GEDICHT 201
Die beiden Menschen, einsam,
als erste Menschen
dort oben
was nahmen sie mit
von uns?
Von uns Menschen,
der Erde?
Mir kommt in den Sinn
dass es neu war, dies Licht,
dieser spitze Stern
auf der Reise,
der die Ferne
berührte, verkürzte,
neu die Gesichter
in weiter Einsamkeit,
im reinen Weltraum
zwischen den Sternen, fein und feucht
wie das Gras im Morgengrauen,
etwas Neues kam von der Erde,
Flügel oder Schaudern,
große Tropfen Wasser
ein Gedanke
unerwartet, seltener Vogel
der pochte
mit fernem menschlichem Herzen.
Doch nicht nur das,
auch Städte, Rauch,
der Lärm der Massen,
Glocken, Geigen,
Kinderfüße vor der Schule,
all das lebt nun,
von nun an,
im Weltraum,
denn die Astronauten
reisten nicht allein,
sie nahmen mit sich unsere Erde,
den Geruch von Moos und Wald,
die Liebe, Band von Mann und Frau,
Erdenregen auf der Wiese,
etwas schwebte gleich
einem Brautkleid
hinter den zwei Schiffen her im Raum:
es war der Frühling der Erde
der zum ersten Mal erblühte,
den unbelebten Himmel eroberte
und zurückließ dort oben
den Samen
des Menschen.
Seit 1986 widmet sich die Fundación Pablo Neruda der Aufgabe, den Nachlass des Dichters zu bewahren und zu schützen. Dazu gehört eine reichhaltige Sammlung von Originalmanuskripten und Typoskripten. Diese Dokumente werden in besonderen Kassetten aufbewahrt, die das Papier konservieren. Sie befinden sich in einer Stahlkammer, in der Feuchtigkeit und Temperatur streng reguliert und alle Sicherheitsmaßnahmen befolgt werden, die man für derlei Schriftstücke empfiehlt.
Die in diesem Band erstmals veröffentlichten Gedichte sind der Witwe des Dichters, Matilde Urrutia, bei ihrer Durchsicht entgangen. Sie hatte die Sammlung als Erste geordnet und sich auch als Erste auf die Suche nach weiteren Texten begeben, die noch unveröffentlicht oder in schwer auffindbaren Zeitungen erschienen waren. Trotz Matilde Urrutias sorgfältiger Arbeit warteten einige Gedichte weiterhin auf ihre Veröffentlichung.
Im Juni 2011 begann die Fundación Pablo Neruda damit, die Originalmanuskripte und Typoskripte vollständig zu katalogisieren, mit einer detaillierten Beschreibung der einzelnen Dokumente und der Angabe, in welchem Band sie zuerst erschienen waren. Ebenso wurde überprüft, ob die Texte vollständig waren oder lediglich Fragmente, und man verglich sie mit den veröffentlichten Versionen. Jedes einzelne Stück Papier wurde begutachtet, und dabei kam es zu überraschenden Funden.
Es war eine außergewöhnliche Reise ins Innere von Nerudas Dichtung, zurück zu ihrem Ursprungsmaterial. Durch die Arbeit mit den Originalen war man ganz nah am Puls des Dichters. Man konnte zurückgehen bis zum Entstehungsmoment der dichterischen Schöpfung. In seinem Buch Beben des Meeres beschreibt Neruda die Organismen und Überreste, die das Meer an den Strand spült. Beim Eintauchen in seine Manuskripte hatten wir manchmal das Gefühl, als glitten Verswellen über das Papier, die bei ihrem Rückzug die verworfenen, korrigierten Wörter mitnahmen und eine immer vollendetere Version des Gedichts zurückließen.
Besonders interessant war der Einblick in die handschriftlichen Entwürfe, die wahrscheinlich erste Gedichtversionen darstellten. Die Verszeilen weisen dabei mal schräg nach oben, mal schräg nach unten, sind hier und da von Streichungen oder Korrekturen unterbrochen.
Wir konnten uns auch ein Bild von weiteren Details machen, etwa von den Schreibutensilien, mit denen der Dichter arbeitete: Schulhefte der fünfziger und sechziger Jahre, Blöcke in verschiedenen Größen, manche im Ausland hergestellt, lose Blätter, verschiedenfarbige Tinten. Manchmal schrieb er auch auf den Speisekarten und Konzertprogrammen der Schiffe, auf denen er reiste. Seine Verse zwängen sich zwischen die Auswahl der Vorspeisen, der Hauptgänge, des Nachtischs und der Weine.
Auf einigen Typoskripten finden sich zahlreiche handschriftliche Korrekturen des Dichters. Manche Gedichte sind dagegen unberührt oder zeigen nur minimale Eingriffe. Der Weg zur gedruckten Fassung führte über Handschrift und Tinte, über das Farbband und über das Tippen auf Durchschlagpapier.
Einige wenige Gedichte schienen sich zu weigern, diesen Weg bis zum Ende zu gehen. Ihr Ausnahmecharakter macht sie besonders interessant. Nichts deutete auf ihren besonderen Status hin, bislang unveröffentlicht geblieben zu sein. Wir suchten wieder und wieder, erwarteten, sie in einem von Nerudas zahlreichen Lyrikbänden zu finden oder in den Sammelbänden seiner verstreuten Veröffentlichungen, ohne Ergebnis. Als hätten sie sich im Urwald der Originale versteckt, sich unter abertausend Blättern, abertausend Wörtern getarnt, um siegreich unentdeckt zu bleiben.
