Pablo Neruda: Letzte Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Pablo Neruda: Letzte Gedichte

Neruda-Letzte Gedichte

NACHRUF AUF MANUEL UND BENJAMIN

Zwei zugleich, gleich zwei von meinem Gewerbe,
von meinem Werdegang, dem gleichen Tun geweiht,
sind tot, nur Stunden zwischen beider Sterben,
einer in Santiago gehüllt, der andere in Tacna,
beide einmalig, ähnlich sich nur
jetzt, dies eine Mal, weil sie gestorben.

Gerissen war der erste und majestätisch,
spröde, und knittrig sein Talar;
er neigte mehr zum Schweigen;
vom Manne vieler Arbeit hatte er
die tätige Hand, die es zum Steinblock
und zum Metalle zieht in der Schmiede.
Der andre war begierig nach Erkenntnis,
ein Vogel, flog im Leben er von Ast zu Ast,
auf Feuer gepolt gleich einem schönen Leuchtturm,
von dem es blitzt und blinkt.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaZwei Streiter
für zweierlei unterschiedliche Weisheit,
zwei edle Einsame, die heute
mir eins geworden in der Todesnachricht.

Ich liebte meine entgegengesetzten Gefährten,
vor deren Verstummen ich auch stumm geworden,
nicht wissend, was ich sagen soll, was denken.

Ach, so viel Suchen tief unter der Haut
und so lang wandern unter Seelen und Wurzeln,
so viel Papier zerschnippeln Stund um Stunde!

Jetzt stehn sie still, gewöhnen sich allmählich
an einen neuen Raum im Finstern,
gradlinig der eine wie die Eiche,
der andere mit seinen Spiegeln, Spiegelungen,

und beide mähten zeit unseres Lebens
die Zeit, sie stocherten, sie zogen Furchen,
folgten des paßgerechten Wortes Spuren,
dem Brot der Worte, und so alle Tage.

(Zu kurz die Zeit zum Müdewerden,
doch gehn sie still jetzt, endlich festlich,
zäh ein in dieses große Schweigen,
das ihre Gestalt sodann zerpflückt.)

Tränen sind nicht für sie da, niemals
für die zwei Männer.
aaaaaaaaaaaaaaaaUnd unsre Worte,
hohl klingen sie wie frische Gräber,
darin nur stören unsere Schritte,
indes die beiden dort allein sind,
ganz zwanglos, so wie sie’s gewesen.

 

 

 

