DER STERNENMACHER
Ich bestücke mit Sternen,
was fehlt am Nachthimmel,
und tu’s so hartnäckig,
daß meine schlichten Gestirne
zusehends – denn ich flog täglich –
Schönheit entfalteten
und Sterne, die ich gefertigt,
aussahen wie nicht gemacht:
Alles nahm sich besser aus
auf dem Himmelspflaster.
Als kleiner Junge lernte ich,
durch Flaschenscherben zu gucken,
zu verstecken im Dunkel
des Gymnasiumskellers
die Glasstückchen, auf die sich
damals mein Drang hin
zum Weltraum warf.
Krumme Nägel häufte ich,
leerstehende Hufeisen,
reihte alles dort auf,
ordnete geduldig es ein,
stachelte schlau es an,
bildete es energisch aus,
bis ich glücklich das Schillern
des Glases, das Toben
der Metalle darin weckte.
Meines zarten Alters wegen
den berühmtesten Forschern ebenbürtig
und ein Hexenmeister sondergleichen,
gelang es mir, den Schatz
in meinem Kellergeschoß zu heben,
und ausgerüstet mit ererbten,
unergründlichen Arbeitsgeräten,
baute ich zuerst einen Lichtstrahl,
dann einen Schwarm Leuchtkäfer.
Am mühsamsten war der Komet.
Ein Stern mit loderndem Schweif,
eine Braut des Himmels,
gestrandet im All,
ein Element der Natur,
verschleiert und schimmernd,
das wie ein silbriger Fisch aus China
auf der Bühne des Aldebarán
und des Saturn gastiert,
schien schwer herzustellen,
zuletzt aber schoß, aus Schnee und aus Flaschen,
angetrieben von seinem eigenen Funkeln,
doch ein geschweiftes, hochzeitliches, duftiges
Gestirn aus meinen Händen empor.
Nach mehreren glanzvollen Anläufen
feuerte ich noch einen Meteor ab,
zu dem ich die Reste in meinem
heimatlichen Keller verarbeitet.
Und der Meteor torkelte ins All,
hier einen Schlenker, da einen Schlenker,
beschlagen mit allen geheimen Nägeln
aus meinem gutsortierten Eisenwarenlager.
Die Gestirne krachten und splitterten
unter dem Schlag meiner Finger,
unter meinem himmlischen Knall,
und die Nacht erzitterte, als der
Sturzbach auf sie niederging.
Tja, Herrschaften, so vertrieb ich mir die Zeit,
als ich noch zur Schule ging und ein Kind war.
Übersetzt von Monika López
Zeit seines Lebens hat Pablo Neruda Vers auf Vers, Gedicht auf Gedicht, Buch auf Buch gehäuft. Seine Produktivität ist in der Gegenwartslyrik ohne Beispiel. Die Nerudaforschung gliedert das gewaltige Werk des Chilenen zeitlich in drei Abschnitte. Die erste, an der Poésie pure orientierte Phase, reicht etwa bis 1935, als Neruda in seiner Zeitschrift Caballo Verde para la Poesía das dichterische Manifest „Über eine Poésie impure“ („Sobre una poesía sin pureza“) veröffentlicht. Die zweite Periode seines Schaffens ist durch das dichterische und persönliche Engagement im Kampf gegen den Faschismus und für den Sozialismus charakterisiert. Die dritte Phase – geprägt von philosophischer und autobiographischer Reflexion – beginnt mit der schweren Krise, in die Neruda nach den Enthüllungen des 20. Parteitags der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Jahre 1956 gerät.
Die drei Bände unserer Edition des Lyrischen Werkes entsprechen und folgen jener Einteilung. Band 3 enthält fünf der siebzehn, auf Estravagario (Extravaganzenbrevier) folgenden Gedichtbücher des späten Werkes und das gesamte postume lyrische Werk. Wir haben Seefahrt und Rückkehr (1959), Memorial von Isla Negra (1964), Die Hände des Tages (1968), Weltende (1969) und Noch (1969) ausgewählt, weil diese Zyklen am deutlichsten zeigen, wie sehr Reflexion und Selbstreflexion Nerudas Spätwerk bestimmen. Gewiß, er schreibt auch weiterhin Liebesgedichte – Hundert Liebessonette (1960), La barcarola (1967) – und politische Kampfschriften – Heldenepos (1960), Anstiftung zum Mord an Nixen und Lob der chilenischen Revolution (1973) –, doch diese Genres, die seine erste beziehungsweise seine zweite Schaffensperiode dominiert haben, stehen nun nicht mehr im Mittelpunkt seines poetischen Interesses. Liebe und Freundschaft sind für Neruda auch im Herbst seines Lebens die stärksten Stützen: Sein Vertrauen und seine Zuneigung zu Matilde Urrutia sind grenzenlos. Und er bleibt unvermindert politisch aktiv: Er führt Wahlkämpfe, ist 1969 Präsidentschaftskandidat der chilenischen Kommunisten, tritt 1970 zugunsten von Salvador Allende von dieser Kandidatur zurück und dient seinem Land von 1971 bis 1973 als Botschafter in Paris. Doch in seiner Dichtung verschiebt sich die Bedeutung, die Liebe und Politik einnehmen: Statt Triebfeder und Ziel sind nun auch sie Gegenstand der Reflexion.
Wie in Band 1 und Band 2, werden in Band 3 des Lyrischen Werkes alle Zyklen vollständig wiedergegeben. Die deutsche Fassung von Memorial de Isla Negra stammt von Erich Arendt. Sie ist 1976 im Verlag Volk und Welt (Berlin, DDR) erschienen, in der Deutschen Demokratischen Republik längst vergriffen und wird hier zum ersten Mal in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht. „Seefahrt und Rückkehr“, „Die Hände des Tages“, „Weltende“, „Noch“, „Die abgeschnittene Rose“ und „Buch der Fragen“ hat Monika López für diese Edition übertragen, ebenso wie den überwiegenden Teil der Zyklen „Garten im Winter“, „2000“, „Das gelbe Herz“, „Elegie“, „Das Meer und die Glocken“ und „Ausgewählte Mängel“; die restlichen Gedichte werden in der Übersetzung von Fritz Vogelgsang geboten.
Pablo Nerudas einzigartige Schaffenskraft erklärt sich in erster Linie aus einem überreichen poetischen Talent. Hinzu kommt die rigorose Disziplin, mit der er sein Leben organisiert. Die tägliche Arbeit am dichterischen Werk ist Sinn und Mittelpunkt seines Daseins, ist die Quelle, aus der er Kraft schöpft für seine anderen Aktivitäten. Homero Arce, Privatsekretär und Freund, beschreibt den Tageslauf des sechzigjährigen Dichters:
Neruda steht morgens gegen 9 Uhr auf, immer sehr gut gelaunt. Noch im Bett liest er Zeitungen und ausführlich die Post, trinkt eine Tasse Tee, ißt etwas Toast oder Kekse, raucht eine Pfeife und hört Nachrichten. Das heißt, er ist seit etwa 7 Uhr morgens wach und aktiv. Bevor er das Schlafzimmer verläßt, sucht er ein Buch, seinen Schreibstift, seine Brille und seine Mütze zusammen und tritt aus dem Haus. Ist er in Isla Negra, geht er auf den Felsvorsprung, wo bis vor kurzem eine große Schiffsfigur stand, und dort betrachtet er eine ganze Weile die Umgebung, die Bewegung des Meeres, den Flug der Vögel. Dann richtet er seine Aufmerksamkeit auf die Pflanzen, auf die wilden Blumen und die Kakteen, deren wissenschaftliche Namen er ausnahmslos weiß. Ist jemand bei ihm, so unterhält er ihn mit seinen Überlegungen und Beobachtungen und spricht von Erinnerungen oder Erfahrungen, die ihm dabei in den Sinn kommen. Mit einem Mal packt ihn die Lust sich zurückzuziehen, um an seinen Gedichten zu arbeiten. Ist das Wetter schön, schreibt er im Freien. Er setzt sich auf einen Baumstumpf, vor einen klobigen Tisch, die er beide selbst so angeordnet hat. Bei Wind oder Regen arbeitet er in seiner ,Taverne‘, einem Raum mit großen Fenstern. Dort sitzt er – allein und konzentriert – und füllt mit unermüdlicher Hand, ohne zu stocken, Seite auf Seite eines Heftes. Aber auch jemandes Anwesenheit stört nicht den Rhythmus seiner Arbeit, die unbeirrbar fortschreitet, und selbst das Gespräch geht weiter, wenn auch mit Pausen. Nach etwa zwei Stunden – dies ist mehr oder minder die Zeit, die der Dichter täglich auf seine Arbeit verwendet – hat er bis zu zehn große Seiten mit seiner gezogenen und eigenwilligen Handschrift gefüllt, vielfach ohne jede Korrektur.
Um 12 Uhr mittags macht Neruda eine Pause. Jetzt kommen Besuche, mit denen er gelöst und freundschaftlich plaudert. Jedermann kennt die Eigenart seiner Konversation, seine Herzlichkeit, seinen Humor, der niemals verletzt, seine Güte und seine Entschiedenheit.
Das Mittagessen zieht sich gewöhnlich bis gegen 3 Uhr hin, danach ruht er. Um 5 Uhr beginnt er wieder zu arbeiten. Er begibt sich in sein Arbeitszimmer, doch nicht, um seine Gedichte durchzusehen oder um weiter zu schreiben, sondern, um Briefe zu beantworten. Der Sekretär setzt sich an die Schreibmaschine. Doch zuerst möchte der Dichter noch ein paar Schritte tun und nachdenken. Er geht aus dem Haus, kommt wieder, diktiert ein, zwei, drei Briefe. Schon ist es 6 Uhr. Es bleibt keine Zeit für weitere Briefe. Wieder kommen Besuche, manche angekündigt, andere unerwartet. Der Sekretär macht sich daran, die in der Frühe verfaßten Gedichte mit der Maschine abzuschreiben. Er tippt ein Original, das der Dichter durchsieht und korrigiert; die verbesserten Fassungen werden sechsfach geschrieben; aus ihnen wird das neue Buch; und die sechs Kopien wünschen sich die Verlage.
Dazwischen plaudert der Dichter mit seinen Freunden oder seinen Besuchern, und nach einigen Aperitifs wird zu Abend gegessen. Wenn er dann alleine ist, bittet er um eine Tasse Tee und setzt sich im Wohnzimmer in seinen Sessel, um zu lesen. Da liegen die gerade eingetroffenen Bücher, auf französisch, englisch oder spanisch; Bücher, die ihm irgendwelche Schriftsteller geschickt haben, geschichtliche Bücher, Kriminalromane – er liest sie wahllos, in allen drei Sprachen, während der Rauch seiner Pfeife aufsteigt.
Um Mitternacht zieht er sich in sein Schlafzimmer zurück. Und im Bett setzt er manches Mal die Lektüre noch eine oder zwei Stunden fort, wenn ein Buch seine Aufmerksamkeit erregt hat.
So läßt sich, in groben Zügen, ein Arbeitstag von Pablo Neruda in Isla Negra zusammenfassen.