Diese unveröffentlichten Gedichte entstanden über einen langen Zeitraum, von den frühen fünfziger Jahren bis 1973, kurz vor dem Tod des Dichters. Die Abschrift folgt exakt dem Originaltext. Nur Akzente wurden in eindeutigen Fällen gesetzt, ansonsten haben wir die ursprüngliche Orthographie respektiert, vor allem die fehlenden Satzzeichen. Die Faksimiles im Anhang zeigen einige der handschriftlichen Fassungen und bieten einen kleinen Überblick über die Vielfalt der Papiere, auf die sie geschrieben wurden. Der Anmerkungsteil am Ende des Buches beschreibt die Besonderheiten eines jeden der gefundenen Manuskripte und gibt Hinweise zu ihrer Datierung und Situierung im Werk Pablo Nerudas. Es soll jedoch betont werden, dass es sich nicht um Varianten bereits veröffentlichter Gedichte handelt. Die Texte stehen für sich, und jeder einzelne findet seinen Platz unter den großen Themen Nerudas: die Liebe, Chiles Natur, die Welt und die Dinge, die sie bevölkern, Nerudas eigene Biographie, die Pflichten des Dichters, das Reisen, der Mensch und sein Handwerk, seine Arbeit, die Selbstporträts.
Aufgrund ihrer literarischen Qualität und Bedeutung verdienen diese Gedichte zweifellos, ins gedruckte Werk Pablo Nerudas einzugehen. Sie zeigen ihn erneut als unerschöpflichen Dichter. Unerschöpflich nicht nur, weil unveröffentlichte Texte von seiner Hand aufgetaucht sind – ein seltener Fund und ein literarisches Ereignis ersten Ranges –, sondern weil sie neue Lesarten erschließen und zahlreiche, vielfältige Wiederbegegnungen mit seinem umfangreichen Werk ermöglichen.
Darío Oses, Leiter der Bibliothek und des Archivs der Fundación Pablo Neruda, Vorwort
gilt als einer der bedeutendsten Dichter der Weltliteratur. Mit 20 Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung eroberte er die Herzen der Leser weit über die Grenzen Südamerikas hinaus. Vierzig Jahre nach Nerudas Tod wurden nun 21 Gedichte im Nachlass des Nobelpreisträgers entdeckt – darunter auch sechs neue Liebesgedichte.
In Dich suchte ich besingt Neruda die Liebe und den Schmerz der Trennung, er erzählt von Chile, von der Natur seines Heimatlandes, vom Reisen. Verse, spontan zu Papier gebracht auf Zetteln, Menükarten, Konzertprogrammen, wie die diesem Band beigefügten Faksimiles zeigen. In diesen erst vor wenigen Jahren entdeckten Gedichten begegnen wir einem der wichtigsten lateinamerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt seines Schaffens.
Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 2014
– Gedichte aus dem Nachlass von Pablo Neruda. –
Als im Juni 2014 die Nachricht durch die Feuilletons rauschte, man habe bei der Katalogisierung von Originalmanuskripten und Typoskripten unveröffentlichte Gedichte von Pablo Neruda gefunden, schien er wieder einmal zurückgekehrt – von einer seiner zahlreichen Reisen, die der Dichter zeitlebens gewollt oder ungewollt unternommen hatte. Es sei der wichtigste Fund aus dem literarischen Nachlass, den man je gefunden habe, so die chilenische wie auch internationale Presse einhellig.
Nun liegen diese Gedichte auch auf Deutsch vor, unterteilt in sechs „Liebesgedichte“, die vermutlich vorwiegend seine letzte Ehefrau Matilde besingen, und vierzehn „Andere Gedichte“. Verfasst zwischen 1952 und 1973, stellen sie eine Art Gelegenheitsdichtung dar. Neruda habe sie in Schulhefte, auf Blöcken und losen Blättern, auf Speisekarten oder Ähnlichem notiert, wie das „Gedicht 14“, das Neruda auf Programmzettel für ein Konzert schrieb:
der Mensch ist beschäftigt heute
betrachtet nicht den tiefen Wald
wirft keinen spähenden Blick mehr ins Laub
für ihn fallen keine Blätter vom Himmel
So heißt es in der zweiten Strophe.
Damit sind wir auch im Herzen der Dichtung Nerudas angelangt. „Vielleicht waren Liebe und Natur sehr früh schon die Lagerstätte meiner Dichtung“, schreibt er in seinen Memoiren Ich gestehe, ich habe gelebt. Im „Gedicht 16“ wendet sich das lyrische Ich direkt an die Natur („Sonne und Wasser auf / deiner grünen Haut, / in deinem grünen Schutzschild atmet / die auflebende Erde“) oder in „An die Anden“, hier das einzige Poem mit einem Titel, in dem der Frühling ebenfalls das Wiederaufleben der Natur und des Menschen verkörpert. Dabei war Nerudas Poesie schon früh von sozialer Verantwortung durchdrungen. „Meine Leute / härteten sich die Hände / beim Graben / nach spröden Erzen, / sie kennen / das Harte“, heißt es im Andengedicht. Im „Gedicht 7“ wendet er sich an junge Dichter:
Junge
sei im Leben
ein guter Heizer,
tu dich nicht
groß als Schreibfeder.
Humor und Selbstkritik sind weitere Eigenschaften von Nerudas Poetik. Ähnlich erheiternd wie viele seiner Oden ist das „Gedicht 19“. Es ist dem Telefon gewidmet.
Ich wurde Telefieber, Telefimmel
heiliger Telefant,
tat einen Kniefall, wenn die schreckliche
Klingel des Despoten streng verlangte
nach Aufmerksamkeit, Ohren, Blut
Eine gelungene Auswahl an Gedichten: Wir erkennen den großen Meister wieder; seine poetisch-epische Sprachgewalt, reich an Metaphern, Bildern und Allegorien, lernen wir einmal mehr schätzen.