Nachwort

Am 12. Juli 1973, als Pablo Neruda 69 Jahre alt wird, übergibt er seinem Verleger Gonzalo Losada, der aus Buenos Aires an sein Krankenlager in Isla Negra gekommen ist, um ihm zu gratulieren, acht Gedichtbücher. Sie werden 1974 – postum – in der von ihm bestimmten Reihenfolge erscheinen: Die abgeschnittene Rose, Garten im Winter, 2000, Das gelbe Herz, Buch der Fragen, Elegie, Das Meer und die Glocken, Ausgewählte Mängel.1
Die letzten vier Jahre seines Lebens stellt Neruda ganz in den Dienst seines Landes. Er kämpft mit allen Kräften für das Gelingen der Unidad Popular, der chilenischen Revolution: Als Dichter, Journalist, Vortragsredner, als Politiker und Diplomat wirbt er in Chile und im Ausland für die von Salvador Allende geführte Regierung. Obwohl ihm ein Krebsleiden große Schmerzen bereitet, versieht Neruda sein Amt als chilenischer Botschafter in Paris, das ihm Allende 1970 überträgt, mit der allergrößten Sorgfalt und mit Erfolg. Dabei kommt ihm das Ansehen zustatten, das er in Frankreich und auch bei Staatspräsident Georges Pompidou genießt, der selbst ein Literat ist. Als ihm am 21. Oktober 1971 der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wird, ist dies die Krönung seines künstlerischen Schaffens und zugleich eine Hommage an Chile. Im November 1972 ehrt ihn eine jubelnde Menge im überfüllten Nationalstadion von Santiago. Auf der Ehrentribüne klatscht auch General Augusto Pinochet Beifall, der ein knappes Jahr danach gegen die Regierung Allende geputscht und in diesem Stadion seine Gegner zusammengetrieben hat. Neruda ist zum Zeitpunkt des Putsches ein todkranker Mann. Die mexikanische Regierung bietet ihm politisches Asyl an. Er zieht es vor, in Chile zu bleiben. Seinen Freund Salvador Allende überlebt er nur wenige Tage: Am 23. September 1973 erliegt Pablo Neruda in Santiago de Chile seiner Krankheit. Das Begräbnis wird zur ersten großen Demonstration gegen die Militärdiktatur.2
Zehn Jahre später, im September 1983, versammeln sich wiederum Tausende von Chilenen in Santiago, um das Andenken Pablo Nerudas zu ehren und um seine Gedichte zu hören, die Matilde Urrutia vorträgt. Sie stirbt am 5. Januar 1985, 70 Jahre alt, in Santiago an Krebs.
Trotz aller Belastungen schreibt Neruda Morgen für Morgen an seinem Werk: 1970 erscheinen – neben Comiendo en Hungría – La espada encendida (Das flammende Schwert) und Las piedras del cielo (Die Steine des Himmels). La espada encendida basiert auf der chilenischen Legende von der Stadt der Cäsaren, die in den patagonischen Anden liegen soll, eine Variante des vielerorts in Lateinamerika verbreiteten Mythos von der verborgenen goldenen Stadt (El Dorado, Manoa). Neruda erfindet eine literarische Utopie, in der, nachdem die Welt des 20. Jahrhunderts untergegangen ist, Rhodo, der letzte überlebende Mann, Rosia, ein junges Mädchen aus jener Stadt der Cäsaren, trifft: Mit ihr will er ein neues Menschengeschlecht zeugen. In den antarktischen Süden, in die einsamste und wildeste Natur, verlegt Neruda diesen Neuanfang. Las piedras del cielo ist ein höchst phantasievolles Lapidarium, das Die Steine Chiles (1961) fortsetzt und mit dem Wunsch des Dichters endet, selbst ein Teil der Wunderwelt der Steine zu werden. Auch mitten im Wahlkampf, wenn Neruda im Auto durch Chile reist, und später in Frankreich, auf den Fahrten zwischen Paris und seinem Haus in der Normandie, schreibt er seine Verse: So entsteht Geografía infructuosa (Unnütze Geographie, 1972): Reisen, Landschaften, helle und dunkle Stimmungen alternieren. Als die gegen Chile gerichtete Destabilisierungspolitik der Vereinigten Staaten von Amerika immer sichtbarer wird, verfaßt Neruda sein letztes polemisches Gedicht, eine heftige Invektive gegen Nixon und dessen Administration („Incitación al nixoncidio y alabanza de la revolución chilena“ / Anstiftung zum Mord an Nixon und Lob der chilenischen Revolution, 1973). Am 5. Februar 1973 legt Neruda sein Amt als Botschafter nieder. Die unerbittlich fortschreitende Krankheit zwingt ihn dazu. Er kehrt nach Chile zurück. In Isla Negra diktiert er Tag für Tag Homero Arce seine Memoiren, die 1974 unter dem Titel Ich bekenne, ich habe gelebt erscheinen, und er nutzt jeden schmerzfreien Augenblick zur Arbeit an seinem lyrischen Werk.
