen neuen Glauben gefunden zu haben meint, der den Tod überwindet.
Das immer wieder variierende Hauptthema der ersten beiden Gesänge ist die Verzweiflung des Dichters, dessen „mit Gewalt grässlich aufgerissenes Augenlid“ erfährt, dass alles Sein ein Sein zum Tode und jeder Schritt des Lebendigen nichts als ein Schritt auf den Tod zu ist:
Wie ein Schiffsuntergang sterben wir dem Innern zu.
Abscheu „vor so viel Tod“ erfüllt ihn, „lasst uns den Tod der Erde beweinen“, klagt er, und „Sucede que me canso de ser hombre“ – „Müde bin ich ein Mensch zu sein… überdrüssig meiner Füsse und Nägel,… meines Haares und meines Schattens…“ Der junge Neruda, dem der Tod ohne Sinn und damit das Leben sinnlos erscheint, erlebt aus unmittelbarer Nähe den spanischen Volkskrieg. Die Ermordung seines Freundes García Lorca durch die Guardia Civil am 19. April 1936 lässt ihn Partei ergreifen und für sein Leben einen neuen Sinn finden. Die im Kampf für die Freiheit fallen, weiss er nun, „widersprechen dem Tod“, durch ihr Opfer „wurde wiedergeboren der verlorene Glaube“. „Nun haben Menschen keinen Tod mehr“, ist das Leitmotiv der Verse des dritten Gesanges, der, mit der Hymne „Spanien im Herzen“ beginnend, bis zur Verherrlichung der Kämpfer von Stalingrad und Berlin reicht.
Vergisst Neruda auch im Glück des neu gefundenen Grundes, dass unser aller Sein zum Tode nicht aufhört und nur durch den Herrn der Geschichte ein Sein zum Leben werden kann, so scheinen die Holzschnitte tiefer zu sehen, die das grosse Sterben als Sintflut, paraphrasieren, an deren Ausgang die Taube mit dem Oelzweig im Schnabel auf den geglätteten Wassern schwimmt. Auf einem der Blätter leuchtet das Auge dessen, durch den, vor dem und für den wir, jeden Augenblick neu, sind.
Der umrissenen inneren Entwicklung des Dichters entsprechend, stellen die Teile I und II der Residencia en la tierra dunkle, hermetische Dichtung eruptiven Charakters dar, die, schwer mit dem Stoff der Welt beladen, einen Realismus erzeugt, wie ihn die spanische Literatur in solcher Radikalität noch nicht kannte. Formal von der Ode über freie Rhythmen bis zum Prosagedicht sich spannend, wandeln sich die Gesänge im III. Teil zu klarer, verständlicher Diktion von grosser Sprachgewalt. Die Vitalität, mit der Neruda seine Schöpfungs- und Untergangsprozesse vor Augen führt, lässt die meisten unserer europäischen Surrealisten als blasse literarische Tröpfler erscheinen. Für ihn ist die Welt der Künstler eine grosse Werkstatt:
Wir wissen heute, dass es keinen Rubén Darío ohne Góngora, keinen Apollinaire ohne Lamartine gibt und keinen Pablo Neruda ohne sie alle zusammen.
Er weiss sich in eine grosse Tradition gebunden, die ohne die Verbindung mit dem Indioerbe und den Gitarrenrhythmen der Romanceros nicht zu denken ist.
Erst 1945 trat Neruda der KP Chiles bei. Sein Kommunismus, aus dem er nie ein Hehl gemacht hat, ist sehr unkonventionell, unideologisch, latein-amerikanisch, mehr emotional im Sinne des Inka-Sozialismus als Marxens zu verstehen. Der Stalinpreisträger war gleichzeitig einer der ersten Antistalinisten. 1957 sagte er in Prag:
Ich bin ein Gegner jeder Art von Dogmatismus.
Ihm geht es um soziale Gerechtigkeit in der Welt, vor allem für seine unterdrückten Landsleute, die Indios, deren Blut auch in seinen Adern rollt.