Pablo Neruda (1904–1973), der auch als Konsul seines Landes in vielen Ländern unterwegs gewesen war, einige Jahre ins Exil musste, zählt zu den bedeutendsten Dichtern, die Lateinamerika im vorigen Jahrhundert hervorbrachte.
Wie kann es aber passieren, dass mehr als vierzig Jahre die Gedichte des Literaturnobelpreisträgers in einem Archiv vergraben blieben? Seiner Witwe Matilde Urrutia seien sie schlicht entgangen (!), erfahren wir aus der Einführung von Darío Oses, von der Stiftung Pablo Neruda aus Chile.
Vorliegende Sammlung erreicht vielleicht nicht die ästhetische Vollendung von Nerudas Opus magnum Der große Gesang oder Aufenthalt auf Erden. Doch gerade diese „relative Unvollkommenheit“, da nicht vom Autor bearbeitet, macht das Büchlein zu einer literarischen Einzigartigkeit. Die Gedichte geben Anlass, sich wieder einmal in den Urwäldern des unermüdlichen Dichters zu verlieren. Für Liebhaber gibt es anschließend Faksimiles der Gedichte, einen informativen Anhang für solche, die mehr über die Gedichte wissen wollen.
– Es geht natürlich um die Liebe in den Nachgelassenen Gedichten des chilenischen Nobelpreisträgers Pablo Neruda, und um Ratschläge an junge unbekannte Dichter. –
Gern nannte sich der Dichter Pablo Neruda einen Sänger. Er besang die Liebe, den Weizen und den Himmel, aber auch den Kampf gegen Armut und Unterdrückung. Schon lange vor Bob Dylan also gab es einen Sänger, der den Nobelpreis für Literatur erhielt, im Jahr 1971. Dich suchte ich heißt ein neuer, schön gestalteter Band mit nachgelassenen Gedichten. „Dich suchte ich“ ist eine Zeile aus dem dritten Gedicht, schlicht, doch von der für Neruda so typischen nervösen Sehnsucht ergriffen, genauso wie die Zeile „Deine Füße fasse ich im Schatten“ – Tus pies toco en la sombra, so heißt das Buch im Original.
Überraschend wirkt es nicht, wenn der Verlag in Titel und Aufmachung wieder auf den populären Liebesdichter setzt. Denn selten war es früher verkehrt, der Liebsten, verstohlen auch der Zweitliebsten, eine Sammlung mit Nerudas Liebesgedichten zu schenken. Dabei stehen im zweiten Teil, nach dem ersten der „Liebesgedichte“, die stärkeren Verse; noch dazu sind sie in der Überzahl. Am besten nuschelt man sie, um das Pathos zu dämpfen, dylanmäßig vor sich hin, die Stimme kann ruhig etwas kratzen, ein Gedicht hält das aus. Geduckt und etwas verlegen wird der zweite Teil unter der Überschrift „Andere Gedichte“ zusammengefasst.
In einem dieser anderen Gedichte erblickt der alt gewordene Dichter, „Auch auf der Höhe / dieser Jahre / oben auf den / Kordilleren meines Lebens“, einen jungen Dichter am Strand, Verstreutes auflesend, Zeit vertrödelnd; er erkennt sich selbst in diesem Bild. Wie Rainer Maria Rilke in Briefe an einen jungen Dichter erteilt der Alte dem Jungen unverlangte Ratschläge:
gut, Junge, und nun
höre zu
bewahre
dehne dein Schweigen
bis in dir
die Wörter
reifen.
Er möge sich nicht groß hervortun „als Schwan, / als Trapezkünstler zwischen Sätzen hoch oben / und dem leeren Rund“. Stattdessen ruft ihn der Alte zur Arbeit, an die Kohlen, ans Feuer, „du musst / dir die Hände beschmutzen / mit verbranntem Öl“.
Der Gefahr, vor lauter Verehrung abzuheben, war sich Neruda durchaus bewusst. „,Bilde dir nichts ein‘, schrieb jemand / an meine Wand“, heißt es in einem weiteren anderen Gedicht. Anfangs wehrt er den Angriff ab, sieht nichts als eine Projektion darin, die Eitelkeit der selber Eitlen. Zwischendurch aber schlägt eine Überlegung, nur durch ein Komma getrennt, in Gewissheit um:
Vielleicht
bin ich eingebildet,
auch ich bin eingebildet.
Toll, denkt man, jetzt hat er es gesagt. Aber dann nimmt er das Eingeständnis wieder zurück, spricht von seinen ausgelatschten Schuhen, davon, dass er nur alle fünf Jahre einen neuen Anzug bestellt. Und was die eigenen Gedichte betrifft, so vergesse er sie, kaum dass er sie geschrieben habe. Mit diesen Versen verwandt ist seine „Ode an den Neid“, längst veröffentlicht in Elementare Oden. Was tun, wenn dir ein Neider etwas Unliebsames, gar eine Wahrheit an den Kopf wirft?
Ich werde fortfahren zu singen.
21 Gedichte enthält dieser Band. Anstelle von Titeln tragen sie Nummern, bis auf Nr. 15, „An die Anden“. Wie es passieren konnte, dass die Witwe, Matilde Urrutia, als sie den Nachlass sichtete, 21-mal einGedicht übersah, ist schwer vorstellbar. Erst als die Fundación Pablo Neruda in Santiago de Chile 2011 begann, die Originale zu katalogisieren, und zwar Papier für Papier oder auch Fitzel für Fitzel, wurden sie entdeckt. Manche lagen in Schachteln mit anderen Gedichten, die bereits gedruckt worden waren. Manche standen in Schulheften, wiederum mit anderen, bereits gedruckten. Neruda schrieb sie auch auf lose Blätter, auf eine Speisekarte oder das Konzertprogramm einer Schiffsreise. Einige Faksimiles in diesem Buch zeigen eine gut lesbare Handschrift, einmal, auf der Speisekarte, leicht abschüssig, was nicht am Wellengang gelegen haben kann. Korrekturen nahm Neruda entschlossen vor, also wild herumkritzelnd.
