Pablo Neruda: Dichtungen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Pablo Neruda: Dichtungen

Neruda-Dichtungen

VERSUCHUNG DES UNENDLICHEN MENSCHEN

Das ist mein Haus
von Wäldern noch durchduftet
woher sie es karrten
hier zersplitterte ich mein Herz wie einen Spiegel um
aaaaadurch mich hindurchzustreifen
da ist das hohe Fenster und hier die Türen
wem gehörte das Beil das sie Stämme fällte
vielleicht hängte der Wind ins Gebälk
sein schweres Gewicht und vergaß es dann
damals als die Nacht in ihrem Netzwerk tanzte
als das Kind weinend erwachte
ich erzähle nicht ich rede in unglücklichen Worten
noch sichten die Baugerüste das Abenddämmern
und hinter den Scheiben war das Petroleumlicht
um den Himmel zu betrachten
der Regen fiel in gläsernen Blütenblättern
hier folgtest du dem Weg der ins Unwetter führte
wie das hohe Drängen des Meeres
die dunklen Steine der Küste von der Luft trennt
was wolltest du was legtest du wie zum Sterben viele Male
alle Dinge steigen auf zu einem großen Schweigen
und über seinen Rand gebeugt Verzweiflung
du hieltest eine Schmerzensblume aufrecht
zwischen ihren Blütenblättern kreisten die Margaritentage gestürzter Piloten
ermattet beschäftigungslos stöbertest du aus tiefem
Dunkel das Erz der letzten Entfernungen auf oder wartetest an der Reihe zu sein
dennoch dämmerte der Morgen auf den Uhren der Erde
auf einmal winden die Tage sich um die Jahre
dein Herz pocht müde hältst du dich aufrecht
an deiner Seite verabschieden sich die Vögel der abwesenden Jahreszeit

 

 

 

Nachwort

Immer werden wir Aufrichtigkeit, Bewußtheit
und vor allem Leidenschaft schätzen.
Rubén Darío

Dem mehr als ein halbes Jahrhundert währenden schöpferischen Wirken Pablo Nerudas verdanken wir ein dichterisches Werk, das an Größe und Ausstrahlungskraft in unserer Zeit kaum seinesgleichen hat. Auf die Erfahrungen der Dichter vor ihm gestützt, die sich um künstlerische Bestandsaufnahme und Deutung der Welt bemüht hatten, entwickelte Neruda seine Dichtung in zunehmend bewußtem Erfahren der objektiven Weltfülle und ihrer Vieldeutigkeit. Je vertrauter er mit der Menschheitsgeschichte wurde, desto mehr gewann er die Überzeugung, daß die Dichtung elementares Leben birgt, daß sie sich aus dem gesellschaftlich-historischen Kontext nährt und deshalb dem Dichter nicht allein gehört. Er selber wollte dem poetischen Ausdruck verleihen, was die Mitmenschen, seine Brüder, mit eigenen Worten nicht auszudrücken vermochten. Er machte sich an die Erarbeitung der poetischen Mittel, erprobte künstlerische Formen und Möglichkeiten, läuterte den Ausdruck, um die Dichtung verständlich und nützlich zu machen, zu einem Band des Vertrauens zwischen ihrem Schöpfer und den arbeitenden Menschen werden zu lassen. Die Arbeit mit und an der Sprache wurde für ihn zu einer Aufgabe. Auf sie konzentrierte er seine Kraft, und die Ergebnisse betrachtete er mit dem Stolz eines Handwerkers, „der einen Beruf lange Jahre mit unvergleichlicher Liebe ausgeübt hat“. Für die harte Arbeit am Text zeugen die Manuskripte seiner Oden. Das Bleibende und Weiterwirkende war für ihn das Werk, nicht die Vita des poetischen Subjekts, die den Mangel an Kunstleistung nicht auszugleichen vermag. Im übrigen kümmerte er sich wenig um ästhetische Diskussionen, sie waren ihm Beiwerk der Literatur und konnten die „nackte Schöpfung“ nicht ersetzen.
Die stolze Bescheidenheit des Dichters forderte zur Stellungsnahme heraus. Hunderte Betrachtungen und Untersuchungen zu seinem Werk liegen vor, mit den unterschiedlichsten ästhetischen und politischen Maßstäben prüften die Kritiker die Leistungen des Poeten. Anerkennung und Lob fanden sich neben Vorwürfen, Anfeindungen und gar Beschimpfungen von Neidern. Neruda indes verteidigte das Unverwechselbare jeder echten künstlerischen Schöpfung, die sich dann einstelle, wenn das dichterische Subjekt jenes – wie Hegel es nannte – „individualisiert“ Vernünftige zum Ausdruck bringe, das an die Geschichte und Erfahrung eines Volkes, einer Nation, eines Kontinents und der Menschheit gebunden sei. Er nahm Lebensfakten in sein Werk auf, vermied jedoch ihre Verselbständigung zu Anekdoten oder zur Autobiographie. Dichtung und Leben waren für ihn ein Strom. Seiner Heimat Chile und seinem Kontinent verbunden, schrieb er sich mit seinem Werk in den Gang der Geschichte ein. Die Parteinahme für die Ausgebeuteten und Geschundenen, sein Ringen gegen Faschismus und Imperialismus machten aus ihm einen Kämpfer, der vom Dichter nicht zu trennen ist. Er erwarb sich die Achtung und Verehrung aller progressiven Menschen und trug ihr Schicksal mit. Er nahm auch teil am Kampf des eigenen Volkes für Fortschritt, Frieden und Freiheit. Noch in den letzten Stunden seines Lebens erhob er die Stimme, prangerte er die faschistischen Putschisten des 11. September an, die Mörder Salvador Allendes und Tausender Chilenen. Die ihn inmitten des Terrors zu Grabe trugen, boten der Welt einen Eindruck von der Unbesiegbarkeit eines auf dem Weg zu seiner Selbstbestimmung überfallenen Volkes, für das Neruda gelebt und gesungen hatte.