Erich Arendt übersetzte den Hauptanteil, Stephan Hermlin zehn der Gedichte des vorliegenden Bandes neu, „Almeria“ wurde von beiden gemeinsam erarbeitet. Die deutsche Fassung hält sich eng an den Text der Originalsprache, so dass sie in weiten Bereichen mehr Uebersetzung als Uebertragung ist. Gerne sähe man die wirklich dichterische Aequivalente für Wendungen wie „Das Haus des Tyrannen hat heute eine ernsthafte Anwesenheit“ (S. 199), „so viele gelbe Erstreckungen“ (S. 110), „zwischen ausgedienten Materien“ (S. 14), „Apfelgebreite“. Gewiss ist die saubere Handwerksarbeit der neuen Uebersetzer der Glätte oder Ungenauigkeit anderer Nerudaübertragungen vorzuziehen. Doch fallen Eigenwilligkeiten in der grammatikalischen Behandlung der Sprache auf, Plurale wie „Harne“ oder „Artillerien“ = Batterien) oder die nicht reflektive Verwendung des Verbs „sich entsinnen“. „Mitrailleusen und Tanks“ sind Mgs und „Tanks“. Hält man den spanischen Text neben die deutsche Uebersetzung, wird die Einbusse an Sonorität, bedingt durch den Vokalreichtum und die grössere Straffheit des Spanischen, schmerzlich spürbar. Der Zauberklang dieser spanischen Verse, ihre herbe Grandezza, die Mühelosigkeit der Wortkaskaden und das Feuerwerk der „imagen péz“, der „gefischten“ Bilder, scheinen letztlich unübersetzbar.
Neruda, der Partylöwe, der kosmopolitischste und reiselustigste aller Dichter des Jahrhunderts, das Flaggschiff seiner Partei für große politische Ziele, der Diplomat in Paris, der Kommunist, der in den Vereinigten Staaten an einem Kongress des PEN-Clubs teilnahm, um „seine Auslandsschulden bei Walt Whitman neu zu verhandeln“, der strahlende Gewinner des Nobelpreises für Literatur im Jahr 1971, siecht dahin und stirbt 1973 in vollkommener Weltabgeschiedenheit in dem von einer grausamen Diktatur gegeißelten Chile.
Die Schnecke hat ihre letzte Windung erreicht. Etwa zehn Jahre nach dem Staatsstreich – ich war lange nicht in meiner Heimat gewesen – überkam mich bei der Erinnerung an mein glückliches Chile, mein bescheidenes verlorenes Paradies, wo ein weltbekannter Dichter mit einem etwas aufdringlichen Grünschnabel hätte scherzen und seine Verse teilen können – auch wenn Letzterem womöglich mehr an Mädchen als an lyrischen Sprachbildern gelegen gewesen war –, der drängende Wunsch, meine Angst vor den unlösbaren Problemen Chiles zu bezähmen, indem ich mich auf das Wesentliche besann, auf das, wofür ich mein Land so beharrlich liebte, und so erklärte ich die Heimkehr zu meinem Lebensziel.
Ich musste meine Verehrung für diese schlichte Vollkommenheit in Romanform bringen. Wenn mein hartnäckiges Bestreben, in die Tiefen dieses Universums vorzudringen, fruchten sollte, blieb mir nichts anderes übrig, als den großen, alles umfassenden Roman zu schreiben, im Stil der lateinamerikanischen Gigantomachien jener Zeit. Eine Schwarte à la Rayuela von Julio Cortázar, Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez oder Explosion in der Kathedrale von Alejo Carpentier. Ich musste mich auf die Mythen und Nichtigkeiten Chiles einlassen.
In Steve Allens Fernsehshow hörte ich Jack Kerouac einmal sagen, er habe Unterwegs in zwei Wochen auf eine dieser endlosen Papierrollen geschrieben, wie sie die Post für Fernschreiben verwendete. Na gut, ich würde für mein Mammutwerk ein Jahr benötigen, wenn ich pausenlos arbeitete, auf Kino und Lektüre verzichtete, nicht mit Mädchen flirtete und Pferderennen sowie jegliche andere Aktivität mied, die mich von meinem narrativen Punchingball entfernen könnte.