Neruda braucht diese abwechslungsreiche Regelmäßigkeit des täglichen Lebens, wenn er zu Hause ist in Chile, als Gegengewicht zu den vielen Reisen, die ihn Jahr für Jahr, oft Wochen und Monate lang, in die Ferne führen: Reisen in Südamerika, in die Vereinigten Staaten, nach Ostasien, in die Sowjetunion, ins westliche, östliche, südliche und nördliche Europa. Dieser pendelnde Lebensrhythmus findet sich in den Büchern wieder, die er nach den Ereignissen von 1956 publiziert. Die erste Reaktion Nerudas auf die Entstalinisierung (und auf die dadurch bedingte Revision der eigenen politischen Vergangenheit) ist das verwirrt fragende Extravaganzenbrevier (August 1958). Als er im November 1959 Seefahrt und Rückkehr veröffentlicht, hat sich der Ton der Gedichte wieder gefestigt, doch die Sicherheit der Oden (1954 bis 1957) oder gar der Optimismus von Die Trauben und der Wind (1954) sind gänzlich verschwunden. Neruda hat Seefahrt und Rückkehr nach einer fünfmonatigen Reise durch Venezuela beendet. Er wurde dort begeistert empfangen und enthusiastisch gefeiert. Das hat er genossen. Deshalb schließt der Zyklus mit zwei Dankesgedichten an Venezuela: Er habe sich dort wie zu Hause in Chile gefühlt und Lateinamerika von seiner besten Seite erfahren. Diese Spannung zwischen angenehmen Aufenthalten in der Fremde und in der Heimat durchzieht Seefahrt und Rückkehr. Und wie der Titel es ankündigt, werden die Reisen zu Schiff gemacht. Neruda haßte es zu fliegen und liebte lange, ruhige Schiffsreisen, auf denen er meditieren und schreiben konnte, den Blick aufs Meer gerichtet, wie zu Hause in Isla Negra.
Neruda verbindet die vielfältigen Themen des Buches durch die Schiffahrtsmetaphorik: Das Leben der Menschen ist wie eine Reise mit dem Schiff hin zu hellen, freundlichen Gestaden, aber auch durch schreckliche Gefahren, die mit Schiffbruch und Untergang drohen. Die erste Verse des Gedichts „Das Schiff“ lauten so:
Unsere Fahrkarten haben wir doch auf dieser Welt schon bezahlt!
Warum, warum dürfen wir uns dann nicht setzen und essen?
Wir möchten nur den Wolken nachschauen,
möchten Sonne trinken, Salz riechen,
wir wollen wirklich niemanden stören,
es ist ganz einfach, Fahrgäste sind wir.
Alle sind wir auf der Durchfahrt und mit uns die Zeit:
Das Meer zieht vorbei, die Rose nimmt Abschied,
die Erde fährt hin durch Schatten und Licht,
und ihr und wir, alles Fahrgäste, wir fahren dahin.
Was ist also in euch gefahren?
Warum seid ihr so zornig?
Wem stellt ihr nach mit dem Revolver?
Dieser Neigung zur Allegorie steht in anderen Gedichten ein realistischer, deskriptiver Stil entgegen. Neruda knüpft, wenn er das Bett, den Tisch, den Stuhl, den Teller besingt, an die Sachgedichte aus dem Alltagsleben an, die einen Großteil der Elementaren Oden ausmachen. Und er nennt auch die meisten Poeme aus Seefahrt und Rückkehr Oden. Allerdings zeigen die Dinge jetzt weniger ihre strahlende, sondern mehr ihre dunkle Seite, sie sind häufig wertlose Fundstücke, Strandgüter aus Havarien, funktionslos gewordene Gegenstände. Die Einheit der Welt, die in den Elementaren Oden durch jedes Teil symbolisiert wurde, ist hier auseinandergebrochen in heterogene Fragmente, die zufällig daliegen, irgendwo an verlassenen Stränden.
Das Dichten, das früher ein lustvolles Tun war, ist jetzt eine Pflicht, zu deren Erfüllung sich der Dichter im Prolog und im Epilog animiert. Er hat aus der vollkommenen Verwirrung des Extravaganzenbreviers wieder herausgefunden. Es gibt Orientierungspunkte: Lenin, das politische Leitbild (nach der Enttäuschung über Stalin), Louis Aragon, den brüderlichen Dichter (der sich gleichfalls aufmacht, die Fesseln des sozialistischen Realismus abzustreifen), Ramón Gómez de la Serna, den betagten Erfinder geistreicher Metaphernspiele (die er Greguerías nannte). Und es gibt den festen Boden von Chile. Mit Seefahrt und Rückkehr hat Pablo Neruda wieder zu einem, wenn auch prekären Gleichgewicht zurückgefunden. Der Glaube an die objektiven Wahrheiten ist verloren, doch es bleibt die Hoffnung auf die Menschen guten Willens.
Pablo Neruda stellt auch niemals seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Chiles in Frage, zu deren führenden Persönlichkeiten er bis zu seinem Lebensende zählen wird. So ist es nicht verwunderlich, daß er den Sieg der Revolutionäre aus der Sierra Maestra um Fidel Castro im Jahre 1959 mit einem panegyrischen Gesang im Stil und Ton eines altspanischen Epos feiert. Heldenepos (Canción de gesta) ist eine politische Kampfschrift, deren Konzeption und Machart an Die Trauben und der Wind erinnern. Sie wird 1960 in Kuba in einer Auflage von 25.000 Exemplaren gedruckt, kommt 1961 in Santiago de Chile und 1962 (sowie 1964) in Montevideo nochmals heraus. (Neruda ist 1959 Fidel Castro in Caracas in der Kubanischen Botschaft begegnet, und 1960 besucht er, auf der Rückreise aus Italien, La Habana.) Als ihn das Romanistische Institut der Universität von Yale, nach Saint-John Perse, T.S. Eliot und Jorge Luis Borges, 1961 zum korrespondierenden Mitglied ernennt, erhält Neruda kein Einreisevisum in die Vereinigten Staaten, um die Ehrung entgegenzunehmen. Dennoch wird Heldenepos nicht in die Gesamtausgabe seiner Werke aufgenommen. Das hat nicht nur literarische Gründe. 1966 reiste Neruda als Ehrengast zur Sitzung des PEN Club nach New York. Daraufhin griffen ihn Kubas Schriftsteller – unter ihnen Alejo Carpentier, Nicolás Guillén, Juan Marinello, José Lezama Lima – in einem offenen Brief heftig als Verräter an. Das hat Neruda, der stets empfindlich auf Kritik reagierte, sehr getroffen. Seine Solidarität mit der kubanischen Revolution hat er nie in Zweifel gezogen, der auf Kuba sich formierenden Schriftstellerbürokratie jedoch stand er verständnislos und ablehnend gegenüber.
Zwischen Seefahrt und Rückkehr (1959) und Memorial von Isla Negra (1964) sind – neben Heldenepos – vier weitere Versbücher entstanden: Hundert Liebessonette (1959 und 1960), Matilde Urrutia gewidmet, greift die Thematik der Verse des Kapitäns in der klassischen Form des Sonetts wieder auf. Chiles Steine (1961) zeugt von Nerudas Interesse für die Natur. Während seines ganzen Lebens hat er Steinformationen betrachtet, seltene Steine und Muscheln gesammelt; so ist dieses Buch mit Fotografien von Antonio Quintana entstanden. Zeremonielle Gesänge (1961) erinnert hauptsächlich an Manuelita Sáez, die Geliebte von Simón Bolívar. Vollmachten (1962) kreist um Valparaíso, wo Neruda gerade sein Haus La Sebastiana gebaut hat.
Am 12. Juli 1964 feiert Pablo Neruda seinen 60. Geburtstag. An diesem Tag veröffentlicht der Verlag Losada in Buenos Aires „Kritische Sonate“, den fünften und letzten Teil des Memorial von Isla Negra. Die vier anderen Teile – „Wo der Regen geboren wird“, „Der Mond im Labyrinth“, „Das grausame Feuer“, „Der Wurzeljäger“ – sind nacheinander vom 2. Juni bis zum 2. Juli 1964 erschienen. Mit Neruda feiert das ganze Land. Die Chilenische Nationalbibliothek in Santiago veranstaltet eine Vortragsreihe über Nerudas Werk, an der sich, außer dem Dichter selbst, die besten Literaturwissenschaftler beteiligen. Die Zeitschriften Mapocho, Aurora und Alerce widmen ihm Sondernummern. Die Zeitung El Siglo publiziert am 12. Juli ein wichtiges Interview unter dem Zitattitel „Für mich ist Gedichte schreiben wie sehen und hören“. Es erscheint eine Flut von Aufsätzen und Büchern überall auf der Welt. Pablo Neruda verkörpert imposant Chiles Literatur und Kultur, auch als Präsident des Chilenischen Schriftstellerverbandes. Zugleich führt er unermüdlich den Präsidentschaftswahlkampf für Salvador Allende, der dieses Mal noch dem Christdemokraten Eduardo Frei unterliegt. Memorial von Isla Negra ist als selbstkritische Bilanz eines vielfältig bewegten Lebens konzipiert. Die Überschrift „Memorial“ weist darauf hin, daß es sich weder um eine Autobiographie noch um Memoiren handelt. Neruda selbst sagt von dem Buch, es sei, obgleich es seiner Biographie wie einem roten Faden folge, nichts weiter als der glückliche oder düstere Ausdruck eines jeden Tages. Es setzt sich zusammen aus Gedankensplittern, Bruchstücken der Erinnerung und Eindrücken, die sich der Dichter notiert, wenn er sich aus der geschäftigen Rastlosigkeit des öffentlichen Lebens in die abgeschiedene Stille von Isla Negra zurückzieht.
Drei Häuser hat sich Pablo Neruda gebaut: Isla Negra am Pazifischen Ozean, La Chascona in Santiago und La Sebastiana in Valparaíso. Als er, am Ende des Spanischen Bürgerkriegs, aus Europa nach Chile zurückkehrt, erwirbt er, vierzig Kilometer südlich von Valparaiso, an einem fast unbewohnten Flecken – Las Gaviotas – von einem abenteuerlichen spanischen Kapitän ein kleines Haus, das er auch sprachlich sogleich in Besitz nimmt: Von nun an heißt der Ort Isla Negra, obwohl er weder eine Insel noch schwarz ist. Solange er lebt, wird er dieses sein Lieblingshaus umbauen und erweitern mit Hölzern aus dem heimatlichen Süden und es anfüllen mit den seltsamsten Dingen, die alle mit dem Meer und der Seefahrt verbunden sind: Da gibt es Meermuscheln, Schiffsmodelle (manche in Flaschen), ein Steuerruder, ein Leuchtfeuer, eine Strickleiter (die als Treppe dient), einen alten chinesischen Kompaß und vor allem die Galionsfiguren La Medusa, María Celeste und La Guillermina. Sein Arbeitszimmer liegt im ersten Stock; es ist lichtdurchflutet, und fast alle Seiten blicken aufs offene Meer.
Im Unterschied zum unsicher nach Orientierungen tastenden Extravaganzenbrevier von 1958 wirkt Memorial von Isla Negra gefestigt und versucht, auf die dort gestellten Fragen zu antworten. Zwar heißt es auch im Memorial, die Wahrheit sei längst gestorben, doch es folgt nun der Nachsatz, dadurch seien die Menschen befähigt, gerecht zu werden. Neruda hat aus der tiefen Krise herausgefunden, in die ihn die Aufdeckung der Verbrechen des Stalinismus gestürzt hat. Er glaubt nicht mehr an die objektiven Wahrheiten einer Lehre oder einer Partei, er ist frei für kritisches und selbstkritisches Denken. Andererseits kann es für ihn keine Rückkehr zu Positionen geben, die er in seiner Jugend überwunden hat; und die Feinde, die er in Spanien und während des Zweiten Weltkriegs bekämpft hat, bleiben weiterhin seine Gegner. So richtet sich der Blick des Dichters konsequent auf das eigene Leben, auf die globale Geschichte und auf die Materie. Der französische Literaturwissenschaftler Alain Sicard, einer der gründlichsten Kenner von Nerudas Werk, hat, einen Vers des Gedichtes „Die Wahrheit“ aus Kritische Sonate zitierend, Pablo Neruda einen dreieckigen Dichter genannt. Die Gesetze der Natur, des Unbewohnten, das Unausweichliche der allgemeinen Geschichte und die Endlichkeit der Existenz des einzelnen Menschen sind die drei Seiten dieser Figur.