Das Leben des Dichters nahm seinen Ausgang in Südchile. Am 12. Juli 1904 erblickte Neruda unter dem Namen Neftalí Ricardo Reyes Basoalto in Parral das Licht der Welt. Die Mutter, Lehrerin an der Mädchenschule des Ortes, schön und der Poesie zugetan, verstarb kurz nach seiner Geburt an Tuberkulose. Der Vater, der in Parral zunächst Landwirtschaft betrieben hatte, übersiedelte mit dem knapp zweijährigen Jungen nach Temuco, im Grenzgebiet zu Araukanien, einem kleinen Städtchen, das erst fünfundzwanzig Jahre zuvor von der Regierung zur Förderung der wirtschaftlichen Erschließung Südchiles gegründet worden war. Hier heiratete der Vater, der es zum Lokomotivführer eines Schotterzuges gebracht hatte, ein zweites Mal, und Neruda blieb seiner „Mamadre“, wie er die neue Hausmutter nannte, zeitlebens liebevoll verbunden. Er wuchs in einer ursprünglichen Landschaft mit arbeitsamen Menschen auf. Zuweilen durfte er den Vater auf dessen Fahrten begleiten. So lernte er seine Heimat kennen, die sich ihm unvergeßlich einprägte und seine dichterische Persönlichkeit entscheidend formte. Außer der Natur mit ihren herrlichen Bäumen und Gräsern, Tieren und Flüssen, außer der Bergwelt, den Dörfern, Städten und Menschen entdeckte er das weite, unbändige Meer. Die Naturgewalten offenbarten sich ihm auch in den sintflutartigen winterlichen Regenfällen des südlichen Chile. Der Regen ist in seiner Dichtung ein immer wiederkehrendes Motiv. Schon den Knaben hatte er während der langen Winter zum Schreiben inspiriert. Wie in den „Memoiren“ nachzulesen, betrachtete Neruda sich anfänglich als Dichter jener Natur, die seine Kindheit umschloß: „Wer den chilenischen Wald nicht kennt, kennt diesen Planeten nicht. Von dieser Erde, diesem Lehm, von dieser Stille bin ich ausgezogen, um zu singen für die Welt.“
Mit dem Besuch des Gymnasiums in Temuco trat er in eine neue Welt ein: in die der Bücher. Sein Lesehunger war nicht zu zähmen, er begeisterte sich an den Abenteuerromanen von Jules Verne, Emilio Salgari und José Marîa Vargas Vila, aber auch schon an Gorki und Strindberg. Er las Diderot, ihn bewegten Die Elenden, und er weinte mit den Helden Bernardins de Saint-Pierre. Der Schüler hatte das große Glück, hier einer Lehrerin zu begegnen, die seinen Lesehunger zu steuern wußte. Es war Gabriela Mistral, später die erste Nobelpreisträgerin Lateinamerikas. Sie brachte ihm die russische Literatur nahe: Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, Puschkin. Majakowski und die sowjetische Literatur indes entdeckte er selber. Auch als Dichterin sollte Gabriela Mistral Einfluß auf sein poetisches Schaffen haben. Er schrieb heimlich Gedichte, zunächst für die von ihm so verehrte „Mamadre“. Heft um Heft wuchs die Zahl der Gedichte; bis 1920 waren es hundertsechzig. 1917 veröffentlichte er in Temucos Morgenzeitung das erste mit Neftalí Reyes gezeichnete Gedicht. Weitere folgten in Zeitungen Santiagos, Valparaísos und Valdivias. Mit Rücksicht auf die Familie verwandte er Pseudonyme, von denen er nach 1920 den Namen Pablo Neruda beibehielt. Der Dichter war, wie er Jahrzehnte später bekannte, beim Lesen einer Zeitschrift auf „Neruda“ gestoßen, ohne zu ahnen, daß dies der Name eines großen tschechischen Schriftstellers war.
Während der Gymnasialzeit blieb es nicht bei dichterischen Talentproben in Schülerzeitschriften und bei literarischen Wettbewerben. Neruda beteiligte sich auch an der Schüler- und Studentenbewegung, die ganz Chile erfaßt hatte und das veraltete Erziehungs- und Bildungssystem kritisierte. Er selber wurde stellvertretender Sekretär der Schülervereinigung von Cautín und schrieb für Claridad, das Organ der Studentenföderation. Das Aufbegehren dieser Zeitschrift war Ausdruck sich verschärfender Klassenkämpfe in Chile, war Replik einerseits auf den Bankrott der bürgerlichen Lebensformen und Anschauungen und spiegelte andererseits die zunehmende weltweite Ausstrahlung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution wider. Bewußtsein und Engagement der Jugend nahmen Gestalt an im Zuge der sich entwickelnden Arbeiterbewegung, die harte und blutige Auseinandersetzungen mit der einheimischen Oligarchie führte, die Chiles Souveränität und Bodenschätze an den ausländischen, insbesondere britischen Imperialismus verschacherte und die Salpeter- und Kupferarbeiter einer unmenschlichen Ausbeutung preisgab. Seit Beginn des Jahrhunderts waren Tausende streikende Arbeiter von der Armee ermordet worden. Die nationalgesinnte liberale Bourgeoisie konnte in Anbetracht ihrer eigenen Schwächen und ihrer Bindung an die englischen Imperialisten die anstehenden Probleme nicht lösen. Die Arbeiterklasse mußte ihre Geschicke und die der Nation selbst in die Hand nehmen. 1912 gründete Luis Emilio Recabarren im Salpetergebiet des Nordens die Sozialistische Arbeiterpartei, die bald in ganz Chile Sektionen eröffnete. Noch war sie keine echte revolutionäre Partei, zu ihren Verdiensten zählt jedoch, daß sie den imperialistischen Krieg von 1914 verurteilte und die Ablösung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung forderte. Ebenso wie die chilenische Gewerkschaftsbewegung entwickelte sie sich unter dem starken Einfluß der Oktoberrevolution. 1919 veranstaltete sie zusammen mit der Studentenförderation große Märsche gegen den Hunger und versetzte die Bourgeoisie in Panik vor der „bolschewistischen Gefahr“. 1922 benannte sie sich um in Kommunistische Partei Chiles und trat der Kommunistischen Internationale bei. In diesen Jahren bezog auch Neruda Position. Er verwarf das auf die Erhaltung bürgerlicher Lebensformen gerichtete alte Erziehungssystem; zugleich distanzierte er sich von der traditionellen bürgerlichen Dichtung, er wollte, wie er es 1919 formulierte, ein Poet sein, „der weder bürgerlich noch gewöhnlich ist“.
Im März 1921 verließ Neruda die Welt seiner Kindheit und frühen Jugend und nahm, mit schmalem Handgeld der Familie, an der Universität Santiago ein Lehrerstudium im Fach Französisch auf. Das Studium sollte ihm eine bescheidene, eher kärgliche Lehrerexistenz sichern, die jedoch seinen Begabungen wenig Entfaltungsmöglichkeit bot. Auch in Santiago nahm Neruda regen Anteil am politischen und literarischen Leben. Im Studentenbund zogen ihn vor allem die anarchistisch orientierten Figuren an, unter ihnen Manuel Rojas, ein, Setzer aus Argentinien, der später zur Herausbildung des realistischen chilenischen Romans beitragen sollte. Noch nachhaltiger auf ihn wirkte der sozialkritische, das Leben eines anarchistischen Pikaro führende José Santos González Vera, dessen Wesen sich für Neruda mit der Gestalt des „revolutionären Nihilisten Sascha Jegulew verband, einer Romanfigur des Russen Leonid Nikolajewitsch Andrejew, „die der lateinamerikanischen Rebellenjugend als Vorbild diente“.
Neruda, der sich „mit der Wut des Schüchternen“ in die Poesie geflüchtet hatte, ließ sich von Freunden dazu überreden, seine zwischen 1920 und 1923 entstandenen Gedichte gesammelt zu veröffentlichen. Die Druckkosten hatte er selbst zu bestreiten, etwas steuerte auch der Kritiker Aloe (Hernán Díaz Arrieta, geb. 1891) bei, der in den jugendlich-romantischen Stimmungen der Verse eine unverwechselbar persönliche Bildhaftigkeit und die naturhafte Begabung des jungen Poeten zur Assimilierung aller Dichtungstraditionen zu erkennen glaubte. Das Büchlein erhielt den Titel Crepusculario (Morgen- und Abenddämmerungen), der an die erste literarische Zeitschrift Chiles erinnert, die zur Beförderung der nationalliterarischen Entwicklung in der Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Titel El Crepúsculo erschienen war. Für Neruda war es ein berauschendes Gefühl, sein erstes Buch, „mit der noch zitternden Ratlosigkeit seiner Träume geschaffen“, in den Händen zu halten. In diesen frühen Dichtungen bereits macht sich ein für die gesellschaftliche Situation bezeichnender Kontrast bemerkbar. Einerseits ist da das Streben nach Harmonie mit der Welt, andererseits jedoch auch schon das Unbehagen über die Ohnmacht der Dichtung gegenüber gesellschaftlichen Mißständen. Später schrieb der Dichter über die Situation:

Von dieser Zeit an mischte sich in Abständen die Politik in meine Dichtung und in mein Leben. Ich konnte meinen Gedichten nicht die Tür zur Straße verriegeln, wie ich in meinem jungen Dichterherzen auch nicht die Tür zur Liebe verriegeln konnte, zum Leben, zur Freude und zur Trauer.