In Anmerkungen zu jedem Gedicht erfährt man, wo es gefunden worden ist, was zumeist auch Rückschlüsse erlaubt auf die Zeit der Entstehung. Kreuz und quer wird auf das bereits publizierte Werk verwiesen. Ein Gedicht kommt selten allein. Noch die deutsche Übersetzerin Susanne Lange hat nach Namen recherchiert, die niemandem etwas sagten, nämlich Roa Lynn und Patrick Morgan. Sie stieß auf einen Artikel im New Yorker aus dem Jahr 2016, geschrieben von eben dieser Roa Lynn. Mit Patrick wollte Roa einst eigene Gedichte veröffentlichen, und sie hatte die verwegene Idee, Neruda daheim aufzusuchen und ihn um ein Vorwort zu bitten. Nach dem Mittagessen zog sich Neruda zum Lesen zurück und verfasste für sie ein durch die Lektüre inspiriertes Gedicht. Aber leider ist aus dem Gedichtband der jungen Leute nichts geworden.
Im „Gedicht Nr. 18“ dämmert die Nacht herauf. Jeder kehrt auf seine Weise nach Hause zurück, der Soldat von seinen Ängsten, sagt Neruda, der Indio von seinem Hunger, der Richter von Müdesein und Unwissen, der Intrigant von seinem Dolchstoß.
Und wie sie alle lege ich die Kleider ab,
schaffe mir in der Nacht aller Menschen
eine kleine Nacht für mich,
meine Frau kommt, Stille herrscht
und der Schlaf kreist wieder um die Welt.
– Gedichte aus dem Nachlass von Pablo Neruda. –
1952, vermutlich auf dem Rückflug von Europa nach Uruguay, schreibt Pablo Neruda ein Gedicht auf die Menükarte, ein Liebesgedicht. Es spricht vom roten Blitz des Haars der Geliebten und beteuert (in deutscher Übersetzung)
Du und ich, wir sind die Erde mit ihren Früchten.
Großzügig taucht das Gedicht die Nähe der Liebenden in ein weltumspannendes Pathos. Man meint die Freundin und Muse dicht neben dem schreibenden Dichter sitzen zu sehen. Das ist nicht abwegig, da sich auf der Menükarte auch noch die folgende Notiz findet:
Am 29. Dezember 1952 – 11 Uhr morgens – in 3.500 Metern Höhe fliegend – zwischen Recife und Río Janeiro.
Sie trägt die Handschrift Mathilde Urrutias. Mathilde war seit 1946 die Geliebte und Muse Nerudas und seit 1955 seine Frau. Sie war es auch, die des Dichters Nachlass ordnete, ehe sie selbst 1985 starb, zwölf Jahre nach Nerudas Tod.
Als in späteren Jahren die Fundación Pablo Neruda sich daranmachte, die Originalmanuskripte und Typoskripte vollständig zu katalogisieren, zeigte es sich, dass der Witwe eine Reihe von Gedichten entgangen war. Diese Texte wurden 2014 von der Fundación publiziert und sind jetzt in der Übersetzung Susanne Langes in einem schön gemachten Band vereinigt. Dich suchte ich enthält sechs Liebesgedichte und fünfzehn weitere Poesien, in denen der Eros Nerudas sich an anderen Themen abarbeitet.
Die wiedergefundenen Gedichte reichen von den frühen fünfziger Jahren bis in die Zeit kurz vor dem Tod des Dichters 1973. Sie wurden in Schulhefte und auf Schreibblöcke geschrieben, aber auch auf Schreibblöcke geschrieben, aber auch auf Speisekarten und Konzertprogramme. Manches ist handschriftlich durchkorrigiert, anderes zeigt nur minimale Eingriffe. Der Leser kann das auf gut zwanzig brauntonigen Faksimiles nachvollziehen, soweit er die Originale zu entziffern vermag. Manchmal wäre der spanische Klartext hilfreich gewesen.
Natürlich kreisen alle Liebesgedichte um Mathilde. Gleich das erste nennt sie beim Namen und rühmt „die Küsse, die dein Mund mich lehrte“. Das vierte Gedicht – vermutlich von 1964 – macht die Geliebte zu einer antiken Göttin und erweitert den Gedichtraum zur revolutionären Epoche. Auch die anderen Gedichte variieren die bekannten Themen Nerudas, die Liebe, die Landschaft und Natur Chiles, den tätigen Menschen und dessen Handwerk – auch das Handwerk des Dichters.
Das siebte Gedicht liest sich als Brief an einen jungen Kollegen. Doch der Adressat ist kein ratsuchender Novize wie in Rilkes berühmten Briefen an Franz Xaver Kappus, sondern der junge Mann, der Neruda selbst war. Diesem einstigen ich verleiht der Dichter die Figur eines Heizers und beschwört ihn, ein guter und ehrlicher Arbeiter zu sein:
Vergiss nicht die Deinen
oder die Erde,
werde hart
gehe
über die spitzen Steine
und kehre zurück.
Das klingt wie ein Motto für alle Poesie, die Neruda schrieb, so auch für die nachgelassenen Gedichte. Nr. 18 ist ein Hymnus auf die menschlichen Berufe. Zu Beginn steht wiederum der Heizer und zum Schluss – quasi als krönende Synthese – die Frau:
Meine Frau kommt, Stille herrscht
und der Schlaf kreist wieder um die Welt.