Der chronologische Fluß der fünf Bücher des Memorial von Isla Negra läßt sich unschwer verfolgen, auch wenn er manchmal von Erinnerungsblöcken verdeckt und unterbrochen wird, die man an dieser Stelle nicht erwartet. „Wo der Regen geboren wird“ beginnt mit der Geburt, umgreift Kindheit und Jugend in Temuco, im „Kleinen Süden“ Chiles, wo Neruda aufwächst, und reicht bis zur Ankunft in Santiago (1921). „Der Mond im Labyrinth“ evoziert das Leben des Studenten in Santiago, mitten unter der intellektuellen, künstlerischen Boheme der zwanziger Jahre, und seine ersten Liebesleidenschaften. Darauf folgt der Aufenthalt in Asien bis 1932. Der Schmerz und die Trauer über den Spanischen Bürgerkrieg leiten „Das grausame Feuer“ ein. Mit dem dort entwickelten politischen Bewußtsein nimmt der Dichter seine Heimat Chile, Lateinamerika, Asien, die ganze Welt nun völlig verändert wahr. Das Buch endet mit den leidvollen und guten Erfahrungen des Exils (1949–1952). Im IV. Buch, „Der Wurzeljäger“, sucht Neruda, nicht mehr voranschreitend, sondern in kreisender Bewegung, seine Identität. Er durchforscht die Materie, die Natur, die Geschichte und die Kultur. „Kritische Sonate“ schließt daran an; jetzt reflektiert und überprüft der Dichter seine poetische und menschliche Praxis. Eine Unterordnung unter dogmatische Schreibanweisungen wie den sozialistischen Realismus wird kategorisch verworfen.
Ich bin nicht Chef von irgend was, ich dirigiere nicht,
und somit häufe ich an
die Irrtümer meines Gesanges.
Und doch bleibt die Hoffnung auf eine Zukunft, die der Dichtung vielgestaltigen Raum läßt.
Memorial von lsla Negra setzt sich also zum größten Teil aus Themen zusammen, die Neruda schon früher anklingen ließ und auf die er später wieder zurückkommen wird. Im Großen Gesang etwa oder in Die Trauben und der Wind bezieht sich die Selbstreflexion als Standortbestimmung auf ein größeres Ganzes. Hier nun verkehrt sich die Perspektive: Politik, Geschichte, Materie integrieren sich fragmenthaft in die Selbsterforschung. Der Informationswert von Bildern und Erinnerungen wird von ihrem symbolischen Wert aufgesogen.
Das Thema Kindheit ist der Ausgangspunkt des Buches. Im Unterschied zur Kindheitssehnsucht in vielen anderen dichterischen Welten ist die Kindheit bei Neruda eine ambivalente Vorstellung. Gewiß finden wir auch bei ihm den Aspekt der Unbeschwertheit und des sorglosen Glücks, doch überwiegen die beunruhigenden Eindrücke. Kindheit bedeutet Verlorensein und Herumirren in einer übermächtigen archaischen Landschaft, in Urwäldern und wilden vulkanischen Gebirgen. Die Menschen dieser Kindheit, vor allem die Männer – der Vater, der Onkel –, die sich zu Pferd oder als Kapitän eines Zuges in diese Welt von Zentauren hinauswagen, sind polternde Pioniere und rauhe Gesellen. Kindheit steht im Memorial von lsla Negra einmal für die Herkunft des winzigen und hilflosen Menschen aus einer unendlich großen, kosmischen Materie und zum anderen für die erste Erfahrung der menschlichen Gesellschaft als eines Systems von Ausbeutung und Unterdrückung. Das Bildersystem der Kindheit enthält aber auch die plötzlich hervorbrechende Begabung zur dichterischen Gestaltung und zur Liebe: Das Individuum kann sich mit ihrer Hilfe fragend und suchend auf den Lebensweg machen oder, um Nerudas Bild zu gebrauchen, den Nachtzug besteigen.
Die Liebe ist der zweite thematische Schwerpunkt des Memorial von lsla Negra. Neruda nennt seine Liebschaften ganz ausdrücklich beim Namen: Terusa, Rosaura, „Die Stadt“ (d.h. die „einmaligen Liebschaften“), Josie Bliss und Delia. In der ursprünglichen Ausgabe vom 12. Juli 1964 endet Kritische Sonate mit 21 als Fragmente bezeichneten Gedichten auf Matilde. In der endgültigen Fassung fehlen diese Verse: Neruda hat sie an den Anfang von La barcarola gesetzt, eines Buches, das ausschließlich Matilde Urrutia, seiner dritten Frau, gewidmet ist. Sicard hat sicherlich recht, wenn er diese Umstellung als bedeutsamen Hinweis auf den Blickwinkel interpretiert, unter dem Neruda die Liebe im Memorial betrachtet. Die Liebe zu Matilde symbolisiert in einer Zeit, in der sonst alles aus den Fugen geraten ist, Geborgenheit und Vertrauen. Die Liebesvorstellung erhält eine Beständigkeit, weil beide schon vieles erlebt und gemeinsam die Krisen bewältigt haben, in die Neruda seit 1949 gerät. Aus diesem Gefühl der Sicherheit definiert sich die reflektierende Betrachtung der früheren Lieben: Sie stellen sich dar als eine Abfolge von zeitlich begrenzten Erfahrungen, die dem naturhaften Rhythmus von Werden und Vergehen unterliegen. Sie haben, wie sich im nachhinein zeigt, den Dichter vorbereitet auf eine freie und Spannung aushaltende, endgültige Liebe.
Terusa und Rosaura variieren den absoluten Liebesanspruch des radikal und anarchistisch denkenden Bohémien, der alles will und stets enttäuscht wird, weil er überall an Grenzen stößt. Auch Josie Bliss verkörpert die Verzweiflung über die Unmöglichkeit absoluter Kommunikation in der Liebe. Obgleich sie dem im fremden Asien isolierten und hoffnungslos einsamen Dichter ganz unmittelbar Wärme und Freude schenkt, erfährt er durch sie noch intensiver die Andersartigkeit nicht nur von Mann und Frau, sondern auch die der verschiedenen kulturellen Traditionen. Es ist nicht schwer zu verstehen, daß Neruda während seines Aufenthaltes in Asien zum ersten Mal heiratet, bezeichnenderweise eine Europäerin. Die Ehe besteht nicht lange; Neruda übergeht im Memorial Maria Antonieta Hagenaar; sie hinterläßt in seiner Erinnerung keine Spuren. Tief eingeprägt hat sich hingegen seine zweite Frau, die Argentinierin Delia del Carril, die ihm intellektuell, künstlerisch und politisch eng verwandt ist. Der mit Delia verbundene Liebesbegriff weitet sich auf alle Aspekte des Lebens aus. Die individuelle Liebe ist ein Teil der allgemeinen Liebe zu allen Menschen: Beide stärken und stützen sich wechselseitig. Die Liebe zu Delia hat vom Aufenthalt in Spanien bis zum Leben im Untergrund in Chile gehalten.
Die Freundschaft – der dritte thematische Komplex in Memorial von Isla Negra – geht Hand in Hand mit der Liebe. Nicht zufällig nehmen, am Anfang von „Der Mond im Labyrinth“, die Strophen auf Terusa und Rosaura die Gedichte in die Mitte, die sich auf die Jugendfreunde Alberto Rojas Giménez, Joaquín Cifuentes, Raúl Ratón Agudo und Homero Arce beziehen. Von Aufenthalt auf Erden bis zu den Memoiren Ich bekenne ich habe gelebt spricht Neruda immer wieder von ihnen. Sie versinnbildlichen die hemmungs- und rücksichtslos alle Konventionen mißachtende und verhöhnende Gier nach absoluter Erkenntnis und die rauschhafte, immer wieder in abgründige Verzweiflung umschlagende Lebenslust am Beginn seiner intellektuellen und poetischen Entwicklung. Wenn Neruda an die künstlerische Bohème der zwanziger Jahre zurückdenkt, so greift er zu Bildern, die sowohl auf die Aufhebung aller Regeln der sinnlichen Wahrnehmung und des Denkens hinweisen, wie sie der französische Symbolismus und der hispanoamerikanische Modernismus intendierte, als auch auf die Experimente der modernen Avantgarde. Freundschaft bezeichnet hier den Wettstreit in der totalen Ablehnung jedweder Konvention. Den meisten der Freunde gerät diese häufig selbstzerstörerische Provokation zum Spektakel, nur wenigen gelingt ein künstlerisch-bleibendes Werk.
Diese „Zeit in der Hölle“ des Nihilismus und der völligen Marginalisierung ist für Neruda die Voraussetzung für den späteren, konstruktiv gebrauchten Begriff der Dichterfreundschaft. Den Übergang drückt Homero Arce aus, der lebenslange Freund „gekrönt mit Baumesnamen“ (Arce bedeutet „Ahorn“). Das Bild des Holzes, des Baumes stellt sich bei Neruda ein, wenn etwas Frucht trägt im Leben. Arce tritt 1952 Delias Nachfolge als Sekretär des Dichters an, der seine Verse als erster liest, sie kritisiert und dann ins Reine schreibt. Mit Federico García Lorca, Miguel Hernández, beide Opfer des Spanischen Bürgerkriegs und des Franco-Regimes, mit Rafael Alberti, der bis nach Francos Tod im Exil lebt, und mit Vicente Aleixandre, der trotz der schwierigen Zeit in Spanien bleibt, reißt der Dialog niemals ab. Sie – die Dichter der Generation von 1927 – werden Nerudas Freunde fürs Leben. Mit ihnen hat er die große spanische Literaturtradition wiederentdeckt und in ein zweites Goldenes Zeitalter geführt, mit ihnen hat er aus den Aporien der Poésie pure herausgefunden, da er erkannte, daß auch dem Künstler eine grundlegende Aufgabe zufällt beim Bau des neuen, demokratischen Spanien.
Damit sind wir beim vierten Themenbereich: Zeitgeschichte und Politik. Das Schlüsselereignis ist – wie in früheren Zyklen – der Spanische Bürgerkrieg. Zwar fehlt im Memorial die leidenschaftliche Invektive von Spanien im Herzen und vom Großen Gesang, doch der Standpunkt ist unverändert und die Fronten bleiben klar. Der gedämpftere Ton im Memorial von Isla Negra wirkt intensiver, glaubwürdiger in seiner Trauer und Klage über die zahllosen Toten: Der Dichter wird sein Zeugnis wieder und wieder vortragen, erinnern an das Schreckliche; denn: „Es gibt kein Vergessen, meine Damen und Herren!“ Mit den Kriterien des in Spanien gewonnenen politischen Bewußtseins interpretiert Neruda im nachhinein die verschwommenen Eindrücke des Unbehagens aus seiner Kindheit in Südchile, seiner Jugend in Santiago und seines Aufenthaltes im Osten als Exempel der weltweit ungerechten Verhältnisse. Die mythenhafte Welt Patagoniens, die verführerische Dekadenz der Hauptstadt, der religiöse Exotismus Asiens entlarven sich als Erscheinungsformen einer einheitlichen Grundstruktur. Die verantwortungslosen Eliten Lateinamerikas werden ebenso angeprangert wie die Caudillos und Diktatoren, die, den Köpfen der Hydra gleich, immer wieder nachwachsen, auch wenn sie Attentaten zum Opfer fallen, weil sie Marionetten sind in den Händen nordamerikanischer Politiker, die den ganzen Globus den imperialen Interessen ihrer Geschäfte unterwerfen. Neruda hält dieses politische Denkbild und Interpretationsmuster weiterhin aufrecht. Er bleibt aktives Mitglied der Kommunistischen Partei Chiles und verfaßt ausdrücklich politische Schriften wie Heldenepos (1960). Doch sein kritisches Urteil trifft nun ohne Beschönigung auch den totalitären Machtmißbrauch in der Sowjetunion, die graue Durchschnittlichkeit träge und korrupt gewordener Parteibonzen und die nackte Tyrannis des Polizeiapparates. Statt die Errungenschaften des Sozialismus zu preisen, übergeht er die Volksrepubliken mit Schweigen.