Nachdem er die ähnlich gelagerten Erfahrungen anderer Dichter aufgenommen hatte, etwa eines Baudelaire, Lautréamont, Rimbaud und Verlaine, die sich bemüht hatten, den vorgefundenen Weltverhältnissen neuen dichterischen Ausdruck zu geben, ging er an die Aufarbeitung der lateinamerikanischen Poesie. Der Nikaraguaner Rubén Darío (1867-1916), der von Lateinamerika aus die spanischsprachige Dichtung zu einer neuen Wirksamkeit geführt hatte, indem er europäische Einflüsse ummünzte, veranlaßte den jungen Chilenen zu eingehender Überlegung über den adäquaten Einsatz der sprachlichen Mittel in der Dichtung seines Kontinents. Neruda erkannte, daß es wichtig war, sich die spanische Sprache in ihren ganzen Weite und Fülle anzueignen und zurückzufinden zu der Urwüchsigkeit, die sie einst besessen, jedoch durch den Manierismus im Verlauf der Dichtungsgeschichte eingebüßt hatte.
Die Gedichte, die auf Crepusculario folgten, lassen erkennen, daß der junge Dichter seiner früheren Hoffnung auf eine unmittelbar wirklichkeitsverändernde Kraft der Dichtung immer skeptischer gegenüberstand. Er zog sich zunächst auf eine sehr persönliche Liebeslyrik zurück. Auf schmalen Pfaden der Vernunft zwischen dichterischer Eingebung und Phantasie wandelnd, arbeitete er am poetischen Wort. In dieser bis 1927 währenden Schaffensperiode entstanden Gedichte, in denen sich Melancholie, Einsamkeit und schmerzlicher Protest gegen eine für lyrische Anrufungen zunehmend unempfängliche Mitwelt ausdrückt. Seine „Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung“ (1924) sind stumme Aufschreie, die vernommen und verstanden wurden. In viele Sprachen übersetzt, wurden sie zum meistgelesenen Buch des Dichters, mit unvergleichlicher Wirkung auf die junge Dichtergeneration. Die Verse faszinieren durch die Erlebniskraft, mit der der Dichter Schmerz, Lebensfreude, Sinnlichkeit und fordernde wie verehrende Leidenschaftlichkeit gestaltet. Im Sturm der Gefühle konnte sich Verzagtheit nicht behaupten. Der zugreifende Mann entdeckte die Frau und in ihr zugleich die Natur. Die Geliebte, Studentin aus Santiago oder Gefährtin aus seiner Heimat, ist Weizenkorn, Mohnblume, Sonne, Wasser, Biene und Schmetterling, zart und von zitternder Leidenschaft. Keine metrischen Regeln vermögen den Fluß der Gefühle aufzuhalten, der sich in überwältigender Sprachmusikalität dahingießt. Hier und auch noch in den folgenden Schöpfungen hat er ein dramatisches und romantisches Lebenskonzept; Schwermut lastet in ihm angesichts des „Worts ohne Echo“, Sorgen um den Lebensunterhalt bedrängen ihn, engen seinen Horizont ein. „Eine kleine Aureole des Ansehens über die ästhetischen Zirkel hinaus“ umgab ihn bereits; Freunde rieten ihm, sich „kosmopolitisch“ zu bilden, nach Europa zu gehen, nach Paris vor allem, das ein Zentrum des lateinamerikanischen Literaturaustauschs war.
1927 begann ein neuer Abschnitt in Nerudas Leben. Die Freunde hatten ihn für eine Tätigkeit im Auslandsdienst empfohlen und nach langem Bemühen seine Ernennung zum Konsul Chiles in Rangun erwirkt. Seine Reise nach Ostindien führte über Buenos Aires, Lissabon, Madrid, Paris, Marseille, Suez. Für Santiagos Zeitung, La Nación verfaßte er bei dieser Gelegenheit Reisebilder.
Auch in seinen späteren Memoiren ist einiges niedergelegt über seinen fünfjährigen Aufenthalt in Burma, Ceylon, Indien, Java und Singapur. Es war eine große und unglückliche Welt, in die er sich gewaltsam verpflanzt sah. Brutal beuteten die europäischen Kolonialisten die armen Völker aus. Angesichts einer solchen Realität erwies sich alle philosophische Esoterik „als Nebenprodukt der Unruhe, der Neurose, der Ratlosigkeit…“ Die hier entstandenen Gedichte verraten, die Verwirrung seiner Gefühle angesichts einer ihm fremden Welt. Hier verfaßte er die ersten zwei Bände von Aufenthalt auf Erden:

Ich lebte getrennt von meiner Welt durch die Entfernung und das Schweigen, ich war außerstande, wirklich in die fremde Welt einzudringen, die mich umgab. Mein Buch sammelte als natürliche Episoden die Ergebnisse meines im Leeren hängenden Lebens: „Näher am Blut als an der Tinte“.

Die Krise schlug sich auch im Formalen nieder; der Dichter versteifte sich auf einen herben Sprachstil, mußte aber erkennen: „Doch der Mensch ist nicht allein Stil.“
Neruda vermochte es nicht, unbeteiligter Betrachter der tragischen Vorgänge um ihn herum zu sein; seine Erschütterung ist bis in die Sprache hinein zu spüren. Er versuchte sich an der Bestandsaufnahme einer aus den Fugen brechenden Welt, die von sozialen und politischen Vorgängen bislang nicht gekannten Ausmaßes erfaßt war. Dichtung war für ihn nicht Rückzug aus der Realität, sondern Suche nach einer menschlichen Welt. Mit Aufenthalt auf Erden wurde Neruda auch in Europa bekannt. Es ist jenes Werk Nerudas, dessen bis 1935 ausgreifenden ersten zwei Büchern die bürgerliche Kritik am meisten Achtung und Anerkennung zollte, während sie den späteren dritten Teil als poetischer Schöpfungskraft bare politische Dichtung abtat. Die Gedichte von Aufenthalt auf Erden bewegten und bewegen den Leser, weil sie, düster und pessimistisch gestimmt, die Bedrängnis kundtun im Angesicht einer zum Untergang verurteilten Welt, die dem Menschen die Selbstverwirklichung verwehrt. In dramatischer Auseinandersetzung mit diesen Umständen versuchte sich der Dichter selbst zu beschreiben und zu bestimmen. Und umgeben von Todesangst und Einsamkeit, gelang es ihm, Boden zu fassen, langsam aus dem „Uterus der Erde“ aufzusteigen mit den Erfahrungen, die sich „Tropfen auf Tropfen“ in ihm angesammelt hatten und jetzt nach sprachlichem Ausdruck verlangten. „Ich müßte sterben, wenn ich nicht mehr schreiben könnte“, schrieb er 1931 an einen argentinischen Freund. Und dichtend festigte er seinen Glauben an das Leben und die Menschen.
1932 kehrte Neruda in Begleitung einer jungen Holländerin, die er auf Java geheiratet hatte, nach Chile zurück. Sein Land hatte, im Gefolge der Weltwirtschaftskrise, politisch und sozial eine harte Zeit durchgemacht. Die gesellschaftlichen Widersprüche spitzten sich zu. Der 1927 an die Macht gekommene Diktator Ibáñez del Campo hatte die Kommunistische Partei verboten, die sich jedoch in der Illegalität ideologisch weiter festigte. Als die Diktatur abgewirtschaftet hatte, kam es zu einer militärischen Erhebung, doch scheiterte diese schon nach wenigen Tagen. 1933 ging Neruda als Konsul nach Buenos Aires, damals eine Metropole des geistigen und literarischen Austauschs. Dort tat sich ihm ein großer Kreis von Freunden auf. Er war bereits kein Unbekannter mehr; Rafael Alberti in Spanien wollte Gedichte von ihm drucken, und in Buenos Aires hatte er das Glück, Federico García Lorca zu begegnen, der hier als Gastregisseur und als Verfechter des Theaters der sozialen Aktion die Kunst zu einem Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens der Volksmassen machen wollte, so wie er es im Dienste der spanischen Republik in seinem Heimatland tat. Die Begegnung trug umgehend Früchte: In Argentiniens Pen-Club überraschten Neruda und García Lorca die Gäste mit einer improvisierten gemeinsamen Rede auf Rubén Darío, und in Buenos Aires auch illustrierte García Lorca ein Manuskript von Aufenthalt auf Erden, das zu einer Kostbarkeit wurde.
Nach einem reichlichen halben Jahr erhielt Neruda die Ernennung zum Konsul in Barcelona. Ein lang gehegter Wunsch ging in Erfüllung: der unmittelbare Kontakt mit Spanien und seinen Dichtern. Der in Barcelona amtierende Generalkonsul schickte ihn alsbald nach Madrid, denn er fand, dort sei er als Poet am besten aufgehoben. Hier nun lernte Neruda alle Freunde García Lorcas kennen und endlich auch Rafael Alberti persönlich. Durch den ständigen Umgang mit den Hauptvertretern der modernen Dichtung Spaniens, die ihrer Sprache, rückgreifend auf die Tradition, neue Kräfte gaben und sie durch suggestive Anwendung der Sprachmelodie zusätzlich bereicherten, wuchs Neruda die Dichtung dieser Nation ans Herz.