Man kann die Rolle der Frau in Nerudas Poesie gar nicht überschätzen. Sie übersteigt noch die Thematik von Kommunismus und Befreiung, und selbst Nerudas zeitweilige Begeisterung für die sowjetische Eroberung des „unbelebten Himmels“ ist von seiner Bewunderung des Weiblichen durchtränkt. In einer Rede hat der Dichter es drastisch formuliert und mit Blick auf die „schöne Kosmonautin Walentina“ formuliert, die Reisen in den Kosmos seien nicht vollständig gewesen, bevor eine Frau hinauf und wieder zurückgeflogen sei. Sagen wir also, alle Gedichte Nerudas sind im Grunde Liebesgedichte.
Intensität, Hingabe und Klarheit bilden die Signatur seines lyrischen Stils: Pablo Neruda, dessen Werk 1971 mit dem Literaturnobelpreis geadelt wurde. Den Poemen aus seinem Nachlass wohnt loderndes, südamerikanisches Feuer der Leidenschaft inne. Besungen wird die Geliebte, deren Haare, den Himmel kleiden. „Bin aus Erde und Weizen“, erfahren wir von einem lyrischen Ich, das sich mit Mehl und Stein entzündet.
Deshalb schwillt mein Herz empor und wird
zu Brot, damit dein Mund es verschlingt
Wem diese Verse zu erotisch sind, der kann in andere Tiefen des Autors vordringen, etwa in seine Verzweiflung über das Dasein im Exil. Eindringlich liest sich eines der letzten lyrischen Zeugnisse, das mit den Worten beginnt:
Guten Tag, ich grüße den Himmel. Es gibt kein Land.
Fernab von Chile fragt er nach dem Ort des Weinens und legt dar, wie er sein Schicksal lernte zu vergessen. Am Ende steht nur der Heimatverlust:
Weder Meer noch Land hat der Tag
berührende Poesie mit einfachen Worten.
Björn Hayer, Berliner Zeitung, 13./14.1.2018
Der chilenische Poet Pablo Neruda ist 1971 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden und ist einer der wichtigsten Dichter Südamerikas. Seine politischen Gedichte sind legendär, mit denen sich der unbequeme Kommunist und Politiker bei der damaligen Junta sein Todesurteil einheimste. Er starb jedoch infolge eines Karzinoms nur Stunden, bevor seine Häscher eintrafen, so sagte man damals. 2017 belegte eine internationale Ärztegruppe, die den Leichnam untersuchte, Neruda wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit während seines Krankenhausaufenthaltes im September 1973 vergiftet.
Manchmal schrieb er auch auf den Speisekarten und Konzertprogrammen, der Schiffe, auf denen er reiste. Seine Verse zwängten sich zwischen die Auswahl der Vorspeisen, der Hauptgänge, des Nachtischs und der Weine.
2011 katalogisierte die nach ihm benannte Stiftung Fundación Pablo Neruda in Santiago, jedes einzelne Blatt aus seinem Nachlass. Dabei traten 21 bisher unbekannte Gedichte ans Licht. Unter dem Titel Dich suchte ich sind sie nun in deutscher Übersetzung erschienen. Neruda schrieb auf jedem Papier, das ihm in die Finger kam. So rutschte das ein oder andere Gedicht wohl unter andere Papiere und wurde übersehen.
Die ersten sechs Gedichte sind „Liebesgedichte“, die wohl zum größten Teil seiner Frau Mathilde gewidmet sind. Es folgen „Andere Gedichte“ zur menschlichen Unzulänglichkeit, zur Liebe seiner Heimat und Naturerlebnisse. Da alle Gedichte handschriftlich verfasst sind, gibt es im Text einen * für „nicht lesbar“. Die Gedichte entstammen verschiedenen Zeiten, wohl ab den frühen Fünfzigern bis hin zu 1973. Möglicherweise wurden bei der Durchsuchung seines Hauses durch die Militärjunta damals weitere politische Gedichte vernichtet. Die Originalausgabe dieses Gedichtbandes, Barcelona 2014, trägt den Titel Tus pies toco en la sombra (Ich berühre deine Füße im Schatten)
Mit dir durch die Straßen
und den Sand, mit dir
die Liebe, die Müdigkeit,
das Brot, der Wein
die Armut und die Sonne einer Münze,
die Wunden, das Leid
die Freude. …
Das Telefon, eine neue Erfindung, mit der der Dichter sich damals nur ungern anfreundete, findet hier die Erwähnung:
… Ich wurde Telefieber, Telefimmel
heiliger Telefant,
tat einen Kniefall, wenn die schreckliche
Klingel des Despoten streng verlangte
nach Aufmerksamkeit, Ohren, Blut. …
Im Anschluss finden wir Faksimiles einiger handschriftlicher Gedichte, und es folgt ein Anhang zu den einzelnen Werken, Erklärungen zur Entstehung. Dieser Band ist für Neruda-Fans ein Muss. Ein wundervoller Band für alle, die noch an Gedichten interessiert sind. Ich gehe davon aus, dass dieser Band nur deshalb die Chance zur Veröffentlichung hatte, weil die Verse von Pablo Neruda stammen. Leider ist es heute so, dass sich kaum ein Verlag findet, der Gedichte veröffentlicht, schade.