Ich hatte Rückenwind, mehrere Filme, zu denen ich die Drehbücher geschrieben hatte, gewannen Preise in Europa, auch einige meiner Radiobeiträge wurden ausgezeichnet, und somit war mein Auskommen und das meiner Familie für ein Jahr gesichert. Ich, Jury und alleiniger Mäzen in Personalunion, würde mir selbst ein Stipendium gewähren, um DEN ROMAN zu schreiben, der übrigens bei Adam und Eva anfangen und mit dem Militärputsch enden sollte.
Ich teilte meinen Freunden mit, ich ginge in Klausur und würde mich erst in einem Jahr, wenn ich ins öffentliche Leben zurückkehrte, wieder melden. Ich weiß noch, wie einer von ihnen, Baron von Vietinghoff, ausrief:
Das wird ja ein Riesenschinken!
Das Hirngespinst nahm allmählich Form an, und obwohl ich mich noch in der Kolonialzeit befand, linste überall Neruda hervor. In jeder Szene sah ich seine schalkhaft funkelnden Augen unter den schweren Lidern. Ich hatte das totale Buch in Arbeit: klug und wortgewaltig, bombastisch und engagiert, feierlich und dokumentiert, tragisch und rhetorisch. Genau das, was ich wollte.
Da besuchte mich eines Abends ein deutscher Fernsehproduzent, der an den Verfilmungen meiner Drehbücher recht gut verdient hatte. Beim Essen eröffnete er mir, er sei nicht nur als Freund, sondern auch mit einem geschäftlichen Anliegen gekommen. Er wollte, dass ich ihm ein neues Drehbuch schrieb, um die Erfolgsserie fortzusetzen.
Unmöglich, lieber Freund. Dieses Jahr gehört meinem Roman. Ich lebe von einem selbst finanzierten Stipendium und will weder für das Radio noch für das Fernsehen, noch für Zeitungen schreiben. Nicht einmal Flugblätter, um Pinochets unmittelbar bevorstehenden Sturz anzukündigen, damit die Deutschen ein paar Mark mehr für den chilenischen Widerstand lockermachen. Ich habe schon fast fünfhundert Seiten des TOTALEN Chile-Romans.
Natürlich wollte der Produzent wissen, worum es sich handelte, natürlich hatte ich ausgerechnet an diesem Tag eine Szene mit dem Dichter und dem Briefträger von Isla Negra geschrieben – zweien der über hundert Protagonisten meiner Saga –, und natürlich fand der Produzent, die Geschichte des Postboten gäbe doch einen hervorragenden Filmstoff her („Meinst du nicht auch?“). Ich protestierte energisch, doch während der chilenische Wein meinen Widerstand zersetzte, verlieh er meinem Freund Engelszungen, sodass unversehens ein Drehbuchvertrag und ein Scheck auf meinem Tisch lagen und ich noch am selben Abend meine Ehre als Romanautor verlor.
Tags darauf unterbrach ich die Geschichte auf Seite 475 und begann mit der Arbeit an einem Drehbuch unter dem Titel Mit brennender Geduld. In einem Roman darf man sich Abschweifungen erlauben, für eine Filmstory muss man sich kurz fassen. Zwei Monate später war das Drehbuch fertig, und ich beeilte mich, den zweiten Teil meiner monströsen Hyperbel in Angriff zu nehmen, als der Produzent anrief und berichtete, das Drehbuch sei bei seiner Redaktion sehr gut angekommen. Dann sagte er, er habe eine gute und eine schlechte Nachricht für mich.
Mit der, die er für die gute hielt, fing er an: Das Drehbuch habe so begeisterte Zustimmung gefunden, dass die Mittel, das Projekt noch in diesem Jahr zu realisieren, bereits bewilligt seien, und in Anbetracht der, so wörtlich, „kuriosen Mischung aus Poesie, Humor und Politik“, von der meine Geschichte durchzogen sei, schlügen seine Redakteure vor, dass ich die Regie selbst übernehmen sollte, denn das bekäme kein deutscher Regisseur jemals so hin.
Meine erstickte Stimme mag er durchs Telefon gerade noch wahrgenommen haben, nicht jedoch mein jähes Erbleichen. Ich rang um Fassung und sagte, ich sei kein Filmregisseur, ich hätte noch nie einen Film gedreht, ich wüsste nicht einmal, was eine Kamera ist, und als ich in meiner Jugend Bühnenstücke inszenierte, hätte ich mich immer in die Schauspielerinnen verliebt, und diese theatralischen Affären seien jedes Mal sehr unglücklich ausgegangen.