Nerudas postumes lyrisches Werk spitzt die Themen der späten Bücher weiter zu: die Einsamkeit des Menschen, besonders im Alter und im Angesicht des Todes, den Pessimismus bei der Bewertung der sozialen und politischen Wirklichkeit, den Rekurs auf die Materie und die Gesetzmäßigkeiten der Natur, die Ohnmacht der Dichter. Angst und Hoffnung
3 sind die polaren Begriffe und Empfindungen, die die Themen und Bilder hervorrufen. Angst erzeugen die heimtückische Krankheit, der Tod vieler Freunde, die politischen Probleme seines Landes, die Friedlosigkeit einer waffenstarrenden, ungleich und ungerecht organisierten Welt, die ökologische Gefährdung der Menschheit. Die Hoffnung stützt sich – das ist schon fast ein Akt des Glaubens – auf die materialistische Überzeugung vom naturgesetzlichen Kreislauf. Tröstlich wirkt die Erinnerung an die Kindheit und an gute Freunde. Lebensnotwendig wird der Rückzug aus dem Getriebe aufs Land, nach Isla Negra, in Einsamkeit und Meditation. Die Gedichte verlieren fast vollständig ihren epischen, rhetorischen Charakter, sie werden kürzer, geschliffener, aphoristischer als vorher.
In Die abgeschnittene Rose spricht Neruda von der zu Chile gehörenden Osterinsel. Im Januar 1971 ist er mit einem Fernsehteam zu Aufnahmen für den Dokumentarfilm Geschichte und Geographie des Pablo Neruda dorthin gereist. Schon immer hat ihn diese Insel interessiert und beschäftigt: Seit dem Großen Gesang finden sich Gedichte über die Osterinsel und ihre rätselhafte Kultur in seinem Werk. Sie waren freilich nie aus eigener Anschauung entstanden, sondern verarbeiteten Büchern entnommenes Wissen. Jetzt sieht Neruda die Insel selbst und erlebt ihre dialektische Spannung: Vierzehn Gedichte gelten den Menschen, zehn der Insel. Rapa Nui, wie er die Osterinsel mit ihrem polynesischen Namen bezeichnet, ist ein Ort der Stille und Meditation, wo sich im Schweigen der Moais, der geheimnisvollen Steinkolosse, mehr Menschlichkeit erhalten habe als in der zivilisierten Welt, die bestimmt sei von Konsumzwang, Reklame und Entfremdung. Die Figur des – Englisch sprechenden – Touristen symbolisiert die gedankenlose Oberflächlichkeit der alles nivellierenden und gleichschaltenden Lebens- und Wahrnehmungsweise der kommerzialisierten Moderne. Die Statuen der Osterinsel hingegen, die von Menschenhand, aber auch vom Wind geschaffen wurden, sind steingewordene Fragezeichen. Sie verkörpern die Dichte, Härte und Anstrengung des auf den Grund der Dinge zielenden, individuellen Denkens; Individualität wiederum sei, so meint Neruda, die wesentliche Voraussetzung gelingenden Miteinanderseins in der Gesellschaft.
Garten im Winter ist ein Buch der Besinnung in turbulenter Zeit. Der Lärm auf den Straßen des dem Bürgerkrieg nahen Landes dringt an das Ohr des Dichters. Zugleich wird ihm klar, daß es immer einsamer ist um ihn herum, die Freunde, einer nach dem anderen, sterben, wie Manuel Rajas und Benjamín Subercaseaux. Vergänglichkeit, Einsamkeit, Ohnmacht und Angst vor dem Tod belagern den Dichter, der sich in den Wintergarten eingeschlossen hat. Er hat sich isoliert in toter Jahreszeit und wagt sich nicht mehr ans sommerliche Meer oder hinaus in den Frühling. Es bleibt die Erinnerung an die bunten, goldenen Gärten der Kindheit, an die Frauen, die er geliebt hat und mit denen er glücklich war, an die weiten Reisen, die ihn so viel erfahren und sehen ließen, an die regelmäßig frohe Rückkehr in die Heimat, an die Lektüren und an die Lieblingsautoren, wie etwa Quevedo, dessen unbestechlicher, kritischer Blick und messerscharfer Stil in längst vergangener Zeit bereits alles so hellsichtig durchdrungen und aufgezeichnet haben, wie es der Dichter im Wintergarten – einsam, krank und alt – jetzt auch erkennt. Die Menschen – und die Dichter – bilden von Generation zu Generation eine zeitliche Kette des Sterbens und der Wiedergeburt und verleihen so auch dem Vergänglichen Dauer.
Aus neun harten Gedichten besteht das Büchlein 2000. Neruda bekräftigt die negative Bilanz, die er in Weltende gezogen hat, formuliert sie aber beißender und schneidender. Alle Bemühungen des 20. Jahrhunderts seien fehlgeschlagen: Nichts als Zerstörung, Krieg, Tod hätten sie bewirkt. Die technischen Erfindungen bedrohten die Menschen, statt ihnen zu nützen, plünderten die Natur aus, statt sie zu bewahren. Das Sprechen in heutiger Zeit sei verbraucht. Sich selbst definiert er als armen Teufel aus der Dritten Welt:

Ich komme überallher, Ramón González Barbagelata, der Eisbart,
komme aus Cucuy, vom Parana-Becken, aus Rio Turbio, aus Oruro,
aus Maracaibo, aus Parral, Ovalle und aus Loncomilla,
egal woher, ich bleib der arme Tropf der armen dritten Welt,
der Fahrgast dritter Klasse; ich sitze – Jesses! – im Prachtweiß der verschneiten Anden
und falle gar nicht auf in den fein national gesinnten Orchideen
.4

Trotz des sarkastischen Tones kapituliert Neruda nicht: Er ruft die junge Generation auf, die Chance des neuen Jahrtausends zu nutzen.
Das gelbe Herz setzt diese Thematik humorvoll und mit surrealistischen Wortspielen fort. Neruda erinnert sich seiner avantgardistischen Anfänge und der poetischen Improvisationen gemeinsam mit Federico García Lorca und anderen spanischen Dichtern der Generation von 1927. Aus den Teilen der absurden Realität zimmert er eine poetische Welt, die zwar nicht weniger disparat und chaotisch ist, doch durch Lachen befreit und die Möglichkeit einer anders gebauten Wirklichkeit suggeriert. Auch Das Buch der Fragen spielt mit Paradoxien. Hier besinnt sich Neruda auf Baltasar Gracián, den großen Aphoristiker des spanischen Barock. Wie ein naives Kind stellt der Dichter Fragen, die die Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten in Zweifel ziehen: Warum hat Kolumbus eigentlich nicht Spanien entdeckt? Oder was passiert mit den Schwalben, die zu spät zur Schule kommen? Das wilde, anarchistische Denken des jungen Neruda lebt in diesen Sentenzen wieder auf.
Eine völlig andere Stimmung durchzieht Elegie. Mit diesem Buch verabschiedet sich Neruda von Moskau und von den Freunden, die er dort traf. Viele oft erwähnte Namen tauchen wieder auf: Ilja Ehrenburg, Nazim Hikmet, Alberto Sánchez. Alle sind längst gestorben. Es gibt nur noch einen wehmütigen Dialog in der Erinnerung und über die Gräber hinweg. Auch Das Meer und die Glocken ist eine Elegie. Viele der Gedichte sind auf dem Krankenlager in Isla Negra entstanden: Neruda blickt auf das Meer und auf die Glocken, die er in seinem Garten in einem hölzernen Glockenturm aufgehängt hat. Das Meer, das er liebt, weil es im Hin und Her der Wellen den Stoffwechselprozeß der Natur am anschaulichsten zeigt, symbolisiert jetzt nur noch den Tod. Auch der Klang der Glocken wird leiser, undeutlich. Nur Matilde bleibt: Ihr dankt er im letzten Gedicht.
Ausgewählte Mängel schließlich wirkt wie ein Selbstportrait des Dichters, der Situationen seines Lebens – wie sie ihm einfallen notiert, gute und böse Erlebnisse, schöne und häßliche Eindrücke. Sein Fazit:

Das Leben ist nicht die Spitze eines Messers,
kein niederschmetternder Stern,
sondern ein leiser Verschleiß im Leihkostüm,
ein tausendfach wiederholter Schuh,
eine Medaille, die langsam oxydiert
im Innern einer dunklen, dunklen Truhe.