Wolfgang Schott: Nachgelassene Gedichte von Pablo Neruda
fixpoetry.de, 18.11.2017
Der Holzzaun um das Haus in Isla Negra war lange Zeit von Graffiti der Bewunderer Nerudas übersät, in der Mehrzahl Gegner der Militärdiktatur. Isla Negra, einhundertzwanzig Kilometer von Santiago entfernt, ist keine Insel, und abgesehen von ein wenig Kohle, mit der sich allenfalls ein Steak grillen ließe, hat dieser Ort nichts Schwarzes.
Das Licht im äußersten Süden der Welt und der blitzende Schaum, der aus dem Meer quillt („als knete es einen unendlichen Brotteig“), geben der Gegend eine Lebendigkeit ohne jede Schwermut. Den Namen Isla Negra verdankt das Anwesen, das zuvor als Las Gaviotas („Die Möwen“) bekannt war, einer Laune des Dichters. Dass es inzwischen offiziell so heißt, bestätigt die Macht des Dichterworts und die eigentümliche Rolle Nerudas in Chile.
Eines der erwähnten Graffiti bringt dieses Privileg ohne Übertreibung zum Ausdruck:
Neruda no es chileno, Chile es nerudiano.
(Neruda ist nicht chilenisch, Chile ist nerudianisch.)
Was zuvor die Holzhütte des spanischen Seemanns Eladio Sobrino gewesen war, verwandelte sich mit dem Aufschwung und Erfolg des Dichters in einen Hort der Poesie, ein von der emsigen Matilde liebevoll eingerichtetes Haus, das Neruda wie ein kleiner Junge, der unersättlich Spielsachen zusammenträgt, mit Dingen anfüllte: Galionsfiguren, Astrolabien, Riesenschnecken, Karten, Korsarentruhen, Trophäen, Gemälden, Extravaganzen aller Art. Neruda, der Sammler wäre ein Buch, das ungeahnte Züge des Nobelpreisträgers enthüllen könnte.
Heute ist es, wie schon erwähnt, ein dem Dichter gewidmetes Museum, und häufig ergibt es sich, dass ich ausländische Freunde zur Küste begleite. Dank dieser Besucher kenne ich jeden Winkel des Hauses, also bleibe ich, während die Gäste sich umsehen, im Restaurant des Museums, wo es ein Fischgericht nach dem Rezept von Nerudas „Ode an die Seeaalsuppe“ gibt.
Beim Kaffee hänge ich meinen Erinnerungen an Spaziergänge und Gespräche mit dem Dichter nach, der mir, ohne es zu wissen, auch über mein Debüt als Mädchenverführer hinaus dank seiner Poesie kupplerische Hilfestellung leistete.
In meiner Jugend war es eine Quälerei, in Santiago einen Ort zu finden, um es mit der Freundin zu treiben: Ein Hotel war ebenso teuer wie vulgär. Zudem ließ die Nüchternheit des anonymen Zimmers das Verlangen des Mädchens auf den Nullpunkt sinken, und die enttäuschte Vorfreude beeinträchtigte die Entwicklung der Romanze. Auf dem elterlichen Sofa die Wangen zum Glühen und die Kleider in Unordnung zu bringen erregte uns nur, ließ uns aber unbefriedigt. Ein behaglicher Liebesakt in seidener Bettwäsche wie in den französischen Filmen der Nouvelle Vague, die damals nach Chile kamen, war für uns außer Reichweite.
Doch da ich ein kleines Auto besaß – einen superfranzösischen Citroen 2CV, der innen und außen mit Beatles-Fotos dekoriert war – und mit DEM DICHTER eine Art Freundschaft pflegte, die ich, nebenbei gesagt, vor den Mädchen prahlerisch als INTIM bezeichnete, hatte ich meinen Freundinnen mit einem kulturell und landschaftlich bemerkenswerten Ausflugsziel einen höchst ehrbaren Vorwand zu bieten.
Einem handfesten erotischen Austausch am Strand im Stil von Deborah Kerr und Burt Lancaster in Verdammt in alle Ewigkeit stand, nachdem man den Dichter beim Vortrag seiner mit grüner Tinte geschriebenen neuesten Texte erlebt und seinen Wein getrunken hatte – so vollmundig wie seine genialen Metaphern, mit denen er den Chilenen das Gefühl vermittelt hat, das Schreiben sei eine einfache, natürliche Sache –, nichts mehr im Wege. Er zog sich zur Siesta und wir zogen uns zum Sex zurück.
Diese Episoden, die sich in moderaten Abständen wiederholten, waren auf eine lustvolle, aufregende Weise prägend für mich, und so gibt es in meinem Roman Das Mädchen mit der Posaune eine Schlüsselszene, die auf wirkliche Erfahrungen zurückgreift: Als das Liebespaar, die junge Alia Emar Coppeta und der stürmische Pedro Pablo Palacios, nach einem grandiosen Jazzkonzert in Santiago beschließt, die Beziehung mit einer ersten gemeinsamen Nacht zu besiegeln, unternehmen beide in den frühen Morgenstunden eine lange Reise zu einem anderen Haus Nerudas, La Sebastiana am Hafen von Valparaiso, wo sie sich mit List und Tücke und der stillschweigenden Unterstützung des Verwalters in das Bett des Dichters mogeln, um miteinander zu schlafen.
Doch von allen Häusern Nerudas übt Isla Negra die stärkste Anziehungskraft auf Neugierige aus aller Welt aus, die in kleinen Gruppen von einem seiner Wohnsitze zum nächsten ziehen, angeführt von polyglotten Reiseleitern, deren Einfallsreichtum dem des Dichters in nichts nachsteht, wenn es darum geht, irgendein Detail zu erläutern, von dem sie keine Ahnung haben.