Kein normaler aufrechter deutscher Kant-Adept hätte diesen Argumenten etwas entgegenzusetzen gehabt, doch an ihm prallten sie ab. Meine Unbedarftheit werde dem Film „Frische“ verleihen. Und dann rückte er mit der schlechten Nachricht heraus: Das Produktionsbudget sei äußerst niedrig, etwa ein Zehntel dessen, was ein Film normalerweise kostete. Dafür, fuhr er fort, würde ich eine großartige neue Erfahrung machen, außerdem könne ich auf Chilenisch drehen, mit chilenischen Schauspielern und Musikern. Nur in Chile dürfe ich nicht drehen, weil die Versicherung wegen der Militärdiktatur dort nicht für die Produktionskosten hafte.
Meine Tollkühnheit kannte keine Grenzen. Wenn man bedachte, dass in Chile jährlich höchstens ein Film produziert wurde, konnte meine Geschichte über Pablo Neruda und den Postboten die Bilanz der armseligen nationalen Filmindustrie um hundert Prozent steigern, und selbst wenn ich nur ein stümperhaftes Amateurwerk zustande brachte, fände meine Hommage an Pablo Neruda, die Symbolfigur des Kampfes gegen die Diktatur, trotzdem international Verbreitung.
Aber bevor ich einwilligte, erkundigte ich mich noch, was passieren würde, falls ich versagte.
„Ganz einfach“, sagte er, „die Summe ist so gering, dass es niemand merken würde. Und wenn wir Glück haben und dank der guten Geschichte doch etwas daraus wird, ernten wir für eine Handvoll Pesos obendrein Lorbeeren.“
Und dann setzte er noch aufmunternd hinzu:
Nur Mut, Antonio, schließlich sind schon einige deiner Drehbücher von deutschen Regisseuren massakriert worden. Warum massakrierst du dieses nicht selbst, wenn wir dir schon die Chance dazu geben?
Auf so einfühlsame Weise motiviert, machte ich mich auf die Suche nach einem Schauspieler für die Rolle Pablo Nerudas. Zuerst dachte ich an Héctor Alterio, seine Sanftheit, Leinwandpräsenz, Begabung und Kreativität. Dabei stellte sich allerdings die Frage seiner Gage, die höchstwahrscheinlich das Filmbudget gesprengt hätte. Doch selbst wenn er umsonst mitgemacht hätte (ich habe ihn einmal sagen hören, für diese Rolle wäre er zu Ausnahmekonditionen bereit gewesen), erhoben sich in meinem chilenischen Freundeskreis spontan Einwände gegen ihn: Neruda könnte nicht von einem Argentinier gespielt werden und auch von keinem Spanier, Franzosen oder Italiener. Neruda war Chilene. Mehr noch, er war das Chilenische schlechthin. Mir fiel das Graffito von Isla Negra wieder ein:
Neruda no es chileno, Chile es nerudiano.
Und eines Nachts träumte ich sehr angenehm von meiner Schule, dem Instituto Nacional de Santiago, als aus den diffusen Traumbildern mit fast greifbarer Deutlichkeit mein ehemaliger Englischlehrer hervortrat. Er war so groß wie Neruda, hatte die gleichen Augen, die gleiche Nase, sprach und bewegte sich ebenso gemächlich; außerdem sang er im Chor, spielte Theater, wo er Figuren der spanischen Klassiker verkörperte, rezitierte mit Inbrunst die Verse des Dichters von Isla Negra, war mit diesem persönlich befreundet und zu allem Überfluss in derselben Partei aktiv.
Wie ich erfuhr, hatte er sich gegen das Exil entschieden und sich dem chilenischen Widerstand gegen Pinochet angeschlossen. Eine großmütige, aber gefährliche Wahl. Demokratische Schauspieler hatten von Terrorkommandos des Generals mit der Sonnenbrille immer wieder Morddrohungen erhalten. Die Lage hatte sich so zugespitzt, dass der populäre Superman-Darsteller Christopher Reeve im Namen progressiver Hollywoodkünstler nach Chile reiste, um dem dortigen US-Botschafter die Besorgnis der großen internationalen Stars mitzuteilen. Eine Volkszeitung titelte daraufhin:
Superman kommt, um uns zu retten.