Spanien ist trocken und steinig, und die Sonne sticht senkrecht herab und schlägt Funken aus dem Flachland und baut Lichtschlösser aus dem wirbelnden Staub. Die einzigen echten Flüsse sind seine Dichter; Quevedo mit seinen grünen Wassern, seinem schwarzen Schaum; Calderón mit seinen singenden Silben; die kristallklaren Argensolas; Góngora, Rinnsal aus Rubinen.

Die spanische Dichtung eröffnete ihm einen neuen historischen Raum; er erlebte, daß Erde, Volk und Poesie aneinander gebunden sind. Die tägliche Begegnung mit den Freunden ließ ihn nicht nur teilhaben an ihrer Lebensfreude, sondern auch an ihrer Brüderlichkeit und Solidarität, die in der 1931 ausgerufenen spanischen Republik eine Heimstatt gefunden hatten. Mit den Freunden gab er die Literaturzeitschrift Grünes Pferd für die Poesie heraus, in der er seinen Entwurf einer neuen Poetik publizierte, betitelt: „Über eine unreine Dichtung“. Darin formulierte er programmatisch die Hinwendung zu einer weltoffenen, dem Alltag, dem Leben und allen Menschen verschriebenen Dichtung. In derselben Weise wie García Lorcas Theater sollte sie eine wirksame Kraft im gesellschaftlichen Leben sein. Neruda kennzeichnete das Wesen der neuen Dichtung mit den Worten:

Eine Dichtung, unrein wie ein Anzug, wie ein Körper, von Speisen befleckt, eine Dichtung, die schändliche und liederliche Handlungen kennt, Beobachtungen, Träume, Totenwachen, Prophezeiungen, Liebes- und Haßerklärungen, wilde Tiere, Erschütterungen, Idyllen, politische Überzeugungen, Verneinungen, Zweifel, Behauptungen, Steuerabgaben.

So erweiterte Neruda den Aktionsradius seiner Dichtung. Das geschah sicher in einem gewissen Zusammenhang mit der Diskussion um die sich formierende Volksfrontbewegung, die sich auch ein kulturpolitisches Programm gab. Das Grüne Pferd für die Poesie, so meinte Alberti, hätte wohl treffender Rotes Pferd… heißen müssen. Die Arbeit an der Zeitschrift führte Neruda auch mit Miguel Hernández zusammen, dessen Wesen und elementare Dichtung ihn begeisterten: „Sein Antlitz war das Antlitz Spaniens. Lichtdurchschossen, gerunzelt wie Saatland und ganz wie Brot und Erde.“ Kraft und Zärtlichkeit gingen von ihm und seiner Dichtung aus, seine Stimme war die seines Volkes, dessen Schmerzen und Hoffnungen sie zum Ausdruck brachte.
Während sich die Volksfront formierte und im Februar 1936 einen entscheidenden Wahlsieg errang, der zur Festigung der demokratischen Entwicklung im Lande beitrug, bereitete die Reaktion den Gegenschlag vor. Die Kommunisten erkannten die Gefahr und forderten die Verhaftung der gegen die Republik konspirierenden Generale. Diese wurden jedoch lediglich auf Kommandostellen außerhalb Spaniens versetzt, von wo aus sie, unterstützt von Nazideutschland und dem faschistischen Italien, im Juli 1936 die Republik überfielen. In dieser Situation fand sich der Dichter Neruda in die Verantwortung vor der Geschichte gerufen: „Der Spanienkrieg, der meine Dichtung veränderte, begann für mich mit dem Tode des Dichters.“ Garcia Lorca war bereits in den ersten Tagen des Überfalls von Faschisten ermordet worden. Nerudas den Kampf des Volkes begleitende Dichtung Spanien im Herzen wurde zum Kern des dritten Teils von Aufenthalt auf Erden, der die zwischen 1925 und 1945 entstandenen Gedichte umfaßt. Pablo Neruda erlebte nur die ersten Monate dieses national-revolutionären Krieges am Ort des Geschehens. Die chilenische Regierung unter Arturo Alessandri berief den Konsul aus Madrid ab, weil er, den diplomatischen Regeln zuwider, offen für die Republik Partei ergriffen hatte. Neruda ging nach Paris, arbeitete weiter an seinen Spaniengedichten, unterstützte republikanische Flüchtlinge, edierte zusammen mit der aus aristokratischer Familie stammenden Engländerin Nancy Cunard eine Zeitschrift: Die Dichter der Welt verteidigen das spanische Volk, hielt einen viel beachteten Vortrag über García Lorca, gründete zusammen mit dem peruanischen Dichter und Kommunisten César Vallejo ein „Hispanoamerikanisches Hilfskomitee für Spanien“, half den II. Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur organisieren, der in Valencia und Madrid und abschließend in Paris tagte und an dem er selber teilnahm. Von der Wiederbegegnung mit Spanien und seinen kämpferischen Menschen und vom proletarischen Internationalismus in Gestalt der Interbrigaden waren Neruda und seine Freunde zutiefst beeindruckt. Auf der Abschlußsitzung in Paris, im Juli 1937, forderte er: „Schriftsteller aller Länder, vereinigt euch mit den Völkern aller Länder.“
Gezielt richtete er seine Dichtung fortan auf das Volk, auf Chile und auf Amerika aus. Die Spaniengedichte beendete er im Herbst 1937, während der Rückreise nach Chile, wo er den Vorsitz einer von ihm in Anlehnung an die Allianz der spanischen antifaschistischen Intellektuellen organisierten „Allianz der Intellektuellen Chiles zur Verteidigung der Kultur“ übernahm. Er kämpfte für eine Volksfront in Chile und unterstützte deren Präsidentschaftskandidaten Pedro Aguirre Cerda, der nach seinem Wahlsieg 1938 die Regierung bildete. Die Allianz der Intellektuellen drängte auf eine aktive Hilfe für die spanischen Flüchtlinge, und Neruda wurde von Aguirre Cerda beauftragt, in Frankreich die Verschiffung spanischer Emigranten nach Chile zu betreuen. Es gelang ihm, Tausende zu retten, und er war stolz auf diese edelste Mission seines Lebens. Er wußte, daß die Rettung spanischer Patrioten aber auch seinen dichterischen Worten zu verdanken war, sie hatten Macht und unmittelbare Wirksamkeit erlangt. „Meiner während ihres Kampfes entstandenen Dichtung war es gelungen, ein Vaterland für sie zu finden“, schrieb er später. Diese Erfahrungen beeinflußten entscheidend die Konzeption eines Hauptgedichtes, mit dem er die historische Bestimmung der Menschen seines Kontinents aufdecken wollte und das den Titel Großer Gesang über Chile trug. 1940 war er an Bord des Flüchtlingsschiffes Winnipeg inmitten leidgeprüfter, gedemütigter aber auch hoffnungsvoller Menschen nach Südamerika zurückgekehrt. Noch im gleichen Jahr wurde er als Generalkonsul nach Mexiko geschickt. Dort reihte er sich ein in die internationale Bewegung gegen Krieg und Faschismus. Freies Deutschland, das Organ der deutschen Antifaschisten, druckte sein Gedicht über die Ankunft der Internationalen Brigaden in Madrid, in dem er die weltweite Solidarität besang. Und sein Lied auf die deutschen Ströme verband sich mit dem Strom des Widerstandes gegen den Faschismus, der aus der Erde, aus allen Kerkern, aus den humanistischen Traditionen des deutschen Geisteslebens und den Kämpfen der deutschen Arbeiterklasse hervortrat. Weil er sich zu einem demokratischen Deutschland bekannte, verübten Nazis im Dezember 1941 ein Attentat auf ihn. Hunderte von lateinamerikanischen Intellektuellen bekundeten ihm daraufhin ihre Sympathie. An den Häuserwänden von Mexiko-Stadt klebten eines Morgens Plakate mit einem Gedicht Nerudas auf den Heldenkampf von Stalingrad. Als man ihn wegen seiner politischen Aktivitäten rügte, antwortete er mit einem neuen Gesang auf Stalingrad, in dem er seine Wandlung und die seiner Dichtung proklamierte und auf der ursächlichen Verbindung von Dichtung und Politik beharrte. Da das Diplomatenamt sein Engagement zunehmend einschränkte, bat er um Abberufung.
Bei der Abfassung des Großen Gesangs über Chile, von dem 1943 ein Privatdruck erschien, hatte es ihn immer mehr danach gedrängt, einen Gesang auf den ganzen Kontinent zu schreiben. Reisen nach Guatemala und Kuba, von Mexiko aus, und Erlebnisse, die er während der Heimreise in Panama, Kolumbien und Peru gehabt hatte, ließen dieses Vorhaben weiter reifen. Vor allem der Besuch der Ruinen der alten präinkaischen Kultur von Macchu Picchu in Peru bestärkten ihn in der Absicht, einen Großen Gesang aller lateinamerikanischen Nationen zu verfassen:

Ich fühlte mich als Chilene, Peruaner, Amerikaner. Auf diesen schwer zugänglichen Höhen, zwischen den ruhmreichen verstreuten Ruinen hatte ich ein Glaubensbekenntnis für die Fortsetzung meines Gesangs gefunden.

Als Neruda Ende 1943 nach Chile zurückkehrte, war er in seinen politischen und auch ästhetischen Anschauungen so weit gereift, daß man in ihm übereinstimmend den Gestalter des Schicksals der einfachen Menschen sah – der Arbeiter, Bauern und Indios. Er trat auch öffentlich hervor, hielt Vorträge über seine Dichtung, las aus seinen Werken, gab politische Stellungnahmen ab. Die eindeutigen Bekundungen sollten ihm Verfolgung, aber auch große Ehre eintragen. Die Kommunistische Partei nominierte ihn als Kandidaten für die Senatswahlen; dabei war er noch nicht Mitglied der Partei, wiewohl er sich seit dem Spanienkrieg als solches fühlte. Er wurde von den armen Leuten der Provinzen Tarapacá und Antofagasta für acht Jahre zum Senator gewählt. Später bekannte er:

Ich werde immer stolz darauf sein, daß Tausende von Chilenen aus dem härtesten Gebiet von Chile, dem großen Kupfer- und Salpeterbergbaugebiet, für mich stimmten.