Schon auf den ersten Blick erfassen die Besucher dieses Gebäudes eine Grundstimmung, von der sich der Dichter beflügelt fühlte, seit er es zu seinem Wohnhaus ausgebaut hatte: Freude. Sie ist sowohl in der Architektur als auch in der Inneneinrichtung zu spüren. Und dies liegt klar im Leben des Bewohners begründet. Als er sich für das Haus am Strand entscheidet, beschließt er zugleich, eine andere Art von Dichter zu werden.
Nie wieder würde er der bleiche, schwermütige Jugendliche der ersten Verse sein, nie wieder der ängstliche, metaphysische Erwachsene, der die turbulenten Bilder von Aufenthalt auf Erden hervorbrachte, und auch nicht der zutiefst verstörte Schriftsteller, als der er das Elend des Spanischen Bürgerkriegs beschrieb, in dem er als chilenischer Konsul einige seiner besten Freunde und große Dichter sterben sah. Besonders seine „Ode an Federico García Lorca“ gibt den bekümmerten Ton wieder, den er in Isla Negra aufgeben wird:
Könnte ich weinen vor Angst in einem einsamen Haus,
könnte ich mir die Augen herausreißen und aufessen,
täte ich es für deine Stimme eines Orangenbaums in Trauer
und für deine Poesie, die schreiend hervorstürzt.
In Ich bekenne, ich habe gelebt erzählt er, wie er damals beschloss, dass die bitteren Stunden seiner Dichtung ein Ende finden mussten, und wie ihm die wilde Küste von Isla Negra mit ihrem ozeanischen Aufruhr gestattete, sich vollkommen der Arbeit an einem ganz besonderen Buch hinzugeben: dem Großen Gesang, einer Geschichte über die Befreiungskämpfe der lateinamerikanischen Völker.
Zu jener Zeit war das legendäre Anwesen nur ein bescheidenes Häuschen. Nach welchen architektonischen und poetischen Kriterien wurde es erweitert, bis es seine heutige Form erreichte? Welcher meisterliche Bauplan liegt seinem Wachstum zugrunde?
So seltsam es klingen mag: gar keiner! Das Haus entwickelte sich ohne festen Plan, ohne vorgesehenes Ziel, ohne das Bemühen um Harmonie zwischen den verschiedenen Anbauten. Ohne Maß und Zweck fügten sich die einzelnen Teile aneinander.
Immer wenn der Schriftsteller von seinen Reisen etwas mitbrachte, wofür kein Platz war, vergrößerte er einfach das Haus. Ein gutes Beispiel dafür ist das Zimmer des Pappmascheepferds. In seiner Kindheit in der südchilenischen Stadt Temuco war der Dichter fasziniert von einem Pferdchen, einer Reklamefigur, die den Eingang einer Sattlerei schmückte. Es war lebensgroß und wurde von den Kindern im Dorf sehr geliebt, die nicht daran vorbeigehen konnten, ohne seinen Kartonkopf zu streicheln.
Als Neruda, mittlerweile ein weltberühmter Dichter, wieder nach Temuco kam, wollte er es kaufen, doch der Besitzer verlangte eine unmäßige Summe. Jahre später fiel die Lederwerkstatt einem Brand zum Opfer, und ein Großteil dessen, was aus den Flammen gerettet werden konnte, wurde verschleudert. Darunter auch das ersehnte Pferd mit angesengtem Schweif. Bei diesem Ausverkauf ersteht er es endlich.
Das edle Tier hat allerdings Verbrennungen unterschiedlichen Grades erlitten und braucht eine Schönheitsoperation. Der Dichter bittet den Maler Julio Escámez, es hellblau und golden anzumalen. Und um das Problem des Schweifs zu lösen, beauftragt Neruda drei seiner gewitztesten Freunde, ihm einen Ersatzschwanz zu besorgen. Da die Wünsche des Dichters Befehle waren, dauerte es nicht lange, und jeder der drei brachte ihm einen Pferdeschweif. Einer einen weißen, der andere einen gelben und der dritte einen schwarzen. Um keinen seiner räuberischen Komplizen zu brüskieren, fällte der Hausherr eine demokratische Entscheidung: Er hängte alle drei an das Pferd.
Diese Geschichte erzähle ich, weil sie, wie ich glaube, ein beispielhaftes Licht auf das flexible, kumulative Konzept wirft, nach dem der Dichter sein Haus erbaute.
Nur in Nerudas Haus ist ein dreischwänziges Pferd vorstellbar.
Trotz dieses regellosen Wachstums und des architektonisch wirren Resultats zieht dieses Haus jeden Tag Dutzende von Touristen an, deren Interesse nicht so sehr der Poesie des Meisters als vielmehr seiner farbenprächtigen Wohnungseinrichtung gilt. Und tatsächlich wirkt der verspielte Sammeltrieb des Nobelpreisträgers, der gnadenlos das Haus vergrößerte, um seinen extravaganten und häufig voluminösen Errungenschaften Raum zu geben, auf den Betrachter ansteckend und begreiflich.
Da ist zum Beispiel das Zimmer, das er nur anfügen ließ, weil er beim Abriss eines alten Hauses eine herrliche Tür aus der Kolonialzeit entdeckt hatte. Wo sollte er die Tür unterbringen, wenn er kein Zimmer für sie hatte? Und warum sollte er, der gute Samariter der Dinge, nicht für einen Platz sorgen, an dem die Türen weiterhin mit den Flügeln schlagen konnten?
Das Regiment über diese Produktionsstätte genialer Lyrik führte seine Frau Matilde. Patent und fleißig hielt sie die Maurertrupps dazu an, immer weitere Quadratmeter anzubauen, wobei sie die wechselnden Einfälle ihres Gatten stets rigoros umsetzte und ihn niemals auch nur mit dem kleinsten Einwand zur Vernunft mahnte. Als ich sie einmal auf dieses Laisserfaire ansprach, lächelte sie schelmisch, und ihr großer Mund wurde noch breiter: „Alles andere hätte mich die Scheidung gekostet“, sagte sie.