Der Englischlehrer hieß Roberta Parada. Aus den bereits erwähnten Gründen war er eigentlich die Idealbesetzung für Neruda. Vor allem, weil er ihm so ähnlich sah. Im Film gibt es eine Passage, in der ich eine dokumentarische Aufnahme nachstellen lasse. Es ist Nerudas Rede in Stockholm, mit der er sich für den Nobelpreis bedankt. Obwohl die Zuschauer schon seit einer Stunde den fiktiven Neruda vor sich gehabt hatten, würden sie den schwarz-weißen Neruda nun für den echten halten, dabei handelte es sich nach wie vor um Roberto Parada, nur im Frack. In vielen deutschen Kritiken würde von der „verblüffenden“ Ähnlichkeit der beiden die Rede sein.
Würde Don Roberto Chile verlassen, um in Portugal diesen Film zu drehen, auch auf die Gefahr hin, dass man ihm die Rückkehr verweigerte?
Selbstverständlich. Für ihn war es eine unermessliche Ehre, den geliebten Genossen darstellen zu dürfen. Er sah überhaupt kein Problem, ich dagegen hatte durchaus noch eines.
Parada gehörte zu einem Typ Schauspieler, der für das Kino denkbar ungeeignet war, denn er besaß eine mächtige Stimme und sprach alle seine Rollen mit einem dröhnenden Opernbass, der bis in die letzte Reihe der obersten Ränge schallte. Er war ein Darsteller des Monumentalen. Ein massiger Mann mit weit ausholenden Gesten und einer derben Vitalität, die sich nicht mit Nuancen aufhielt. Auf unseren Partys hatten wir diesen Virtuosen der Übertreibung früher oft nachgeäfft. Niemand konnte so dick auftragen wie er.
Nun hatte ich aber nicht vor, eine Oper für die Carnegie Hall zu inszenieren, sondern einen bescheidenen, stillen, zurückhaltenden, intimen, fast heimeligen Film in einem winzigen, liebenswerten portugiesischen Dörfchen in der Nähe von Figueira da Foz.
Beim ersten Wortwechsel mit dem Briefträger am Strand rutschte mir das Herz in die Hose. Don Roberto unterhielt sich nicht mit seinem Gegenüber, sondern brüllte seinen Text hinaus zu jenem fernen Horizont, der die Lusitanier im 16. Jahrhundert bewogen hatte, als große Seefahrer die Weltmeere zu erkunden. Seine polternde Stimme übertönte die Wellen, die sich tosend am Riff brachen, und der eigentlich ironische, minimalistische Dialog klang nach einer martialischen Tschaikowsky-Ouvertüre.
Wir arbeiteten mit schnurlosen Mikrofonen, und unablässig bat ich ihn, so höflich und inständig wie vergebens, er möge sein Organ mäßigen und auf Filmvolumen drosseln. Wenn ich mich dann umdrehte und das Zeichen für die nächste Klappe gab, schlich die erste Textzeile noch auf Samtpfoten heran, doch schon bei der zweiten kam wieder der ganze Brustkorb zum Einsatz. Also wiederholte ich ein ums andere Mal meine Anweisungen, womit ich ihn zunehmend verunsicherte.
Und in einem solchen Moment ereignete sich mit einem Mal das Wunder. Ich hatte mich abgewandt und entfernte mich, die Kopfhörer schon über den Ohren, als ich hörte, wie er dem Postboten in vertraulichem Tonfall gestand:
Ich mache das hundsmiserabel, Cuervito. Dem Regisseur gefalle ich nicht, und ich fürchte, ich tauge nicht fürs Kino.
Ton, Gestik, Satzmelodie und Lautstärke waren perfekt. Diese unfreiwillig belauschte Bemerkung war ein Geschenk des Himmels. Ich lief zurück zu Parada und stülpte ihm die Kopfhörer über. Als er sich sprechen hörte, stieg ihm das Blut ins Gesicht: Man hatte ihn dabei ertappt, wie er sich indirekt über den Regisseur beklagte.