Als fünfte Thematik des Memorial von Isla Negra ist noch die poetologische Reflexion zu nennen. Neruda faßt seine Konzeption in den beiden letzten Gedichten „Die Wahrheit“ und „Die Zukunft ist Raum“ manifestartig zusammen. Ironisch distanziert er sich von den langweiligen und verordneten Produkten des sozialistischen Realismus:
Ich las…
so viele Verse über
den Ersten Mai,
daß ich jetzt nur noch über den 2. dieses Monats schreibe.
Er will nun alles mit seiner Dichtung umgreifen und nichts ausschließen. Er liebe, so sagt er in „Die Wahrheit“, Idealismus, Realismus und die Welt der Träume. Das bedeutet, daß er Dichtung und Kunst aus ideologischer Bestimmtheit herauslöst, ihnen Autonomie zubilligt und nicht mehr, wie noch zehn Jahre früher, gegen dekadente bürgerliche Autoren oder gegen Avantgardebewegungen wie den Surrealismus polemisiert. Er nimmt ihre Prinzipien im Gegenteil sehr ernst. Die Dichtkunst hat es auch jetzt mit dem Realen zu tun, doch sie ist nicht Widerspiegelung, sondern experimentell verstandenes Forschen, sie ist Neuschöpfung unbekannter, utopischer Sphären. Die Augen des Dichters, seine Ohren, alle seine Sinne mühen sich ab, zu den Geheimnissen der Materie, des Lebens und des Todes, verstehend vorzustoßen.
In der Rolle des Wurzeljägers kehrt der Dichter zurück in die Landschaften seiner Jugend, mit „aschenfarbenen Stiefeln, zerfressen vom Salz der langen Wege“. Er dringt wie Parzival ein in die geheimnisvollen Urwälder auf der Suche nach der Wahrheit; doch in der Burg, die er schließlich dort findet, ist „die einzige Wahrheit… das Vergessen“, und, von Zimmer zu Zimmer, „das Schweigen… eine Flüssigkeit“. Der sechste und wichtigste Themenkreis ist die Materie, die unbewohnte Natur. Ihr ist vor allem das vierte Buch des Memorial von Isla Negra – „Der Wurzeljäger“ – gewidmet.
Die Landschaften – das Meer, die weiten Ebenen, die Kordilleren, die Selva – sind sich gleich geblieben. Doch das Bewußtsein des Betrachters und seine Wahrnehmungsweise haben sich verändert. Früher ängstigte ihn die reißende Bewegung der Naturkräfte, jetzt sind die Elemente undurchdringlich und unbeweglich. Zu immer neuen Wanderungen bricht er auf. Es ist seine Bestimmung, der Natur dieselben Fragen fortgesetzt neu zu stellen, ohne Antworten zu finden. Er ist ein Teil der Natur:
Ich gehöre der Fruchtbarkeit an
und werde wachsen solange die Leben wachsen:
bin jung mit des Wassers Jugend,
bin langsam mit der Langsamkeit der Zeit,
rein mit der Reinheit der Luft,
dunkel mit dem Wein der Nacht
und werde erst unbeweglich sein, wenn ich
schon mineralisch bin und weder sehe noch höre,
noch teilhabe an dem, was geboren wird und wächst.
Neruda variiert von Gedicht zu Gedicht die Metamorphosen und Stoffwechselprozesse der Natur. Er exemplifiziert sie am liebsten an der umformenden Arbeit der Biene, am „Baum des Lebens“, an den zerstörerisch-befruchtenden Vulkanen oder an der Leben-Tod-Symbiose auf dem modrigen Boden des UrwaIds. Allerorten vollzieht sich derselbe Kreislauf: Aus Leben wird Tod, doch aus Tod wird auch Leben. Konfrontiert mit der Nähe des eigenen Todes, bleibt dies die einzige Hoffnung. Alle anderen Erwartungen sind verflogen oder unterliegen derselben existentiellen Zerbrechlichkeit.
1965 ist für Pablo Neruda ein Jahr der Reisen. Er verläßt Chile im Februar Richtung Europa, nimmt im Juni als erster Südamerikaner den Ehrendoktorhut der Philosophischen Fakultät der Universität Oxford entgegen, verbringt den Juli in Paris und fährt von dort nach Ungarn, wo er mit seinem guatemaltekischen Freund Miguel Angel Asturias, der 1967 als zweiter Lateinamerikaner (nach der Chilenin Gabriela Mistral, 1945, und vor Pablo Neruda, 1971) den Nobelpreis für Literatur erhalten wird, ein originelles Buch über die ungarische Köstlichkeiten aus Küche und Keller verfaßt (Comiendo en Hungría). Von Ungarn aus begibt er sich nach Bled in Jugoslawien zu einer Tagung des PEN Club, dann weiter nach Helsinki zur Versammlung des Weltfriedensrates und schließlich nach Moskau zur Verleihung des Lenin-Preises an Rafael Alberti. Erst im Dezember kehrt er, mit einer Unterbrechung in Buenos Aires, nach Santiago zurück. 1966 unternimmt er die bereits erwähnte Reise in die Vereinigten Staaten; anschließend hält er sich zu Vorträgen und Lesungen in Mexico und in Peru auf, überall hochgeehrt und umjubelt. Am 28. Oktober 1966 legalisiert er in aller Stille seine im Ausland geschlossene Ehe mit Matilde Urrutia.
Die Vielseitigkeit seiner Interessen und Möglichkeiten beweisen der 1966 in einem Privatdruck publizierte Gedichtband über die bunte Welt der Vögel (Arte de pájaro), das Büchlein Una casa en la arena (Ein Haus im Sand) aus Prosa und Versen, die um Isla Negra, das Meer und den Strand kreisen, und das 1966 geschriebene, am 14. Oktober 1967 in Santiago von der Truppe des ITUCH (Instituto del Teatro de la Universidad de Chile) unter der Leitung von Pedro Orthous uraufgeführte Theaterstück Fulgor y muerte de Joaquín Murieta (Glanz und Tod des J. M.). Neruda hat schon im Shakespeare-Jahr 1964 mit dem Theater geliebäugelt, als er für das ITUCH Romeo und Julia übersetzte. Nun gelingt ihm mit der Geschichte eines chilenischen Goldsuchers, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Kalifornien getötet wurde, ein beachtlicher Erfolg. Im gleichen Jahr erscheint La barcarola, dessen vierte Episode die Geschichte des Joaquín Murieta enthält und das, vielfältige Themen variierend, eine Liebeserklärung an Matilde und an Chile ist.
Ehrungen, Auszeichnungen, Einladungen, Vortragsreisen nach Uruguay, Brasilien, Kolumbien und Venezuela – 1968 verläuft für den Dichter so bewegt wie die Jahre zuvor. Und wieder präsentiert er ein neues Buch: Die Hände des Tages. Neruda, der Sammler, Bricoleur, Häusererbauer, spricht – in kleinen, scheinbar einfachen Gedichten – von den Händen, vom Tun, von der Arbeit. Immer hat er sein Dichten als Handwerk verstanden. Jetzt überprüft er sein Schaffen, fragt nach dem, was bleibt. Der Ton ist selbstironisch, skeptisch. Seine Hände seien ungeschickt und nutzlos. Nicht einmal einen Besen habe er gebunden, auch keinen Stuhl gezimmert, geschweige denn eine Uhr konstruiert. Allenfalls habe er die Taten und Leistungen der andern bezeugt. Und dieses Zeugnis, soll es wahrhaftig sein, müsse düster und traurig ausfallen. Denn die Hände der Menschen seien unermüdlich, wenn es gelte, Mittel der Zerstörung zu produzieren und Kriege zu führen: In Vietnam tobe wieder solch ein furchtbarer Krieg. Neruda zweifelt an der Fähigkeit der Menschen, Schönes und Gutes hervorzubringen. Das könne allein die Natur, die Materie: Man betrachte den wunderbaren Körper eines Käfers oder das Meer oder die vulkanischen Berge. Auch nützten sich die Hände der Menschen mit der Zeit ab. Der Einzelne wie die Menschheit als Ganzes schritten nicht voran in eine bessere Zukunft, sondern bewegten sich naturhaft im Kreis. Allerdings biete jeder Morgen, so sagt Neruda, die Chance des Neubeginns, aber auch die Gefahr noch schlimmerer Irrtümer. Er, der Dichter, sei ein Frühaufsteher, „geschaffen von den Händen des Meeres“. So verteidigt Neruda die Aufgabe des Dichters, wachzurütteln, zu mahnen und, trotz allem, sein Tagewerk ordentlich zu verrichten.
Die Hände des Tages bilden die Ouvertüre zu der mit leidenschaftlichem Ernst durchgeführten kritischen Prüfung des 20. Jahrhunderts in Weltende, woran sich als dritter, wiederum kurzer Teil das Büchlein Noch anschließt. Weltende und Noch erscheinen kurz hintereinander zu Nerudas 65. Geburtstag (1969). Das ist kein Zufall. Zum dritten Mal zieht er – seit Extravaganzenbrevier beziehungsweise Seefahrt und Rückkehr (1958/59) und Memorial von Isla Negra (1964) – im Abstand von jeweils fünf Jahren den Summenstrich und rechnet ab mit sich selbst, mit den andern und mit der Welt. Weltende ist ein durch Thematik und Stillage mächtiges Buch. Neruda kombiniert seine Metaphern völlig frei; die Verse sind dunkel und suggestiv, dann wieder konzeptistisch und paradox. Die alte Vorliebe für den Barockdichter Quevedo, einen Meister der Satire, wird wieder sichtbar. Ähnlich wie dieser unterzieht Neruda seine Zeit einer herben Kritik. Das in sein letztes Drittel eintretende 20. Jahrhundert ist eine Epoche der Lüge, des Bluts und der Kriege – ein Zeitalter der Agonie, der Asche und des globalen Selbstmords:
WELCHE BLEIBENDES JAHRHUNDERT!
Wir fragten:
Wann fällt es? Wann stürzt es kopfüber
ins Massive, ins Leere?
In die vergötterte Revolution?
Oder die definitiv
patriarchalische Lüge?
Im Grunde aber
erlebten wir es gar nicht, so sehr
wünschten wir uns, es zu erleben.
Ständig war es in Todesnot,
ständig lag es im Sterben,
leuchtend am Morgen und am Abend blutig,
regnend am Vormittag, weinte es am Abend.
Die in das 20. Jahrhundert, in Technik und Politik gesetzten Erwartungen wurden enttäuscht: Die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche, die Bedrohung durch Massenvernichtungsmittel, die totalitären Ideologien haben die Menschheit in Sackgassen geführt. Der Dichter, Teil dieses entsetzlichen Jahrhunderts, kann viele der Katastrophen bezeugen, ist Opfer von Verfolgung, Vertreibung, Krieg. Aber: Auch er hat sich täuschen lassen, muß Irrtümer zugeben, kommt zur Einsicht, daß es in Wahrheit keine Wahrheit gibt.