Neruda liebte Worte und Dinge gleichermaßen, doch wenn ihm etwas gefiel, wollte er es nicht nur anschauen. Er wollte es besitzen. Darum seine leidenschaftliche Sammelwut. Sein immenser Fundus an Schneckengehäusen lässt zudem auf eine Besessenheit schließen, die damit zu tun hat, wie er seine eigene Existenz empfand: als ein zunehmendes Sichverschließen in sich selbst, ein Abtauchen in die Intimität, in der er sich verkroch wie in einem Schneckenhaus. Ein melancholisches Lebensgefühl, das auch in der letzten Erweiterungsphase von Isla Negra seinen Ausdruck findet.
Wenn in dem wuchernden Gebäude lange die einzige simple Bedingung galt, dass jeder Raum ein Fenster zum Meer haben musste, so fällt der letzte Anbau, den Neruda vornehmen ließ, völlig aus dem Rahmen. La Covacha („Die Höhle“) ist ein lichtloser Winkel mit einem primitiven Zinkblechdach, auf das im Winter der Regen trommelt, ganz wie im sturmgepeitschten Temuco seiner Jugend.
In den letzten Monaten seines Lebens zog sich Neruda in diesen „Verschlag“ zurück, wo er sich mit dem Lieblingsspielzeug seiner Kindheit umgab. Ein Leben lang hatte er mit kindlicher Gier Gegenstände gehortet, mit Freunden und Gästen Verkleidungsspiele veranstaltet und das Haus dank seiner Sammlung von Galionsfiguren, die er aus gesunkenen Schiffen oder vor schlauen Geschäftsleuten gerettet hatte, in eine Art regloses Schiff verwandelt – wäre es da nicht denkbar, dass er sich vor der Verdrossenheit der letzten Lebensmonate, dem zehrenden Krebs, der politischen Verzweiflung, die auf den Militärputsch zusteuerte, in die Geborgenheit einer Wiege flüchten wollte?
„Ein Kind, das nicht spielt, ist kein Kind“, schrieb er in seiner Autobiografie, „aber ein Mann, der nicht spielt, hat das Kind in sich für immer verloren und wird es vermissen.“
Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Pablo Neruda
Ugné Karvelis: Ein Tag auf der Isla Negra, Sinn und Form, Heft 5, 1974
AN PABLO NERUDA
Freude ist dieser Tag in Jerewan,
Ich aber wage nicht, mich meiner Freude zu freuen,
Denn ihr seid schmerzerfüllt.
Ich bin voller Zorn an diesem Tage des Zorns
Unser Allende ist tot
Aber unter tausend neuen Namen
aaaaaaaaaaaaaaaawird er wieder auferstehen
Die Kinder Chiles, am Tage des Unheils geboren,
Wachsend werden sie Allendes Größe haben.
Gestern, in einer alten Kirche Armeniens,
Wollte ich für Allende eine Kerze entzünden,
Aber das Feuer der Revolution ist
aaaaaaaaaaaaaaaastärker als alles Licht,
Und das Kreuz, seit Jahrtausenden
aaaaaaaaaaaaaaaaauf den Schultern der Menschheit
Das Kreuz ist eine Waffe geworden
Morgen wird unser Sieg ruhmvoller sein denn je.
Che Lan Vien
PS: Der vietnamesische Dichter Che Lan Vien hat dieses Gedicht am 23. September 1973 auf dem Symposium afro-asiatischer Dichter in der armenischen Hauptstadt Jerewan gelesen.
Deutsche Nachdichtung: Wilhelm Girnus / Andreas Reimann
Jürgen P. Wallmann: „Ich werde niemanden exkommunizieren“
Die Tat, 21.9.1974
Uwe Berger: Seine Poesie ist Stimme des Volkes
Neues Deutschland, 12.7.1979
H. U.: Einheit von Poesie und Politik
Neue Zeit, 11.7.1979
Hans-Otto Dill: Seine Dichtung – leidenschaftlicher Hymnus auf den Kampf der Völker
Neues Deutschland, 12.7.1984
Volodia Teitelboim: Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1984
Margit Klingler-Clavijo: Ich bekenne, ich habe gelebt
Deutschlandfunk, 12.7.2004
Josef Oehrlein: Die drei Archen des Dichters
Cicero
Karin Ceballos Betancur: Das Kind und der Dichter
Die Zeit, 8.7.2004
Holmar Attila Mück: Krieger mit der Lyra
Deutschlandradio Berlin, 12.7.2004
Claudia Schülke: „Militanter Stalinist und kolossaler Dichter“: Pablo Neruda
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.2004
Leopold Federmeier: Der trunkene Durst des begeisterten Schleuderers
Neue Zürcher Zeitung, 12.7.2004
Sergio Villegas: Beerdigung unter Bewachung
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1978
Karl Bongardt: Seinen Atem durchwob die singende Liebe
Neue Zeit, 24.9.1983
Holger Teschke: Sänger des Regens und der Klassenkämpfe
junge Welt, 23.9.2023
Manfred Orlick: „Ich bekenne, ich habe gelebt!“
literaturkritik.de, 23.9.2023
Gerhard Dilger: Dichterfürst im Zwielicht
taz, 23.9.2023
Benjamin Loy: Schwieriges Schweigen
ORFSound, 20.9.2023
Pablo Neruda – Fragmente zu einem Portrait. Ein Film von Hans Emmerling, 1974
Pablo Neruda – Lesung und Interview des Literaturnobelpreisträgers 1971.
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