Ich verlange keine frische Rose, keine Schmerzen,
nicht Gleichgültigkeit ist’s, was mich verzehrt,
sondern daß jedes Zeichen geschrieben ist,
Salz und Wind verwischen die Schrift,
und die Seele ist nun eine schweigende Trommel
am Ufer eines Flusses, jenes Flusses,
der dort war und dort sein wird weiterhin
.5

Karsten Garscha, Nachwort

 

Das Buch

Erwiesen ist, es gibt ihn, den Baum, der grünt im Frühling.

Seine letzten Lebensjahre hat Pablo Neruda nochmals ganz in den Dienst der Politik gestellt. Er vertrat die Unidad Popular, in Chile selbst und als Diplomat und international geachteter Dichter in Paris. Schwer krank, schrieb er Liebesgedichte, Verse, die sich mit dem nahen Tod auseinandersetzten, und neue Lieder gegen Imperialismus und Ausbeutung, gemäß seiner in der Nobelpreisrede von 1971 formulierten Maxime, „der Dichter (habe) nur einen ernstzunehmenden Feind: seine eigene Unfähigkeit, sich zu verständigen mit den am meisten Mißachteten und Ausgebeuteten unter seinen Zeitgenossen.“ Sein postumes Werk, das hier vollständig vorliegt, sollte auf Wunsch des Dichters zu seinem 70. Geburtstag 1974 erscheinen. Aus diesem Anlaß und als Dank wollte Salvador Allende ein großes Fest ausrichten. Dazu kam es nicht mehr.

Deutscher Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1993

 

 

Neruda, ein Fest; Rulfo, ein Schweigen

Das Jahr 1969 habe ich als eines der glücklichsten meines Lebens in Erinnerung.
Ich hatte zwei kleine Kinder, und mein Haus in Santiago füllte sich mit Hippies, die dem Weißen Album der Beatles und dem Gesang des schwarzen Vogels am Ende der Nacht lauschten. Überall sprach man von der Mairevolte der Jugend in Frankreich, und meine Studenten hängten Bettlaken mit Aufrufen zu Revolution und Reformen an die Fassaden der Universität. Jung und voller Ungewissheit zu sein war wundervoll, und um mein Glück perfekt zu machen, gewann mein Erzählband Desnudo en el tejado den Preis der kubanischen Casa de las Américas. Ich fühlte mich wie ein starker junger Panther inmitten eines strotzenden Dschungels, der erobert werden wollte und mich lockte mit Jazz, freier Liebe, Sozialdemokratie und – Neruda!
Der Dichter war von einer seiner vielen Reisen, auf der man ihn wieder einmal so mit Medaillen überhäuft hatte, dass er aussah wie ein mittelalterlicher Ritter in eherner Rüstung, nach Isla Negra heimgekehrt, und er war bester Dinge.
Man würde ihm die Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten antragen, die Umfragewerte seiner Partei waren himmelhoch, der Nobelpreis aufs Neue greifbar nah („Ich habe es satt, jedes Jahr auf der Liste der Favoriten zu stehen, als wäre ich ein Rennpferd“), und Neruda war eine Währung, mit der sich in der ganzen Welt Handel treiben ließ.
Mein neuer Status als internationaler Literaturpreisträger steigerte mein Selbstbewusstsein um einige Grade und auch mein Verlangen, den Dichter während seiner immer selteneren Aufenthalte in Chile möglichst oft zu sehen, seine Gesellschaft zu genießen und von ihm zu lernen. Also richtete ich es so ein, dass ich ihm immer wieder politische oder poetische Nachrichten nach Isla Negra bringen konnte. Heute fällt mir dazu der Titel eines Theaterstücks von Christopher Fry ein: Ich war Ein Phönix zuviel.
In jenem Jahr, ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, fand in Valparaiso, etwa achtzig Kilometer vom Dorf des Dichters entfernt, ein großes internationales Schriftstellertreffen statt. Neruda beschloss, aus diesem Anlass in seinem Speisezimmer und rund um sein Haus ein riesiges Festessen zu geben, eine Großveranstaltung, zu der wir, die Teilnehmer der Lesungen und Debatten, mit Autos und Bussen angekarrt wurden.