Weltende ist dennoch kein apokalyptisches, kein nihilistisches Buch. Neruda bewahrt sich die Hoffnung auf die Einsicht der kommenden Generationen. Das entspricht seinem materialistischen, zyklischen Denken. Und es gibt eines, auf das er zählt: Lateinamerika. Immer wieder besingt er die Landschaften, die Menschen, die Dörfer und Städte Chiles, Argentiniens, Uruguays, Brasiliens, Venezuelas, hebt ihre Vielfalt, ihre Schönheit, ihre Vitalität hervor. Natürlich verschweigt er nicht die Schattenseiten. Doch er hält es für möglich, Abhilfe zu schaffen. Hierbei tragen die Dichter eine große Verantwortung: Sie sind berufen, die Dinge beim Namen zu nennen, den Menschen Ziele zu setzen. Neruda erweist den großen Autoren der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur seine Reverenz: César Vallejo, Julio Cortázar, Gabriel García Márquez, Carlos Fuentes, Juan Rulfo, Mario Vargas Llosa, Augusto Roa Bastos, Juan Carlos Onetti und viele andere repräsentieren in seinen Augen die moralische und geistige Kraft Lateinamerikas:
So bauten in diesen Jahren
meine Kollegen an einer
krausen nachtgetränkten Novelle,
weit wie der Planet,
voller Begebenheiten,
Dörfern, Straßen, Geographie,
und einer Sprache aus reiner Erde
mit Einöden und Wurzeln.
…
Darum und weil ich gesungen
und stets zu neuem Leben erwacht,
rühme ich den Chronisten von heute
und sage, man ehre ihn:
Jetzt läuten die Glocken
über so langem Schweigen,
daß es uns unter den Händen faulte.
Es kamen die Schriftsteller
und rächten sich an den Tätern,
das heißt, an der stummen Zeit
und ihren verbitterten Komplizen.
Singend gründet man sein Land,
und singt man einmal nicht weiter,
stirbt einem das Land in den Armen,
und das ist meine Botschaft,
denn Liebe ist meine Rache.
Aún (Noch) ist ein prägnanter Titel: Noch sei er, Neruda, mit seinen 65 Jahren, ein tatkräftiger Mann – wie sein Großvater wolle er die Hundert erreichen –, noch habe er vieles zu sagen, man möge durchaus noch mit ihm rechnen. Noch bekräftigt in schlichten, leicht faßlichen Versen die in Weltende formulierte neuerliche Besinnung auf Lateinamerika: Das Verhältnis von Ferne und Heimat verkehrt sich. Der Standort ist jetzt Chile, und der Dichter kehrt, wenn er reist, nach Europa zurück. Dort betrachtet man Ende der sechziger Jahre Lateinamerika, seine Politik, seine Kultur und Literatur, mit neuen Augen; man spricht vom Boom der lateinamerikanischen Literatur, die reicher, welthaltiger und von größerer künstlerischer Qualität sei als die europäische. Im Gegensatz zu den europäischen Schriftstellern, die durch die Studentenbewegungen des Jahres 1968 verunsichert sind, ist für die Lateinamerikaner die Verbindung von politischem Engagement und literarischer Kreativität selbstverständlich. Noch ist vom Selbstbewußtsein eines Philosophen durchzogen, der seine politischen Erfahrungen und literarischen Einsichten in vielschichtigen und konzentrierten Gedichten zusammenfaßt.
Die letzten vier Jahre seines Lebens stellt Neruda ganz in den Dienst seines Landes. Er kämpft mit allen Kräften für das Gelingen der Unidad Popular, der chilenischen Revolution: Als Dichter, Journalist, Vortragsredner, als Politiker und Diplomat wirbt er in Chile und im Ausland für die von Salvador Allende geführte Regierung. Obwohl ihm ein Krebsleiden große Schmerzen bereitet, versieht Neruda sein Amt als chilenischer Botschafter in Paris mit der allergrößten Sorgfalt und mit Erfolg. Dabei kommt ihm das Ansehen zustatten, das er in Frankreich genießt und auch bei Staatspräsident Georges Pompidou, der selbst ein Literat ist. Als ihm am 21. Oktober 1971 der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wird, ist dies die Krönung seines künstlerischen Schaffens und zugleich eine Hommage an Chile. Im November 1972 ehrt ihn eine jubelnde Menge im überfüllten Nationalstadion von Santiago. Auf der Ehrentribüne klatscht auch General Augusto Pinochet Beifall, der ein knappes Jahr danach gegen die Regierung Allende geputscht und in diesem Stadion seine Gegner zusammengetrieben hat. Neruda ist zum Zeitpunkt des Putsches ein todkranker Mann. Die mexikanische Regierung bietet ihm politisches Asyl an. Er zieht es vor, in Chile zu bleiben. Seinen Freund Salvador Allende überlebt er nur zehn Tage: Am 23. September 1973 erliegt Pablo Neruda in Santiago de Chile seinem Krebsleiden. Das Begräbnis wird zur ersten großen Demonstration gegen die Militärdiktatur.
Zehn Jahre später, im September 1983, versammeln sich wiederum Tausende von Chilenen in Santiago, um sein Andenken zu ehren und um seine Gedichte zu hören, die Matilde Urrutia vorträgt. Sie stirbt am 5. Januar 1985, 70 Jahre alt, in Santiago an Krebs.
Trotz aller Belastungen schreibt Neruda Morgen für Morgen an seinem Werk: 1970 erscheinen – neben Comiendo en Hungría – La espada encendida (Das flammende Schwert) und Las piedras del cielo (Die Steine des Himmels). La espada encendida basiert auf der chilenischen Legende von der Stadt der Cäsaren, die in den patagonischen Anden liegen soll, eine Variante des vielerorts in Lateinamerika verbreiteten Mythos von der verborgenen goldenen Stadt (El Dorado, Manoa). Neruda erfindet eine literarische Utopie, in der, nachdem die Welt des 20. Jahrhunderts untergegangen ist, Rhodo, der letzte überlebende Mann, Rosia, ein junges Mädchen aus jener Stadt der Cäsaren, trifft: Mit ihr will er ein neues Menschengeschlecht zeugen. In den antarktischen Süden, in die einsamste und wildeste Natur, verlegt Neruda diesen Neuanfang. Las piedras del cielo ist ein höchst phantasievolles Lapidarium, das Die Steine Chiles (1961) fortsetzt und mit dem Wunsch des Dichters endet, selbst ein Teil der Wunderwelt der Steine zu werden. Auch mitten im Wahlkampf, wenn Neruda im Auto durch Chile reist, und später in Frankreich, auf den Fahrten zwischen Paris und seinem Haus in der Normandie, schreibt er seine Verse: So entsteht Geografía infructuosa (Unnütze Geographie, 1972): Reisen, Landschaften, helle und dunkle Stimmungen alternieren. Als die gegen Chile gerichtete Destabilisierungspolitik der Vereinigten Staaten von Amerika immer sichtbarer wird, schreibt Neruda sein letztes polemisches Gedicht, eine heftige Invektive gegen Nixon und dessen Administration („Incitación al nixoncidio y alabanza de la revolución chilena“ / „Anstiftung zum Mord an Nixon und Lob der chilenischen Revolution“, 1973). Am 5. Februar 1973 legt Neruda sein Amt als Botschafter nieder. Die unerbittlich fortschreitende Krankheit zwingt ihn dazu. Er kehrt nach Chile zurück. In Isla Negra diktiert er Tag für Tag Homero Arce seine Memoiren, die 1974 unter dem Titel Ich bekenne ich habe gelebt erscheinen, und er nutzt jeden schmerzfreien Augenblick zur Arbeit an seinem lyrischen Werk. Am 12. Juli 1973, seinem 69. Geburtstag, übergibt er dem Verleger Gonzalo Losada, der zu ihm nach Isla Negra gekommen ist, acht neue Gedichtbücher. Sie erscheinen 1974 in der von Neruda bestimmten Reihenfolge: Die abgeschnittene Rose, Garten im Winter, 2000, Das gelbe Herz, Buch der Fragen, Elegie, Das Meer und die Glocken, Ausgewählte Mängel.
Nerudas postumes lyrisches Werk spitzt die Themen der späten Bücher weiter zu: die Einsamkeit des Menschen, besonders im Alter und im Angesicht des Todes, den Pessimismus bei der Bewertung der sozialen und politischen Wirklichkeit, den Rekurs auf die Materie und die Gesetzmäßigkeiten der Natur, die Ohnmacht der Dichter. Die Gedichte verlieren fast vollständig ihren epischen, rhetorischen Charakter, sie werden kürzer, geschliffener, aphoristischer als vorher. In Die abgeschnittene Rose spricht Neruda von der zu Chile gehörenden Osterinsel. Im Januar 1971 ist er mit einem Fernsehteam zu Aufnahmen für den Dokumentarfilm Geschichte und Geographie des Pablo Neruda dorthin gereist. Rapa Nui, wie er die Insel mit ihrem polynesischen Namen bezeichnet, ist ein Ort der Stille und Meditation, wo sich im Schweigen der Moais, der rätselhaften Kolosse, mehr Menschlichkeit erhalten habe als im Getriebe der zivilisierten Welt, die bestimmt ist von Konsumzwang, Reklame und Entfremdung.
Garten im Winter ist ein Buch der Besinnung in turbulenter Zeit. Der Lärm auf den Straßen des dem Bürgerkrieg nahen Landes dringt an das Ohr des Dichters. Zugleich wird ihm klar, wie es immer einsamer ist um ihn herum, die Freunde, einer nach dem anderen, sterben, wie Manuel Rojas und Benjamín Subercaseaux. Vergänglichkeit, Einsamkeit, Ohnmacht und Angst vor dem Tod belagern den Dichter, der sich in den Wintergarten eingeschlossen hat. Er hat sich isoliert in seiner toten Jahreszeit und wagt sich nicht mehr ans sommerliche Meer oder hinaus in den Frühling. Aus neun harten Gedichten besteht das Büchlein 2000. Neruda bekräftigt die negative Bilanz, die er in Weltende aufgestellt hat, formuliert sie aber beißender, schneidender. Sich selbst definiert er als armen Teufel aus der Dritten Welt:
Ich komme überallher, Ramón González Barbagelata, der Eisbart,
komme aus Cucuy, vom Parana-Becken, aus Rio Turbio, aus Oruro,
aus Maracaibo, aus Parral, Ovalle und aus Loncomilla,
egal woher, ich bleib der arme Tropf der armen dritten Welt,
der Fahrgast dritter Klasse; ich sitze – Jesses! –
im Prachtweiß der verschneiten Anden
und falle gar nicht auf in den fein national gesinnten Orchideen.
Trotz des sarkastischen Tones kapituliert Neruda nicht: Er ruft die junge Generation auf, die Chance des neuen Jahrtausends zu nutzen.
Das gelbe Herz setzt diese Thematik humorvoll und mit surrealistischen Wortspielen fort. Neruda erinnert sich seiner avantgardistischen Anfänge und der poetischen Improvisationen gemeinsam mit Federico García Lorca und anderen spanischen Dichtern der Generation von 1927. Aus den Teilen der absurden Realität zimmert er eine poetische Welt, die zwar nicht weniger disparat und chaotisch ist, doch durch Lachen befreit und die Möglichkeit einer anders gebauten Wirklichkeit suggeriert. Auch Das Buch der Fragen spielt mit Paradoxien. Hier besinnt sich Neruda auf Baltasar Gracián, den großen Aphoristiker des spanischen Barock. Wie ein naives Kind stellt der Dichter Fragen, die die Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten in Zweifel ziehen: Warum hat Kolumbus eigentlich nicht Spanien entdeckt? Oder was passiert mit den Schwalben, die zu spät zur Schule kommen? Das wilde, anarchistische Denken des jungen Neruda lebt in diesen Sentenzen wieder auf.