Im Juli 1945 trat er der Kommunistischen Partei bei, deren Kampf er bereits mit Gedichten auf Emilio Recabarren, ihren Gründer, gewürdigt und unterstützt hatte. Die Arbeit am Großen Gesang schritt fort, alles war auf eine zyklische Epopöe ausgerichtet, deren innerer Motor die wissenschaftliche Geschichtsauffassung sein sollte. Inzwischen reiften neue politische Entscheidungen heran. Für 1946 waren Präsidentschaftswahlen anberaumt. Die Kommunistische Partei ging ein Wahlbündnis mit den Radikalen ein und unterstützte deren Kandidaten Gabriel González Videla, der sich jedoch, kaum daß er den Sieg davongetragen hatte, gegen den Partner stellte. Er vergaß seine Versprechen und gehorchte den Wünschen Washingtons und der chilenischen Bourgeoisie, die die Stimmengewinne der Kommunisten in Schrecken versetzte. Pressezensur, der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien, der ČSR und der Sowjetunion zeigten den „neuen Kurs“, der mit der Schaffung eines „Gesetzes zur ständigen Verteidigung der Demokratie“ auf die Verfolgung der Kommunisten hinauslief. Neruda hielt aufsehenerregende Reden gegen González Videla, der den Widersacher aus dem Senat ausschließen ließ. Der Inhaftierung wegen „Hochverrats“ entzog sich Neruda, indem er in den Untergrund ging. Beschützt von vielen einfachen Menschen, hielt er sich über ein Jahr lang verborgen. Seine Zufluchtsstätten wurden ihm zu einer Quelle der Erfahrung, sie vertieften die Bindung des Dichters zur Heimat und zu ihren Menschen, unter denen er seinen Großen Gesang abschloß.
„Was ich erlebte, stand auf dramatische Weise in naher historischer Beziehung zu Amerikas Themenkreis“, vermerkte Neruda hierzu später. Die Entstehung dieser Dichtung, die eine großartige poetische Vision der Geschichte Amerikas bietet, ist zutiefst mit der Hoffnung auf eine gerechte Ordnung verbunden, die auf der Brüderlichkeit der Menschen gründet. Unbestreitbar spiegelt das Buch auch die ideologischen Auseinandersetzungen jener Jahre des kalten Krieges wider, die den Dichter zur direkten Entgegnung herausforderten, was die Form und auch den Stil einzelner Kapitel prägte. Schon am Beginn der Dichtung setzt sich das lyrische Subjekt in gebietende Funktion: „Ich bin hier, der Geschichte Lauf zu erzählen.“ Die schöpferische Phantasie poetisiert die lateinamerikanische Realität und führt zugleich einen Prozeß gegen die fragwürdigen Bedingungen ihrer historischen Entstehung. Seiner emotionalen Intuition folgend, bedient sich der Dichter komplexer Metaphern und eines symbolgeladenen Wortschatzes, um mythische Elemente einzuführen, mit deren Hilfe er nicht nur die Ankunft in der Vergangenheit des Kontinents, sondern auch die Wandlungen von Natur, Mensch und Geschichte beschreibt. Auf diese Weise zeigt er Fehlentwicklungen auf, und indem er nach dem eigenen Ich sucht und die Verantwortung des einzelnen hervorhebt, hält er den Menschen dazu an, sich endlich als zielvoll handelndes Wesen zu begreifen: „Steige auf, um mit mir zum Leben zu erwachen, Bruder!“ Der Dichter redet durch den Mund der Unterdrückten von ihrer Angst, ihren Kämpfen, Niederlagen, Erfolgen, und er singt die Hoffnung. Die Dichtung weitet sich zu epischer Größe. Ihre neuen Themen sind die Brüderlichkeit und die Solidarität. Die zu sich selbst gerufenen Menschen werden in die gesamte Menschheitsgeschichte eingeordnet, und ihre Erwartungen werden in die aller eingebracht: „Es gilt, Amerikas Mutterschoß zu öffnen, um aus ihm das glorreiche Licht zu holen!“
Um der politischen Verfolgung in Chile zu entrinnen, wechselte Neruda im Februar 1949 heimlich über die Grenze nach Argentinien und fuhr von da aus nach Europa. In Paris schloß er sich der Weltfriedensbewegung an, wurde Mitglied des Weltfriedensrates. In dieser Eigenschaft hielt er sich in der Sowjetunion, in Polen, Ungarn und in Mexiko auf, wo 1950 Der Große Gesang erschien. Die Kommunistische Partei seines Landes druckte unter Luis Corvaláns Regie in Chile zwei illegale Ausgaben.
Auf den vielen Reisen zwischen Europa, Asien und Amerika entstanden die Gedichte zu Die Trauben und der Wind. Sie waren Zeitzeugnisse, unmittelbarer Reflex der momentanen ideologischen Auseinandersetzungen, in klarer, einfacher, elementarer Sprache gehalten – in ihrer Eigenart Modelle parteilicher Dichtung. Die Ich-Bezüge in den Gesängen auf die Freiheit des Windes, auf den Frieden unter den Trauben und auf den Kampf der Menschen um ihre Zukunft verdeutlichen Nerudas Bewußtseinsentwicklung, die in die Aufforderung mündet: „… man muß wählen, Freund, jeglichen Tag!“
Aus dieser Haltung werden auch die Elementaren Oden (1954/57) gespeist. In ihnen fuhr der erdgebundene Dichter fort, Natur, Geschichte und Alltagsleben seines Kontinents poetisch zu gestalten. Er sprengte dabei die rhetorischen Zwänge der Form und gab der Empfindung und emotionalen Bewegung Raum. Das lyrische Ich der Oden ist stets das des Dichters, der den Menschen, seinen Brüdern, den Nutzen der Dinge und Erfahrungen vorstellt. Alles soll in die Dichtung einströmen, es gibt keine nichtpoetische Substanz. Nichts ist zu klein für die Ode, nichts zu schmutzig, alles verdient Aufmerksamkeit. Schritt für Schritt den Gang der Wahrnehmung und Bewußtwerdung nachvollziehend, macht der Dichter die Realität durchschaubar und wägt er über Schönheit und Nutzen der Dinge. Das künstlerische Maß für die Darstellung der Weltverhältnisse verdankte Neruda den vielfältigen Formen der Volksdichtung, an denen Spanien, Chile und ganz Lateinamerika so reich sind. Die entscheidende Hinwendung zum Volkselement vollzog sich in den Versen des Kapitäns (1952). Diese Huldigungsgedichte auf Matilde Urrutia, Nerudas heimliche, neue Liebe, traten ihren Weg in die Welt zunächst anonym an, aus Rücksicht auf seine damalige Ehefrau Delia del Carril. Im übrigen bot dies gute Gelegenheit, sie auf ihre Wirkung zu erproben, denn waren diese Verse wirklich Blut vom Blute der Volksdichtung, so mußten sie ihren Weg auch anonym nehmen können. So geschah es. Mustergültig entsprachen sie der neuen Forderung des Autors nach Schlichtheit. Neruda hatte die poetische Aussage auf das Wesentlichste reduziert im Rückgriff auf alte Dichtungsformen, denn immer war er auf der Suche nach dem natürlichen und geschichtlichen Ausgangsort der Dichtung gewesen. Im Extravaganzenbrevier (1958) finden sich Verweise auf die erreichten Positionen. Fortan blieb seine Dichtung der Heimat Chile zutiefst verbunden. In den Bannkreis ihrer Natur und ihrer Menschen wurde alles mit einbezogen. In den sich anschließenden Jahren verfolgte Neruda das politische Geschehen in Lateinamerika mit wacher Aufmerksamkeit, insbesondere beschäftigte ihn die Aggressionspolitik der USA im karibischen Raum. 1960 widmete er der kubanischen Revolution ein Heldenepos, das, in der Linie von Der Große Gesang stehend, den Imperialismus leidenschaftlich anklagte.
Neruda strebte danach, sein poetisches Ich auf den Standort eines weitblickenden Beobachters zu heben. Dazu mußte er allerdings zunächst das eigene Leben aufarbeiten. 1962 publizierte er in einer brasilianischen Zeitschrift einen Lebensabriß, der den Grundstock seiner nachmaligen, postum erschienenen Erinnerungen abgab, jedoch auch Ausgang für die Gedichtsammlung Memorial von Isla Negra (1964) war. Die Retrospektive sollte sowohl die Grundstruktur der Gegenwart verdeutlichen als auch der Dichtung und dem Dichter eine neue gesellschaftliche Perspektive weisen; sie sollte aktuelles Leben ordnen. Vergangenheitserfahrung sollte der Gegenwart Sinn geben. Eine solche Rückschau führte den Dichter um so gezielter in die Tagespolitik. In den für 1964 anstehenden Präsidentschaftswahlen focht er an der Seite Luis Corvaláns für den sozialistischen Kandidaten Salvador Allende und für die Schaffung einer breiten antiimperialistischen und antioligarchischen Front. Die Angst vor einer Volksfront scharte die rechten Kräfte um den Christdemokraten Frei, der die Wahl schließlich gewann. Im Memorial von Isla Negra drückte der Dichter seine Befürchtungen über die Entwicklung aus: „Mitten in der Nacht frage ich mich, / was geschieht mit Chile? / Was wird mit meinem armen, armen Lande sein?“ Neruda blieb, nach wie vor, ein unmittelbar engagierter Autor. Er wollte dem kämpfenden Volk an der Seite stehen. Viele Ehrungen waren ihm zuteil geworden: Weltfriedenspreis, Stalinfriedenspreis, Ehrendoktorate großer Universitäten, Berufungen zum Präsidenten der chilenischen Schriftstellervereinigung. Die Nationalbibliothek in Santiago veranstaltete zu seinem 60. Geburtstag ein Symposium; dies zeigte, daß sein Werk bereits Aufnahme in die nationale Geschichte gefunden hatte. Sein Name war sogar in die Revolutionsgeschichte des Kontinents eingegangen: Che Guevara hatte den Großen Gesang während seines Guerillakampfes in Bolivien bei sich getragen.
1969 begannen die Vorbereitungen für die Präsidentschaftswahlen von 1970. Die Rechtskräfte nominierten den politisch reaktionären Expräsidenten Jorge Allessandri. Unter großen Schwierigkeiten organisierte die Linke die Unidad Popular. Da zunächst noch nicht über einen gemeinsamen Kandidaten entschieden war, andererseits die Kommunistische Partei nicht auf die Propagierung ihres Programms, bei Benennung eines eigenen Kandidaten, verzichten konnte, nominierte sie als ihren Vertreter Pablo Neruda. Als später Salvador Allende zum gemeinsamen Kandidaten der Volksfront vorgeschlagen wurde, stellte Neruda sich ihm als Propagandist und Helfer an die Seite. Nach dem Sieg der Unidad Popular vertrat er die Regierung Allende bis Dezember 1972 als Botschafter in Frankreich. In Paris erhielt er die Kunde von seiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis (1971) – eine längst verdiente Ehrung für sein Werk, das alle Maßstäbe gesprengt hatte. Im Dankvortrag anläßlich der Verleihung unterstrich er sein Engagement für den Fortschritt und seine Überzeugung von der sozialen Verantwortlichkeit des Dichters. Stolz konnte er in seinen Memoiren schreiben: „Nach harter Lehre durch die Ästhetik und dem Suchen durch die Labyrinthe des geschriebenen Worts bin ich der Dichter meines Volkes geworden. Das ist mein Preis…“ Die unauflösliche Verknüpfung von Dichtung und Politik manifestiert sich auch in den letzten Dichtungen. Ende 1972 kehrte Neruda, bereits gezeichnet von einer tödlichen Krankheit, nach Chile zurück und nahm den Kampfplatz an der Seite seines Volkes wieder ein. Er sah die Flut des Antikommunismus und den Terror anschwellen und setzte sein dichterisches Wort gegen die einheimische Reaktion und den nordamerikanischen Imperialismus ein. In Aufforderung zum Nixoncid und Lob der chilenischen Revolution (Februar 1973) verteidigte er mit seiner ganzen Lebens- und Kampferfahrung die „mehrstimmige rote Rose“ der chilenischen Revolution. Seine Pamphletdichtung hatte geschichtlichen Atem; er gab sich als Seher, rief die Menschen in aller Welt an und warnte. Er appellierte an die Intellektuellen Chiles und aller Länder, diese Revolution zu verteidigen, gegen die sich die Reaktion mit Mord und Sabotage zu verschwören begann. Als am 11. September 1973 Präsident Allende den eidbrüchigen Generalen zum Opfer fiel, bestätigten sich die Mahnungen, die Neruda kraft geschichtlicher Erfahrung bereits im Großen Gesang ausgesprochen hatte.
Der Dichter versagte sich den Putschisten. Von der Junta unter Arrest gestellt und vertrauter ärztlicher Betreuung entzogen, verschlimmerte sich sein Gesundheitszustand. Endlich nach Santiago übergeführt, starb er dort am 23. September 1973. Sein Heim war inzwischen barbarisch verwüstet worden, ebenso sein Wohnsitz in Isla Negra, den er in einem literarischen Testament des Großen Gesangs einstmals den chilenischen Gewerkschaften vermacht hatte. Aller Bedrohung zum Trotz, im Angesicht militärischer Machtdemonstration, gaben Tausende von Menschen dem toten Dichter das letzte Geleit, ehrten sie ihn, der Gefahren für das eigene Leben nicht achtend, mit dem Gesang der Internationale. Seine Dichtung, die aus dem Herzen des Kollektivs ihre Kräfte gewann, hatte Kämpfer gezeugt.