Wie Don Pablo mir im Vertrauen sagte, war dieses Fest eine Art Generalprobe für den Wirbel, den er 2004 um seinen hundertsten Geburtstag zu machen gedachte.
Im Garten des Hauses drängten sich mehrere Generationen der schreibenden Zunft, griffen unablässig nach gegrillten Fleischstückchen und noch eifriger nach dem Rotwein, bis es Zeit für das eigentliche Festessen war. Nun kam der Augenblick der Wahrheit: Der Dichter hatte nicht etwa Zettelchen aus einem Hut gezogen, um die zehn oder zwölf Privilegierten auszulosen, die mit ihm an seinem runden Tisch im Inneren des Hauses sitzen durften, sondern diese nach Freundschaftsgrad, Alter und Berühmtheit ausgewählt. Wie einige seiner hoch angesehenen Feinde, die zwar die weiße Fahne schwenkten, aber den guten Samariter im Hausherrn dennoch nicht zu wecken vermochten, mussten auch wir Grünschnäbel draußen bleiben.
Der Dichter, einen Cowboyhut auf dem Kopf, war strahlender Laune und schrieb später dazu:

Die Freunde treffen ein, und das Haus füllt sich mit Lärm, mit Zigaretten, Morgenrot und Wein, mit Gestern und Morgen, einem Himmel mit Augen, Zitronenbäumen.

Zum Kreis der Auserlesenen gehörten unter anderen Mario Vargas Llosa und Juan Rulfo, über den Neruda sagte, er sei „mit seiner stillen Art und seinem schmalen Werk einer der allerwichtigsten Schriftsteller unseres Kontinents“. Dieser in sich gekehrte Erzähler war damals mein Lieblingsheiliger, und als Nicanor Parra in Mexiko den nach Rulfo benannten Preis erhielt, paraphrasierte er in seiner Ansprache die Aussage Heideggers, „Dichtung ist worthafte Stiftung des Seins“, indem er sagte, die Dichtung Rulfos sei „schweigende Stiftung des Seins“.
Nach dem Dessert kam Rulfo heraus und stand wie benommen auf der Terrasse in der Sonne. Mit dem großspurigen Gehabe eines jungen Universitätsprofessors trat ich zu ihm und fing an, ihm seine Geschichten aus Der Llano in Flammen zu erläutern, ohne mich von seiner steinernen Miene in meinem Redefluss bremsen zu lassen. Unterdessen näherte sich Neruda, gefolgt von einer Fotografin, legte jedem von uns brüderlich eine Hand auf die Schulter und sagte zu Rulfo:

Bitte, Juan, gewähre meiner Hand die Ehre deiner Schulter.