„Don Roberto“, sagte ich und küsste ihn auf die schamroten Wangen, „das ist es, das ist genau der Ton, den Sie den ganzen Film über anschlagen müssen.“
Er hörte es sich noch einmal an, zügelte seine Stimme mit Stahlseilen und sagte in urchilenischem Slang: „Caché, maestrito – hab’s kapiert. Fürs Kino muss man aus Elefanten Schmetterlinge machen.“
Nach Abschluss der Dreharbeiten und der überwältigenden Erfahrung, meine Romangestalten von echten Menschen aus Fleisch und Blut verkörpert zu sehen – unter ihnen viele Exilchilenen, die an dem Film mitgearbeitet haben –, kehrte ich nach Berlin zurück und stellte fest, dass mein früherer eitler Wunsch, eine überbordende, alles umspannende, totale und globale Entelechie zu schaffen, beim Teufel war. Unter dem Eindruck, die Fiktion bereits als Realität erlebt zu haben, nahm ich mir das Manuskript wieder vor und strich rigoros alle Rhetorik und jeden Pomp heraus. Übrig bleiben sollte nur der Nerv der Geschichte: die Beziehung zwischen Pablo Neruda und seinem getreuen Postboten.
Als der Roman erschien, war er kaum einhundertvierzig Seiten lang, und im Vorwort erlaubte ich mir darüber sogar einen Scherz. Ich konnte damals nicht ahnen, dass das Buch gut zehn Jahre später in fünfundzwanzig Sprachen übersetzt sein würde.
Meine Kinoversion von Mit brennender Geduld hatte alle Fehler einer Anfängerarbeit, aber sie hatte auch die vom Produzenten prophezeite Frische oder vielleicht Arglosigkeit eines Films, der sich nicht mit der Suche nach kinematografischen Ausdrucksformen aufhält, sondern blind der Geschichte vertraut, die er zu erzählen hat, und sich im Übrigen auf die Sensibilität und den Charme seiner Akteure verlässt.
Im Jahr seiner Premiere erhielt mein Film auf Festivals im spanischen Huelva und im französischen Biarritz die höchsten Auszeichnungen sowie den Prix Georges Sadoul als bester ausländischer, in Paris uraufgeführter Film des Jahres. Ich fühlte mich als Schoßkind des Glücks und schwelgte in meinem Erfolg. Noch konnte ich nicht ahnen, was mich erwartete, als Michael Radford meinen Roman Jahre später unter dem Titel Il postino (Der Postmann) zum zweiten Mal verfilmte.
Häufig fragen mich Journalisten nach dem Hauptunterschied zwischen meinem Film Mit brennender Geduld und dem Postmann, der in Italien entstandenen Version des englischen Regisseurs.
Meine Standardantwort darauf:
Mein Film ist die Arbeit eines Schriftstellers, der einen Film macht; der von Radford ist die Arbeit eines Filmregisseurs, der weiß, was er tut.
Am liebsten würde ich das Kapitel mit diesen lieblichen Tönen ausklingen lassen. Doch bin ich meiner Leserschaft noch den Epilog zu Roberta Paradas Geschichte schuldig, so schlimm er auch sein mag.
Zurück in Chile, nimmt mein voluminöser, hochverehrter Schauspieler seine Arbeit wieder auf, im Theater und im Widerstand.
Seine ganze wackere Familie, Ehefrau, Tochter und Söhne, beteiligt sich tatkräftig am Kampf um die Wiederherstellung der Demokratie in Chile. Sorgenvoll beobachtet die Regierung Pinochets die zunehmende Schlagkraft der Angriffe auf ihre Macht. Robertas Sohn José Manuel Parada arbeitet im Vikariat Solidaridad, einer kirchlichen Einrichtung, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen unterstützt und hilft, die Verantwortlichen für Morde, Vergewaltigungen, Entführungen und Folter zu identifizieren. José Manuel kommt mit seinen Ermittlungen gut voran.
Eines Morgens greift die brutalste Militärbrigade des Diktators zu einer grausamen Repressalie: Drei Aktivisten werden fast gleichzeitig verhaftet, mit unbekanntem Ziel verschleppt und bleiben, einem wüsten Brauch folgend, verschwunden. Im Haus Roberta Paradas herrschen Angst und Schrecken. Doch gibt es viele Zeugen für die Entführung, und so besteht Hoffnung, dass man seinem Sohn nichts antun und er lebend wieder auftauchen würde.