Christel und Kurt Schnelle, Nachwort, Juni 1977

 

Das Brot der Dichtung für die Massen: Pablo Neruda

− Der Neruda-Übersetzer und -Herausgeber Fritz Rudolf Fries im Gespräch über mögliche Lesarten eines Weltveranschaulichers. −

Valentin Schönherr: Schon 1949, im Jahr der Gründung der DDR, gaben Anna Seghers und Stephan Hermlin den ersten Gedichtband von Pablo Neruda heraus, und es folgten rasch viele weitere Neruda-Übersetzungen. Wie erklären Sie dieses frühe und große Interesse der DDR an ihm?

Fritz Rudolf Fries: In der Zeit, als Neruda populär wurde, fehlte in der sozialistischen Welt ein Dichter wie Majakowski. Majakowski war in den zwanziger Jahren der große Barde gewesen, und für ihn gab es keinen Ersatz. Die deutschen Lyriker der Emigration, die nach dem Krieg in die spätere DDR zurückkamen, die hatten nicht dieses Format. Hermlin hatte kein großes Werk anzubieten, Johannes R. Becher war ausgelaugt und hat sich dann als DDR-Kulturminister verausgabt. Es fehlte eine Integrationsfigur, die die richtige politische Botschaft massenwirksam unters Volk brachte. Dafür hat sich Neruda gut geeignet. Was ihn zum Volksdichter machte, war das Hymnische. Wenn Sie sich eine Aufnahme von ihm anhören – er trug seine Gedichte fast wie ein Priester vor, der das Brot der Dichtung an die Massen verteilt. Das hatte er mit Majakowski gemein, oder später noch einmal mit Jewgeni Jewtuschenko – ganz im Gegensatz etwa zu Brecht, der ein sehr cooler Interpret seiner eigenen Dichtung war.

Schönherr: Neruda ist ein vielseitiger Lyriker, vor allem thematisch. Mit der politischen Indienstnahme hat das aber wahrscheinlich nicht zusammengepasst.

Fries: Zuerst standen Nerudas Texte seit dem Spanien-Krieg im Vordergrund, das heißt, das große antifaschistische und proletarische Element, das Neruda im Dienste der sowjetischen Politik weltweit vertreten hat. Es ist folgerichtig, dass die ersten übersetzten Bücher Der Große Gesang, die Elementaren Oden und Die Trauben und der Wind waren. Da man den großen Neruda nicht nur auszugsweise veröffentlichen kann, gerät man schon bald in Zugzwang mit den Gedichten, die einen eher surrealistischen Ton anschlagen: Aufenthalt auf Erden, darin Gedichte wie „Der Tango des Witwers“ oder „Walking around“. Hier geht Neruda zurück auf die spanischen Traditionen, auf Góngora, auf die französischen Surrealisten, und das zu einer Zeit, wo die DDR-Kulturoffiziellen weit davon entfernt waren, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Das galt ja als Dekadenz! Insofern war Neruda für uns nicht nur die Fahne, die uns voranwehte, sondern auch jemand, der sich enorm gewandelt hat in seiner Zeit und der einer der ersten war, der die Bürokratie und das Langweilige und Rituelle des sozialistischen Alltags erkannt hat. Ich denke da an die wunderbaren Zeilen in Memorial von Isla Negra, wo er beschließt, angesichts der öden Erste-Mai-Feiern nur noch den 2. Mai zu feiern. Er war uns immer wieder einen Schritt voraus.

Schönherr: Zunächst einmal hat Neruda aber den Ersten Mai – sozusagen – kräftig mitgefeiert. Zumindest verbal war er bis zur berühmten Chruschtschow-Rede 1956 Anhänger Stalins. Wie erklären Sie sich, dass er sich – trotz seiner guten Kontakte zu höchsten politischen Kreisen — so spät vom Stalinismus abgewandt hat?

Fries: Ich denke, es dauerte so lange, bis er einen zweiten Mann gefunden hatte, den er verehren konnte – und das war Fidel Castro. Den Kult um Stalin verlagerte er auf die kubanischen Genossen, später dann auf Salvador Allende. Er brauchte wohl einen Politiker, der ihn auf dieser Bühne vertrat. Dass Neruda selbst gerne eine direkt politische Rolle gespielt hätte, hatte sich ja schon 1945 gezeigt, als er für die Kommunistische Partei in den chilenischen Senat ging, und dann noch einmal 1969, als er sich als Präsidentschaftskandidat aufstellen ließ und zugunsten von Allende zurücktrat.