Nach dem Klicken des Auslösers winkte mich Neruda beiseite. Er senkte die Stimme und flüsterte mir ins Ohr: „Rulfo gibt nicht einen Mucks von sich, Mann. Der ist stummer als ein Grabstein.“
„Wie dein Freund Juvencio Valle“, pflichtete ich ihm bei.
„Deshalb nenne ich den ja auch Juvencio Silencio“, sagte er und kratzte sich die Nase. Dann rückte er mit seinem Anliegen heraus: „Könntest du Juan wohl ein bisschen unterhalten, damit er sich nicht langweilt?“
„Sei unbesorgt, ich habe gerade erst einen Essay über die Konfiguration des Irrealen in seinen Kurzgeschichten geschrieben.“
Während unser Gastgeber seine Siesta hielt, „unterhielt“ ich Rulfo also mit den sibyllinischen Argumenten, die ich in diesem Aufsatz ausführe – später erschien dieses „Attentat“ in Deutschland. (Superrealidad e hiperrealidad en los cuentos de Juan Rulfo, Spanien und Lateinamerika, Deutscher Spanischlehrerverband, Nürnberg 1984) –, und versuchte ihm einzureden, er spüre den Schatten oder Geist eines Wesens, bevor er dessen reale Gestalt wahrnahm. Er sagte weder Ja noch Nein, als wäre er der lebende Beweis für das, was 1991 Parra über ihn sagen sollte.
Rulfo wurde mit den Jahren immer wortkarger.
Wie er Neruda anvertraut hatte, arbeitete er an einem dritten Buch, das sein Meisterwerk werden und La cordillera heißen sollte, und einmal, kurz vor seinem Tod, fragte mich Don Pablo, der von meinen Studien zum Werk des Mexikaners wusste, ob das Buch inzwischen erschienen sei. Doch Rulfo hatte anscheinend nur die Idee dazu gehabt und dann entschieden, dass es still und ungeschrieben am besten aufgehoben wäre. In seinem Lob auf die Schweigsamkeit ging er letztlich so weit, das Schreiben aufzugeben und sich in späten Jahren ausschließlich der Fotografie zu widmen.
Seine Bildbände sind voll von eindrucksvollen Porträts; vielleicht liegt das daran, dass er jedes Motiv vor dem Hintergrund seiner eigenen Abwesenheit darstellt.
Als ich einmal mit anderen Schriftstellern zusammensaß, entspann sich eine Diskussion über dieses abgrundtiefe „rulfianische Nichts“, dem die Toten zu entsteigen pflegen wie einem Schacht, so lebendig, so tragisch und – das darf man ruhig laut sagen – so komisch. Natürlich mit jener Komik der undurchdringlichen Miene eines Buster Keaton.
Daraufhin bemerkte einer aus der Runde, Jorge Luis Borges habe ihm von einer Talkshow mit Rulfo im argentinischen Fernsehen erzählt, und daraufhin habe er von Borges wissen wollen, wie es gewesen sei.
„Tja“, hatte Don Jorge Luis geantwortet, „ich habe pausenlos geredet, und Rulfo hat ab und zu das eine oder andere Schweigen eingestreut.“

Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Pablo Neruda

Ugné Karvelis: Ein Tag auf der Isla Negra, Sinn und Form, Heft 5, 1974

 

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Nachrufe auf Pablo Neruda: Neues Deutschland ✝ Berliner Zeitung ✝
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Zum 1. Todestag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: „Ich werde niemanden exkommunizieren“
Die Tat, 21.9.1974

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Uwe Berger: Seine Poesie ist Stimme des Volkes
Neues Deutschland, 12.7.1979

H. U.: Einheit von Poesie und Politik
Neue Zeit, 11.7.1979

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Hans-Otto Dill: Seine Dichtung – leidenschaftlicher Hymnus auf den Kampf der Völker
Neues Deutschland, 12.7.1984

Volodia Teitelboim: Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1984

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Margit Klingler-Clavijo: Ich bekenne, ich habe gelebt
Deutschlandfunk, 12.7.2004

Josef Oehrlein: Die drei Archen des Dichters
Cicero

Karin Ceballos Betancur: Das Kind und der Dichter
Die Zeit, 8.7.2004

Holmar Attila Mück: Krieger mit der Lyra
Deutschlandradio Berlin, 12.7.2004

Claudia Schülke: „Militanter Stalinist und kolossaler Dichter“: Pablo Neruda
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.2004

Leopold Federmeier: Der trunkene Durst des begeisterten Schleuderers
Neue Zürcher Zeitung, 12.7.2004

Zum 5. Todestag des Autors:

Sergio Villegas: Beerdigung unter Bewachung
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1978

Zum 10. Todestag des Autors:

Karl Bongardt: Seinen Atem durchwob die singende Liebe
Neue Zeit, 24.9.1983

Zum 50. Todestag des Autors:

Holger Teschke: Sänger des Regens und der Klassenkämpfe
junge Welt, 23.9.2023

Manfred Orlick: „Ich bekenne, ich habe gelebt!“
literaturkritik.de, 23.9.2023

Gerhard Dilger: Dichterfürst im Zwielicht
taz, 23.9.2023

Benjamin Loy: Schwieriges Schweigen
ORFSound, 20.9.2023

 

 

Pablo NerudaFragmente zu einem Portrait. Ein Film von Hans Emmerling, 1974

 

Pablo Neruda – Lesung und Interview des Literaturnobelpreisträgers 1971.

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