Don Roberta, mein Neruda, tritt in jenem Monat allabendlich im Theater ICTUS auf, wo er in der Bühnenfassung eines Werkes von Mario Benedetti mit dem Titel Frühling im Schatten spielt.
Am Ende des ersten Aktes erreicht ihn eines Abends die Nachricht: Die Leiche seines Sohnes ist mit durchschnittener Kehle in einer unbewohnten Gegend gefunden worden.
Der Schauspieler kann sich kaum auf den Beinen halten. Die Theaterleitung beschließt, die Vorstellung abzubrechen. Don Roberta widersetzt sich. Er tritt vor das Publikum und sagt:
Sie haben meinen schönen Sohn umgebracht.
Zeugen zufolge, die Pablo Neruda in seiner Agonie begleiteten, hatte der Dichter kurz vor seinem Tod eine letzte Vision und rief mit weit aufgerissenen Augen:
Sie erschießen sie alle!
Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Pablo Neruda
Ugné Karvelis: Ein Tag auf der Isla Negra, Sinn und Form, Heft 5, 1974
NERUDA
Ich blätterte wieder
In den Erinnerungen Pablo Nerudas
Und sagte mir:
Was die damals alles geglaubt haben!
Sie wußten ja schließlich,
Daß Franco, Musollini und Hitler
Unmenschen waren.
Und Stalin? –
In einem italienischen Ristorante
Am Rande der Straße,
Das menschenleer war,
Trank ich einen Kaffee.
Der Padron empfing ein junges Mädchen.
Er ging mit ihr durch die Tür.
Kurze Zeit später hörte ich über mir,
Wie er sie vögelte.
Die Decke bebte.
Mein Gott, dachte ich mir, hört denn das nie auf!
Neruda, den großen Ficker,
Sah ich mit Mathilde,
Einer morgenländischen Schönheit,
Vor vielen Jahren in Weimar.
Meine Phantasien
Umspielten das ungleiche Paar.
Jetzt, wo älter bin als damals Neruda,
Frage ich mich:
Hört denn das nie auf?
Heinz Czechowski
Jürgen P. Wallmann: „Ich werde niemanden exkommunizieren“
Die Tat, 21.9.1974
Uwe Berger: Seine Poesie ist Stimme des Volkes
Neues Deutschland, 12.7.1979
H. U.: Einheit von Poesie und Politik
Neue Zeit, 11.7.1979
Hans-Otto Dill: Seine Dichtung – leidenschaftlicher Hymnus auf den Kampf der Völker
Neues Deutschland, 12.7.1984
Volodia Teitelboim: Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1984
Margit Klingler-Clavijo: Ich bekenne, ich habe gelebt
Deutschlandfunk, 12.7.2004
Josef Oehrlein: Die drei Archen des Dichters
Cicero
Karin Ceballos Betancur: Das Kind und der Dichter
Die Zeit, 8.7.2004
Holmar Attila Mück: Krieger mit der Lyra
Deutschlandradio Berlin, 12.7.2004
Claudia Schülke: „Militanter Stalinist und kolossaler Dichter“: Pablo Neruda
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.2004
Leopold Federmeier: Der trunkene Durst des begeisterten Schleuderers
Neue Zürcher Zeitung, 12.7.2004
Sergio Villegas: Beerdigung unter Bewachung
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1978
Karl Bongardt: Seinen Atem durchwob die singende Liebe
Neue Zeit, 24.9.1983
Holger Teschke: Sänger des Regens und der Klassenkämpfe
junge Welt, 23.9.2023
Manfred Orlick: „Ich bekenne, ich habe gelebt!“
literaturkritik.de, 23.9.2023
Gerhard Dilger: Dichterfürst im Zwielicht
taz, 23.9.2023
Benjamin Loy: Schwieriges Schweigen
ORFSound, 20.9.2023
Pablo Neruda – Fragmente zu einem Portrait. Ein Film von Hans Emmerling, 1974
Pablo Neruda – Lesung und Interview des Literaturnobelpreisträgers 1971.
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