Eine völlig andere Stimmung durchzieht Elegie. Mit diesem Buch verabschiedet sich Neruda von Moskau und von den Freunden, die er dort traf. Viele oft erwähnte Namen tauchen wieder auf: Ilja Ehrenburg, Nazim Hikmet, Alberto Sánchez. Alle sind längst gestorben. Es gibt nur noch einen wehmütigen Dialog in der Erinnerung und über die Gräber hinweg. Auch Das Meer und die Glocken ist eine Elegie. Viele der Gedichte sind auf dem Krankenlager in Isla Negra entstanden: Neruda blickt auf das Meer und auf die Glocken, die er in seinem Garten in einem hölzernen Glockenturm aufgehängt hat. Das Meer, das er liebt, weil es im Hin und Her der Wellen den Stoffwechselprozeß der Natur am anschaulichsten zeigt, symbolisiert jetzt nur noch den Tod. Auch der Klang der Glocken wird leiser, undeutlich. Nur Matilde bleibt: Ihr dankt er im letzten Gedicht. Ausgewählte Mängel schließlich wirkt wie ein Selbstportrait des Dichters, der Situationen seines Lebens – wie sie ihm einfallen – notiert, gute und böse Erlebnisse, schöne und häßliche Eindrücke. Sein Fazit:
Das Leben ist nicht die Spitze eines Messers,
kein niederschmetternder Stern,
sondern ein leiser Verschleiß im Leihkostüm,
ein tausendfach wiederholter Schuh,
eine Medaille, die langsam oxydiert
im Innern einer dunklen, dunklen Truhe.
Ich verlange keine frische Rose, keine Schmerzen,
nicht Gleichgültigkeit ist’s, was mich verzehrt,
sondern daß jedes Zeichen geschrieben ist,
Salz und Wind verwischen die Schrift,
und die Seele ist nun eine schweigende Trommel
am Ufer eines Flusses, jenes Flusses,
der dort war und dort sein wird weiterhin.
Karsten Garscha, Nachwort
schließt sich eine Lücke. Zum ersten Mal werden alle wichtigen Gedichtzyklen Pablo Nerudas vollständig zugänglich gemacht. Dort, wo auf vorhandene Übersetzungen zurückgegriffen werden konnte, auf die Pionierarbeiten, die Erich Arendt und andere in der Neruda-Übersetzung leisteten, hat sie der Herausgeber nochmals mit dem spanischen Original überprüft. Für den umfangreichen und bislang nur auf spanisch edierten Nachlaß Pablo Nerudas wurde die Übersetzerin Monika López gefunden. In seinem Nachwort geht Karsten Garscha auf die wichtigsten Lebensdaten Pablo Nerudas und die Entstehungszusammenhänge der einzelnen Gedichtzyklen ein. Ein Glossar mit Namens- und Worterklärungen beschließt jeden Band.
Büchergilde Gutenberg, Klappentext (Band 2), 1986
Die große dreibändige Werkedition der Gedichte Nerudas in erweiterter Neuausgabe. Enthalten sind in diesen drei Bänden nicht nur die Werke, die Pablo Neruda Zeit seines Lebens veröffentlichte, aufgenommen wurden auch die erst später im Nachlass entdeckten Gedichte des Autors.
Wenn es einen Erzpoeten im 20. Jahrhundert gegeben hat, dann war das Pablo Neruda. Er schrieb über alles, was ihn bewegte, und nahm sich vor nichts in Schutz: weder vor der Liebe noch der Politik. Als junger Mann war er bereits Diplomat seines Landes im fernen Osten, später musste er Chile verlassen und über Jahre das Leben eines Emigranten führen, und wieder Jahre später unterstützte er seinen Freund Salvador Allende, als dieser sich zum Staatspräsidenten wählen lassen wollte. Wenn Neruda seine Gedichte vorlas, füllte er Stadien, und eines seiner erklärten Ziele war es, mit seiner Poesie nicht nur die Gebildeten zu erreichen, sondern auch diejenigen, die mit Literatur nicht vertraut waren. 1971 erhielt er den Nobelpreis. Zu Nerudas Bewunderern zählen weltweit namhafteste Autoren. Renommierte Schriftsteller haben sich in den Dienst von Nerudas Werk gestellt und es ins Deutsche übersetzt. Zu ihnen zählen u.a. Erich Arendt, Stephan Hermlin, Fritz Rudolf Fries; dazu kommen so bedeutende Übersetzer wie Fritz Vogelgsang, der erst 2008 mit dem Leipziger Buchpreis geehrt wurde.
In der dreibändigen Ausgabe sind alle großen Gedichtzyklen dieses Autors vollständig enthalten. Aufgenommen wurden sie nach der Chronologie ihres Erscheinens. Enthalten sind in dieser Neuausgabe, die vor über zwanzig Jahren erstmals erschien, auch jene Gedichtzyklen, die erst später im Nachlass des Dichters gefunden und ins Deutsche übertragen worden sind. Damit macht diese Edition auf ca. 3.000 Seiten eines der wichtigsten poetischen Werke des 20. Jahrhunderts wieder in seinem ganzen Reichtum zugänglich.
Luchterhand Literaturverlag, Ankündigung (bezieht sich auf eine andere Ausgabe)
– Vereint: die Lyrik Pablo Nerudas. –
So solle seine Dichtung wirken, schrieb Ricardo Eliécer Neftalí Reyes Basoalto alias Pablo Neruda Mitte der Dreißiger: „von Handarbeit abgenützt wie von einer Säure, von Schweiß und Dunst durchzogen“. Als der Nobelpreisträger 1973 starb, gehörte sein Werk schon zum poetischen Kanon des 20. Jahrhunderts. In deutscher Übersetzung wurde dieses Werk zuerst in der DDR gepflegt. Im Westen gab es Mitte der Achtziger eine repräsentative Auswahl bei Luchterhand, drei Bände stark; sie ist längst vergriffen.
Jetzt hat der Verlag die verschwundene Ausgabe in erweiterter Form noch einmal publiziert. Beide Editionen enthalten alle großen Zyklen des Meisters, auch viele Texte aus dem Nachlass. Nun stehen die Sammlungen wieder im Zusammenhang: Aufenthalt auf Erden, Spanien im Herzen („Kommt, seht das Blut in den Straßen“), Der Große Gesang, Elementare Oden, dazu Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung, ein Frühwerk (von 1924), das bis heute zu dem meistgelesenen Lyrikbänden überhaupt gehört.
Hinzugekommen sind drei Zyklen, die erst in den Neunzigern entdeckt wurden. Auf Deutsch erschienen sie bislang in Einzelausgaben: das recht schwülstige Pennäleropus „Ballade von den blauen Fenstern“, dazu „Hungrig bin ich, will Deinen Mund“ (aus dem Jahr 1959) sowie „Mare moto“ (1970), als „Beben des Meeres“ 1991 von einem Unbekannten mit dem Pseudonym „Tias“ in einem Kleinverlag publiziert. Der Leser findet nützliche Zusätze – eine Chronologie zu Leben und Werk, umfangreiche Anmerkungen sowie ein Verzeichnis der Original-Quellen und der Übersetzer.
Die Publikation hat etliche Besonderheiten, aber manche wird der Leser nicht entdecken. Von Luchterhand erfährt man: Anliegen des Verlages war es – damals wie heute –, die verstreuten Übersetzungen zu bündeln. Eine anerkennenswerte Mission. Die Vielfalt der (deutschen) Stimmen ist nun Vor- und Nachteil zugleich. Viele Übertragungen stammen aus DDR-Büchern: Texte von Erich Arendt, Stephan Hermlin, Fritz Rudolf Fries. Sie wurden für die Neuauflage nicht revidiert. (Arendts Arbeiten, von Neruda autorisiert, gelten als sakrosankt.)
Weiter: Die drei Bände zeigen nicht alle in spanischen Sammlungen enthaltenen Neruda-Poeme. (Aber welche Gedichte fehlen? Und warum?) Die Auswahl ist mithin keine kritische Edition, sondern eine Leseausgabe. Ein Vor- oder Nachwort wäre in Hinsicht auf die Eigenarten hilfreich gewesen; schade, es gibt nicht einmal eine editorische Notiz.
Auch eine Auseinandersetzung mit der ambivalenten Figur des Autors und mit der Wirkung der Politik auf seine Poesie hat der Verlag vermieden. Es gibt den einen Neruda, den Schöpfer anrührender Poeme und schlichter Liebesgedichte. Über diesen Poeten sagte Hans Magnus Enzensberger, er sei „die mächtigste Stimme des lateinamerikanischen Kontinents“. Der Verlag wirbt mit diesem Spruch. Es gab einen anderen Neruda, den gläubigen Kommunisten und Stalinpreisträger, den Klassenkämpfer im Kalten Krieg. („Westliches Berlin, du bist die Schwäre im greisen Gesicht Europas“). Mit Verweis auf diesen Neruda der Fünfziger notierte Enzensberger, „ein Strom von Parteilyrik, von polemischen Tiraden und platten Hymnen“ sei aus seiner Feder geflossen. Ein Landsmann Nerudas, Roberto Bolaño, formulierte es 2002 noch drastischer:
Wer imstande war, Oden an Stalin zu verfassen und die Augen vor dem stalinistischen Horror zu verschließen, hatte meinen Respekt nicht verdient.
Nach 1953 hat sich der Dichter vom Diktator distanziert, ein Stück weit eben, nicht zu sehr. Nerudas Lobgesänge auf den „fernen Völkerführer“ („Menschen Stalins! Wir tragen mit Stolz diesen Namen“) und die Enttäuschung über dessen Demaskierung („Ich wußte ja nicht, was wir alles nicht wußten“), all die Spuren innerer Kämpfe findet der Leser jetzt in den drei Bänden. Er muss allerdings suchen. Leider: Auch in Bezug auf die Rezeptionsgeschichte verharrt Luchterhands Neuausgabe auf dem Stand der Achtziger. Und worin liegt der Wert der Edition? Verlagslektor Klaus Siblewski bringt es auf den Punkt:
Der wichtigste Wert besteht darin, daß es die Bücher wieder gibt.
Pablo Neruda (1904-1973) war der größte Dichter des 20. Jahrhunderts. Der Luchterhand Literaturverlag hatte sein gesamtes lyrisches Werk in der 80er Jahren in einem Sammelband herausgebracht, der jedoch längst vergriffen ist. Nun aber liegt eine Neuauflage vor und sie begeistert schon deshalb, weil sie um jene drei Zyklen des Literaturnobelpreisträgers von 1971 erweitert wurde, die erst in den 90er Jahren entdeckt wurden.
Die Gedichte. Band 1 – 3 ist die Sammlung schlicht betitelt und sämtliche Werke sind chronologisch nach ihrem Erscheinen aufgeführt. Deshalb beginnt das gewaltige Konvolut auch mit den einzigartigen „Balladen von den blauen Fenstern“, die erst 1996 im Nachlass gefunden und dann 1997 unter dem Originaltitel „Die Schulhefte von Temuco“ erstmals veröffentlicht wurden.
Dieser Titel war in der Tat wörtlich zu nehmen, denn die noch völlig unpolitischen Verse dieser 48 Gedichte hatte Neruda als gerade 15-jähriger Schüler verfasst. Im Mittelpunkt wie auch später so oft die Liebe und die Einsamkeit des Poeten, dessen Mutter bei der Geburt gestorben war. Die anderen spät entdeckten Zyklen „Hungrig bin ich, will deinen Mund“ (1959) und „Beben des Meeres“ (1970) sind ebenfalls gemäß ihrer Entstehung eingeordnet.