Schönherr: Dennoch: Zu seiner Stalin-verehrenden Phase hat sich Neruda doch reichlich verharmlosend geäußert, zum Beispiel in seiner Autobiographie Ich bekenne, ich habe gelebt. Kann man diesen Neruda verehren?

Fries: Ja, selbstverständlich kann man das. Warum haben so viele Menschen, die wussten, was Stalin für ein Schwein war, ihn gelobt und unterstützt? Weil sie wussten, dass nur diese Kraft etwas gegen Hitler und den Faschismus ausrichten kann. Das war bei Neruda nicht anders. Zudem war er vorübergehend Stalinist, nicht bis zum Ende. Die Frage lässt sich verlängern auf Brecht, auf Hermlin, auf eine ganze Reihe von Dichtern, die ja auch in dem Sinne Stalinisten waren.

Schönherr: Gerade Der Große Gesang, das erste umfangreiche Neruda-Buch, das in der DDR erschien, ist inhaltlich ziemlich veraltet: Die Welt wird eingeteilt in Gut und Böse, und die Lösung liegt bei der Kommunistischen Partei und bei Stalin. Wie gehen Sie mit diesen Gedichten um?

Fries: Vieles davon lässt sich heute nur noch literaturgeschichtlich lesen. Aber: Neruda hat ein großes, vielfältiges Werk geschrieben, und bei meiner Gedicht-Auswahl für den gerade bei Luchterhand erschienenen Band habe ich keinen besonders weiten Bogen schlagen müssen. Die Stalin-Gedichte haben mich einfach nicht interessiert, und ich habe diese drei, vier Gedichte, in denen das so direkt ausgedrückt wird, einfach überlesen.

Schönherr: Was ist Ihnen statt dessen an Neruda wichtig?

Fries: Ein Dichter, der im Namen des Proletariats, der Weltrevolution durch die Welt fährt – der entdeckt plötzlich die Welt, und zwar die Welt, die er selbst mitgebracht hat, die lateinamerikanische! Er ist ein gesamtamerikanischer Erbe von Walt Whitman – historisch gesehen, aber auch, wenn Sie sich die Natur, den Urwald, die ganze Kosmographie dieses Kontinents bei Neruda anschauen. Daraus geht der Sammler Neruda hervor, der alles, was das Meer so anschwemmt, in seinen Häusern versammelt hat. Und schließlich der große Liebende Neruda. Es ist der Neruda der Elementaren Oden, des Extravaganzenbreviers, der mich fasziniert, der Neruda, der versucht hat, die ganze Welt in einer Person zu versammeln. Es gibt für mich keinen Dichter, der so total Welt veranschaulicht, spiegelt, wie Neruda.

Schönherr: Im Westen wurde Neruda zwar schon in den 60er Jahren verlegt, aber erst in der Allende-Zeit und nach dem Pinochet-Putsch wirklich bekannt. Und vor allem die westliche Linke hat ihn gelesen, er war auch dort – in anderem Sinne als in der DDR – ein Parteidichter. Gilt es, Neruda heute neu zu entdecken? Brauchen wir heute eine neue Neruda-Lektüre, und was könnte die bringen?

Fries: Natürlich wird jede Generation ihren eigenen Neruda lesen, insofern braucht es immer wieder eine neue Neruda-Lektüre. Die agitatorischen Gedichte, sowohl die für Stalin und China als auch die für die Unidad Popular unter Allende, müssen heute nicht mehr im Vordergrund stehen. Aber wenn Sie ein Gedicht nehmen wie die „Ode auf die Seeaalsuppe“ – das ist ein ganz aktuelles, unvergängliches Stück Literatur. Weder haben andere lateinamerikanische Schriftsteller Neruda überrundet, noch gibt es in der deutschsprachigen Literatur viel Vergleichbares zwischen Enzensberger und Durs Grünbein. Wenn wir behaupten, dass Lyrik vor allem begeistern soll, dann ist Neruda unschlagbar. Bewältigt oder erledigt wird er jedenfalls auch nach seinem hundertsten Geburtstag nicht sein.

Lateinamerika Nachrichten, Heft 361/362, Juli/August 2004

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Pablo Neruda

 

WORTGEBÄUDE
Zum Gedenken an Pablo Neruda

Nichts existiert,
was nicht nachgeschaffen ist in einem Wort.

Nicht existiert Gegenwart,
kann sie nicht greifbar sein in einem Wort.

Nicht existiert Vergangenheit,
ist sie nicht eingeprägt in einem Wort.

Nicht existiert auch Liebe,
höre ich nicht jeden Tag „Ich liebe dich“.

aaaaa(Präzisieren wir:
aaaaaMir ist lebenswichtig, daß ichs höre
aaaaanicht allein aus deinem Mund,
aaaaaaus meinem vielmehr auch,
aaaaadenn das Wort, einmal ausgesprochen,
aaaaakehrt mit der Ausdrücklichkeit des Gesagten
aaaaazu dem zurück, der es sprach.)

Nicht existiere, nicht im mindesten, auch ich,
atme ich nicht ein und aus ein Wort.

Das Weltall morst an die Erde:
Im Anfang war das Wort.

Und die Erde erwidert den Sternen
mit atemlosem Echo: Und im Ende – Wortlosigkeit.

Die das Wort abwürgen,
vergreifen sich am Sein.

Blaga Dimitrowa

 

 

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Neue Rundschau ✝ Neue Zeit ✝ PEN ✝ Tat

Zum 1. Todestag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: „Ich werde niemanden exkommunizieren“
Die Tat, 21.9.1974

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Uwe Berger: Seine Poesie ist Stimme des Volkes
Neues Deutschland, 12.7.1979

H. U.: Einheit von Poesie und Politik
Neue Zeit, 11.7.1979

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Hans-Otto Dill: Seine Dichtung – leidenschaftlicher Hymnus auf den Kampf der Völker
Neues Deutschland, 12.7.1984

Volodia Teitelboim: Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1984

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Margit Klingler-Clavijo: Ich bekenne, ich habe gelebt
Deutschlandfunk, 12.7.2004

Josef Oehrlein: Die drei Archen des Dichters
Cicero

Karin Ceballos Betancur: Das Kind und der Dichter
Die Zeit, 8.7.2004

Holmar Attila Mück: Krieger mit der Lyra
Deutschlandradio Berlin, 12.7.2004

Claudia Schülke: „Militanter Stalinist und kolossaler Dichter“: Pablo Neruda
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.2004

Leopold Federmeier: Der trunkene Durst des begeisterten Schleuderers
Neue Zürcher Zeitung, 12.7.2004

Zum 5. Todestag des Autors:

Sergio Villegas: Beerdigung unter Bewachung
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1978

Zum 10. Todestag des Autors:

Karl Bongardt: Seinen Atem durchwob die singende Liebe
Neue Zeit, 24.9.1983

Zum 50. Todestag des Autors:

Holger Teschke: Sänger des Regens und der Klassenkämpfe
junge Welt, 23.9.2023

Manfred Orlick: „Ich bekenne, ich habe gelebt!“
literaturkritik.de, 23.9.2023

Gerhard Dilger: Dichterfürst im Zwielicht
taz, 23.9.2023

Benjamin Loy: Schwieriges Schweigen
ORFSound, 20.9.2023

 

 

Pablo NerudaFragmente zu einem Portrait. Ein Film von Hans Emmerling, 1974

Pablo Neruda – Lesung und Interview des Literaturnobelpreisträgers 1971.

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