Damit geht der Reigen großartigster Dichtkunst, in der der chilenische Poet spätestens seit seinem ersten frühen Meisterwerk Aufenthalt auf Erden (1925-1931) die Formen auflöste und freie Formen virtuos mit klassischen Formen vermischte, von einem Jugendgedicht wie der „Ballade von der traurigen Kindheit“ bis zu „Schlendern mit Laforgue“ aus dem 1974 posthum veröffentlichten Zyklus „Ausgewählte Mängel“.
Wer ein wenig sucht, wird auch Nerudas Loblieder auf Stalin aus den frühen 50er Jahren finden (Zyklus „Die Trauben und der Wind“) und die wurden ebenso unverändert übernommen wie die zahlreichen Übersetzungen durch namhafte DDR-Künstler wie Erich Arendt oder Stephan Hermlin. Mag der bekennende Kommunist Neruda hier auch eine nur dürftige Revidierung vorgenommen haben, so macht allein schon der grandiose Canto General (Der große Gesang) von 1959 auch diese Sünde wider den gesunden Menschenverstand allemal wett und unvergessen ist auch die kongeniale musikalische Umsetzung dieses genialen Zyklus durch den griechischen Komponisten Mikis Theodorakis Anfang der 70er Jahre.
Und als Verehrer einer Dichtkunst mit Oden von hinreißender Leidenschaft des Gefühls und einer unaufhörlichen schöpferischen Kraft der Worte, die von Ehrfurcht gebietender Schönheit ist, muss man geradezu dankbar sein, dass nichts verändert oder ausgelassen wurde. Festzustellen ist dazu, dass diese Sammlung keine kritische Ausgabe ist und weder Vor- noch Nachwort, dafür allerdings ein hilfreiches Register und eine Chronologie zu Leben und Werk des Dichters enthält. Zugleich macht ein gar nicht zu überschätzender Umstand diese Neuauflage so ungeheuer wertvoll: dass es sämtliche bis heute bekannten Gedichte Nerudas endlich in einem Konvolut gibt.
Gedichte – egal von wem: Schwere Kost, schwieriges Thema.
Insbesondere bei Pablo Neruda benötigt es Zeit, sich in dessen Gefühlsleben hinein zu versetzen.
Als Autor eigener Zeilen weiß ich, wie essentiell wichtig es ist, trotz mannigfaltiger Ablenkungen Stimmungen und Gefühle in Worte zu transportieren. Was mir selbst, umgeben von Lärm und Hektik des Alltags, zugegeben, nicht immer gelingt.
Deshalb bin ich nur fähig, eine erste Gemütsdarstellung nach wenigen gelesenen Silben zu rezensieren: Die Bände sprühen über vor Empathie, tiefer Besinnung und Reflexionen über alltägliche Dinge des Lebens. Jedoch: Ich empfinde, dass ich bei intensiverer Betrachtung ein tiefes Mitgefühl und Verständnis für die Liebe zum Leben entwickeln werde.
Der chilenische Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda (1904-1973) gehört zu den bedeutendsten Dichtern des 20. Jahrhunderts. Mit seinem Werk trug er wesentlich zur Weltgeltung der lateinamerikanischen Literatur bei.
Der Sohn eines Lokomotivführers und einer Lehrerin schrieb schon mit 18 Jahre seine ersten Gedichte unter dem Pseudonym Pablo Neruda. Seine leidenschaftlichen Liebesgedichte machten ihn bereits als Zwanzigjährigen berühmt. Von 1927 bis 1943 war er Honorarkonsul in verschiedenen Ländern. Als er in seine Heimat zurückkehrte, trat er der KP Chiles bei und musste 1948 nach deren Verbot ins Exil fliehen. Hier unternahm er zahlreiche Reisen, ehe er 1953 nach Chile zurückkehrte, wo man ihn mit Ehrungen überhäufte. Den gewaltsamen Sturz seines Freundes Salvador Allende 1973 überlebte Pablo Neruda nur um zwölf Tage.
Nun liegt nach über zwanzig Jahren wieder eine große dreibändige Werkedition der Gedichte Pablo Nerudas im Luchterhand Literaturverlag vor, der sich seit den 60er Jahren um das Werk des chilenischen Dichters in deutscher Sprache verdient macht. Die erweiterte Neuausgabe enthält nicht nur die Lyrik, die Neruda Zeit seines Lebens veröffentlichte, sondern auch die im Nachlass entdeckten Gedichte des Autors.
Die dreibändige Ausgabe im Schmuckschuber bringt neben den großen Gedichtzyklen auch die für den deutschen Leser bisher weniger bekannte Lyrik Nerudas. Band 1 beginnt mit den frühen Gedichtzyklen „Balladen von den blauen Fenstern“ (1919-20) und „Zwanzig Liebesgedichte“ (1924), die von Melancholie und Innerlichkeit geprägt sind, aber schon die Herausbildung eines eigenen lyrischen Stils zeigen.
Höhepunkt im lyrischen Schaffen Pablo Nerudas ist das gewaltige Versepos Der Große Gesang (Canto general, 1950), in dem der Dichter Ende der 30er Jahre Lateinamerika, dessen Geschichte und die alten indianischen Kulturen wiederentdeckte. Die 15.000 Verse sind eine Hymne auf die Geschichte, Landschaft und Menschen des südamerikanischen Kontinents. Mit diesem weit gespannten und epochalen Werk wollte Neruda, wie er selbst sagte, die durch den Feudalismus, durch Rückständigkeit und fremde Ausbeutung hinausgezögerte Geburt eines Kontinents in das historische Bewusstsein des Volkes heben. Darüber hinaus gilt Canto general auch als Völker verbindendes humanes Bekenntnis für die Menschenrechte.
Der zweite Band versammelt vorrangig die Gedichtzyklen der 50er Jahre, u.a. Die Trauben und der Wind, der wegen des stalinistischen Tenors umstrittenste Lyrikband des Autors. In seiner umfangreichen Sammlung von Oden Elementare Oden (1954), Neue Elementare Oden (1956) und Drittes Buch der Oden (1957) preist Neruda die einfachen Dinge des Lebens, während er in Extravaganzenbrevier (1958) die Probleme seiner eigenen Entfaltung verarbeitet.
Im Mittelpunkt des dritten Bandes steht Nerudas eindringliches Lebenszeugnis Memorial von Isla Negra (1964), in dem Dichtung und Biografie verschmelzen. Wie in seinen Memoiren legt er hier eine kritische Rechenschaft über sein Verhältnis zum Stalinismus ab. Der Gedichtzyklus gilt als das Hauptwerk in Nerudas später Phase. Den Abschluss der Edition bildet das postume lyrische Werk mit acht Gedichtzyklen, die erstmals 1974 erschienen waren.
Nerudas Lyrik ist eine erzählende und stimmungsvolle Lyrik mit leidenschaftlichen Lebens- und Naturbildern. Obwohl ihr mitunter der Hang zum Pathos anhaftet, wirkt sie in der Verbindung von politischen Engagement und humanistischer Grundhaltung absolut glaubwürdig, ja beispielgebend.
Die preiswerte Edition aus dem Luchterhand Literaturverlag macht auf knapp 3.000 Seiten mit einem der wichtigsten poetischen Werke des 20. Jahrhunderts bekannt. Schnell wird dem Leser bewusst, dass dies Gedichte sind, die einen ein Leben lang begleiten können, denn es gibt in ihnen immer etwas Neues zu entdecken. Insgesamt eine sehr gelungene und längst fällige Gedichtsammlung.
Manfred Orlick
– Pablo Nerudas lyrisches Werk wird ediert. –
Vor mehr als zwanzig Jahren gab es eine Debatte über den „Fall Neruda“. Hans Magnus Enzensberger hatte sie eröffnet, indem er die Frage aufwarf, wie ein Bahnbrecher der lyrischen Moderne sowohl mit der literarischen Tradition der Gattung als auch mit seinem eigenen Frühwerk brechen konnte, um bei beklemmendem Niveauverlust zum Parteibarden und Stalinhymniker herabzusinken.
Pablo Neruda, Nobelpreisträger 1971, hatte als Verfasser von Liebes- und Naturlyrik begonnen, hatte die Schönheiten seiner südchilenischen Heimat mit ihren Vulkanen und antarktisnahen Regenstürmen, ihren aus Indianern und europäischen Einwanderern gemischten Bewohnern besungen und die Holzarbeiter und Eisenbahner jener Armutsgegend, dem patagonischen „Grenzland“, poetisch ins Werk gesetzt.
Dann verbrachte der Chilene lange Jahre als Konsul seines Landes in Ostasien, später in Argentinien und in Spanien. Dort erlebte Neruda aus unmittelbarer Anschauung die Greuel des spanischen Bürgerkrieges; besonders erschütterte ihn das düstere Verbrechen der Erschießung seines Freundes García Lorca durch die Francisten, Neruda wurde, freilich vor dem Hintergrund seiner lateinamerikanischen Herkunft, zum politischen Dichter, zum konsequenten Parteimann zunächst der chilenischen KP, später auch internationaler Reisestar und vielbeachtete Figur unter den engagierten Poeten, Stalinpreisträger 1953.
Die Vorhaltungen Enzensbergers, schwungvoll, aber offenbar ohne genauere Kenntnis von Nerudas Œuvre heraustrompetet, ließen sich hierzulande niemals recht überprüfen, weil es in der Bundesrepublik an einer brauchbaren Neruda-Ausgabe mangelte. Die triste zweibändige Luchterhand-Auswahl Dichtungen von 1967 (1977 wurde sie nochmals einbändig nachgedruckt) verdient hier Erwähnung als eine der widerwärtigsten Klitterungen unseres Buchmarktes. Hatte Enzensberger den Stalinisten und Programmsänger Neruda aufs Korn genommen, so präsentierte der sonst so verdienstliche Lyriker und Übersetzer Erich Arendt nunmehr – offenbar im Gegenzug – einen bürgerlich zurechtgetrimmten Neruda, einen Dichter folglich, dem man die Zähne gezogen hatte, indem man stalinistische Texte ebenso unterschlug wie Nerudas wütende Angriffe gegen Hitler-Deutschland und den US-Imperialismus. Neruda selbst hat sich übrigens stets ausdrücklich zu seinen Irrtümern bekannt und beispielsweise die kitschige Ode auf Stalins Tod (in Die Trauben und der Wind, 1954) in späteren Ausgaben nachdrucken lassen. So findet sich der bundesdeutsche Neruda-Leser noch immer eingeklemmt zwischen Enzensbergers rüder Kritik und einem übel geschönten Neruda-Bild der älteren Edition. Deshalb ist es zu begrüßen, daß nunmehr endlich eine dreibändige Ausgabe von Nerudas „Lyrischem Werk“ Gelegenheit gibt, diesen Koloß, den Verfasser des wohl umfänglichsten Vers-Œuvres in unserem Jahrhundert, unverstellt und textgetreu zu besichtigen.
Der erste Band umfaßt die Werkspanne zwischen den Zwanzig Liebesgedichten von 1924 bis hin zu den Versen des Kapitäns von 1952, er enthält mithin auch die Riesenzyklen Aufenthalt auf Eden und den Großen Gesang von 1950. Vom Schmerzens- und Verzweiflungston der frühen erotischen Verse über die Politisierung in den dreißiger Jahren bis hin zur weiträumigen Kosmogonie des amerikanischen Kontinents mit seinen historischen Aufschwüngen und Niederbrüchen von der Kolonialzeit bis zur gegenwärtigen Wirtschaftsausbeutung zeichnet sich nicht nur das Dasein dieses markanten Dichters, sondern die Schicksalskurve des ganzen Jahrhunderts ab.
Editorisch bringt dieser erste Band wenig Neues: Das frühe Buch der Morgendämmerung (1923) fehlt leider, obgleich es einige der bekanntesten Neruda-Strophen enthält. Die übrigen Zyklen stellen eine Buchbindersynthese älterer Ausgaben aus DDR und Bundesrepublik dar. Übersetzer sind Erich Arendt, Stephan Hermlin und Fritz Vogelgesang. Da man leider nicht zweisprachig edieren wollte, bleibt immerhin zu sagen, daß die Übertragungen Abstand halten vom Prinzip „Nachdichtung“ und in passabler Weise zu erkennen geben, was in den Originalen steht, wie die großformatigen Ringkompositionen Nerudas angelegt sind (allein der Große Gesang umfaßt weit über dreihundert Gedichte), wie Abschnitte, Strophen, Verse sich gliedern.
Eher enttäuschend bleibt das editorische Beiwerk. Zwar sind Abweichungen und Auslassungen gering gegenüber der dreibändigen argentinischen Ausgabe von Nerudas Dichtung. Da der Herausgeber sich aber ausdrücklich auf diese Edition stützt, hätte er überprüfen und ältere Übertragungen aktualisieren müssen. Ganz unbefriedigend bleibt der kommentierende Aufwand: Gut zwanzig Seiten Namen und Daten, obendrein zumeist aus älteren DDR-Ausgaben übernommen, genügen in keiner Weise, hier hätten Herausgeber und Verlag erheblich ergänzen müssen.
Immerhin: Auch wenn dieser erste Neruda-Band wenig Überraschendes beschert, so ist allein schon sein gründliches Sammelverfahren nützlich und geeignet, unserem Neruda-Bild jenseits von Polemik und kaltem Krieg Kontur zu verleihen. Mit Interesse darf man den nächsten Bänden, vor allem dem erstmals auf deutsch erscheinenden Spätwerk Nerudas, entgegensehen. Federico Schopf, exilierter Landsmann des chilenischen Dichters, hat eine kleine Neruda-Anthologie in Text und Bild erstellt: Chile mein Land. Hier findet, am Leitfaden von Biographie und Natur, ein Streifzug durch Nerudas gigantisches Werk statt. Ob es sinnvoll ist, sich blätternd, punktuell lesend, Fotos betrachtend, diesem Schriftsteller anzunähern, wobei der politische Aspekt einmal mehr fast ganz ausgeblendet wird, steht dahin. Was zum „Fall Neruda“ jetzt not tut, ist nicht Schnitzeljagd und Aphorismus, sondern ein unvoreingenommenes Sicheinlassen auf die tatsächlichen Dimensionen dieses Schlüssel-Œuvres der modernen Weltliteratur.
Hanspeter Brode, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.9.1984
– Das lyrische Werk Pablo Nerudas in drei Bänden. –
Der Chilene Pablo Neruda hat das wohl umfangreichste lyrische Werk von Rang in unserem Jahrhundert geschaffen: ungefähr dreißig Gedichtbände mit zusammen weit über fünftausend Seiten. Nerudas Lyrik gruppiert sich in weiträumigen Zyklen, von denen einige, zum Beispiel der Canto general von 1950 oder die vielteiligen Odenwerke, Aberhunderte von Gedichten umfassen.
Diesen Koloß in deutscher Übertragung zu würdigen, ermöglicht eine Werkausgabe in drei voluminösen Bänden, deren letzter jetzt vorliegt. Er präsentiert neben den späten Zyklen des. Dichters das postume Werk erstmals auf deutsch. Sein Inhalt: die Sammelbände Seefahrt und Rückkehr, Memorial von Isla Negra, Die Hände des Tages, Weltende und „Noch“ erschienen zwischen 1959 und 1971. Dem ist eine Auswahl des postumen Werkes in acht (von siebzehn überlieferten) Gedichtbänden Nerudas angefügt.
Einen bedeutenden Gewinn für hiesige Leser stellt die gewaltige Sammlung Memorial von Isla Negra von 1964 dar, die es bislang nur in einer älteren DDR-Ausgabe gegeben hatte. Der Dichter rekapituliert in den frei ausschwingenden Versen und Odenstrophen dieses Erinnerungsbuches in bewegender Weise noch einmal seine Lebensstationen: die Herkunft aus „Araukanien“, dem rauhen Süden Chiles, die einfache Abkunft der Eltern (Nerudas Vater war Eisenbahner), Schulzeit und Lektüren (beispielsweise werden Nietzsche, Gorki und Victor Hugo genannt), dann die Studentenjahre, erste Liebeserlebnisse, die Jahre als chilenischer Konsul in Ostasien, die einschneidende Erfahrung des spanischen Bürgerkrieges und die spanischen Freunde, vorab García Lorca, zuletzt auch Reflexionen zu Chiles politischer Gegenwart. Ein ins Große zielender Wehmutston beherrscht diese Versmassen; die Tradition europäischer Dichtung, zum Beispiel der Klang Heinrich Heines, stellt sich ein, wenn es heißt:
Mitten in der Nacht frage ich mich,
was geschieht mit Chile?
Weitere Gedichtsammlungen Nerudas sowie das postume Werk sind abgestimmt auf Kindheitsbeschwörungen und gelassenen Lebensrückblick, auf Fragen am Ausgang unseres Jahrhunderts sowie andeutungsweise auf den politischen Kampf, dem Neruda sich in den letzten Lebensjahren als Weggefährte Salvador Allendes besonders intensiv aussetzte. Die „Osterinsel“ mit ihren Riesenmalen wird besungen, die Vulkanlandschaft des heimatlichen Südens ist gegenwärtig wie ein fortdauernder cantus firmus, mit „Gautama Christus“ klingen Reminiszenen aus der asiatischen Sphäre an, die sich – Spannweite von Pablo Nerudas Denken und Bilden – mit Nixon und Napalmbomben in Vietnam überkreuzen.
Besonders sind es die beiden Schockerfahrungen seiner politischen Vergangenheit, die Neruda in beständiger Erschütterung umkreist: zum einen die Erinnerung an das republikanische Spanien, dessen blutige Niederwerfung Neruda zum politischen Dichter formte. Zum anderen das Eingeständnis der katastrophalen Fehleinschätzung Stalins, die im Gefolge der Entstalinisierung durch Chruschtschow 1956 eine schwere Krise im politischen und dichterischen Selbstwertgefühl Nerudas auslöste.
Ein „Stalin“-Gedicht im 1974 veröffentlichten Zyklus „Elegie“ rührt abermals an diese peinvolle Wunde:
Da kam der Teufel, gab ihm Stricke,
gab Peitschen ihm und Taue.
Das Land war voll von seinen Plagen,
in jedem Park hing ein Gehenkter.
Neruda, der gewaltige Poet, war großartig auch in seiner Redlichkeit, Irrtümer einzubekennen: und so darf er sich am Ende seines Lebens als Dichter bezeichnen, der mehr als einer Weltepoche zugehört:
Denn ich Klassiker meines Araukaniens,
Kastilier den Silben nach, doch Zeitgenosse
El Grecos und der geschundenen Seinen,
Kind Apollinaires oder des Petrarca
heißt es voll stolzen Selbstgefühls im allerspätesten Werk des Chilenen. Die drei dickleibigen Bände mit Nerudas Lyrik bieten einen repräsentativen Querschnitt. Dabei wurden aus dem letzten Werk die scharf zugespitzten politischen Gedichtbände ausgeschlossen, so etwa das Fidel Castros Revolution feiernde Heldenepos von 1959 oder die 1973 geschriebene harsche „Anstiftung zum Mord an Nixon und Lob der chilenischen Revolution“. Die vorliegende großräumige Auswahl akzentuiert also ein eher poetisches und wohl auch autobiographisch-nostalgisches Bild des Dichters.
Jede einsprachige Darbietung von Lyrik wirft editorische Fragen auf. Wie bei den früheren Lyrikbänden erklärt der Herausgeber die argentinische Neruda-Ausgabe von 1973 zur verbindlichen Textgrundlage (siehe F.A.Z. vom 12. September 1984 und 25. November 1985). Aber dies stimmt abermals nicht. Nur ein Beispiel: In der deutschen Ausgabe wird der Neruda-Zyklus Noch (Aún) auf 1969 datiert, wohingegen dem Original die Jahreszahl 1971 vorangestellt ist.
Auch mit den Übersetzungen hapert es. Erich Arendt, selbst ein Poet von Format, übersetzte inhaltlich und formal zuverlässig. Gleiches läßt sich leider von Monika Lopez nicht behaupten, der die Mehrzahl der jetzt veröffentlichten Übertragungen zu verdanken ist. Vieles ist verzerrt, und vom Gespreizten bis zum Unsinnigen ist es oftmals nur ein kleiner Schritt. So fällt auf, daß die Abteilung von Versgruppen oder die Verszahl einzelner Strophen im Deutschen geändert sind: Willkür unterm Vorwand von Übersetzerpoesie.
Insgesamt jedoch darf man das „Lyrische Werk“ von Pablo Neruda in der vorliegenden Edition als eine recht nützliche Leseausgabe bezeichnen. Die Eigenbeiträge des Herausgebers bleiben allerdings – mit jeweils einem biographischen Nachwort, Anmerkungen, Glossar und Zeittafel – ziemlich bescheiden und stehen in keinem Verhältnis zu Umfang und Preis der dicken Bücher. Größter Vorzug der Ausgabe: Die bewährten und vollständigen Übertragungen Erich Arendts sind in kompakter Form greifbar. Pablo Neruda ist, zumindest in seinen monumentalen Umrissen, nun auch für deutsche Leser zu besichtigen.
Hanspeter Brode, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.3.1987
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Pablo Neruda
Ugné Karvelis: Ein Tag auf der Isla Negra, Sinn und Form, Heft 5, 1974
NERUDAS BLAU
Das Blau war außer sich vor Freude
Als wir geboren wurden.
Denn zuerst war das Licht
Dann folgte das Blau
Dann folgte der Mensch
Und das Blau erfand ein paar Maler
Und dann und wann einen Dichter dazu.
Elisabeth Borchers
Jürgen P. Wallmann: „Ich werde niemanden exkommunizieren“
Die Tat, 21.9.1974
Uwe Berger: Seine Poesie ist Stimme des Volkes
Neues Deutschland, 12.7.1979
H. U.: Einheit von Poesie und Politik
Neue Zeit, 11.7.1979
Hans-Otto Dill: Seine Dichtung – leidenschaftlicher Hymnus auf den Kampf der Völker
Neues Deutschland, 12.7.1984
Volodia Teitelboim: Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1984
Margit Klingler-Clavijo: Ich bekenne, ich habe gelebt
Deutschlandfunk, 12.7.2004
Josef Oehrlein: Die drei Archen des Dichters
Cicero
Karin Ceballos Betancur: Das Kind und der Dichter
Die Zeit, 8.7.2004
Holmar Attila Mück: Krieger mit der Lyra
Deutschlandradio Berlin, 12.7.2004
Leopold Federmeier: Der trunkene Durst des begeisterten Schleuderers
Neue Zürcher Zeitung, 12.7.2004
Sergio Villegas: Beerdigung unter Bewachung
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1978
Karl Bongardt: Seinen Atem durchwob die singende Liebe
Neue Zeit, 24.9.1983
Holger Teschke: Sänger des Regens und der Klassenkämpfe
junge Welt, 23.9.2023
Manfred Orlick: „Ich bekenne, ich habe gelebt!“
literaturkritik.de, 23.9.2023
Gerhard Dilger: Dichterfürst im Zwielicht
taz, 23.9.2023
Benjamin Loy: Schwieriges Schweigen
ORFSound, 20.9.2023
Pablo Neruda – Fragmente zu einem Portrait. Ein Film von Hans Emmerling, 1974
Pablo Neruda – Lesung und Interview des Literaturnobelpreisträgers 1971.
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