DAS ANDERE SCHLOSS
Nein, ich bin nicht der Feurige,
ich bestehe aus Kleidern, Rheumatismus,
zerrissenen Papieren, vergessenen Zitaten,
armseligem Höhlengekritzel auf etwas,
was einmal stolze Steine waren.
Wo ist das Schloß des Regens geblieben,
wo die Zeit des Wachsens mit ihren traurigen
aaaaaTräumen
und jener halbentfaltete Plan
von ausgebreiteten Schwingen, vom Adler am Himmel,
von heraldischem Feuer?
Nein, ich bin nicht der Blitz
aus blauem Feuer, niederzuckend wie eine Lanze,
die jedes Herz ohne Bitterkeit durchbohrt.
Das Leben ist nicht die Spitze eines Messers,
kein niederschmetternder Stern,
sondern ein leiser Verschleiß im Leihkostüm,
ein tausendfach wiederholter Schuh,
eine Medaille, die langsam oxydiert
im Innern einer dunklen, dunklen Truhe.
Ich verlange keine frische Rose, keine Schmerzen,
nicht Gleichgültigkeit ist’s, was mich verzehrt,
sondern daß jedes Zeichen geschrieben ist,
Salz und Wind verwischen die Schrift,
und die Seele ist nun eine schweigende Trommel
am Ufer eines Flusses, jenes Flusses,
der dort war und dort sein wird weiterhin.
DER STRAHLENDEN STADT ENTGEGEN
– Nobelpreisrede – 13. Dezember 1971. –
Meine Rede wird eine lange Reise sein, ein Zug quer durch ferne, antipodische Regionen, die dennoch der Landschaft, der Einsamkeit Skandinaviens ähneln. Ich spreche vom äußersten Süden meines Landes. So weit, weit weg leben wir Chilenen, daß unsere Grenze fast den Südpol berührt, weshalb unsere Geographie derjenigen von Schweden gleicht, das mit seinem Haupt den verschneiten Norden des Planeten streift.
Dort drunten, in jenen Weiten meines Vaterlandes, wohin mich längst vergessene Ereignisse führten, muß man die Anden überqueren, mußte ich die Anden überqueren, um die Grenze zu finden, die meine Heimat von Argentinien trennt. Riesige Wälder überwölben dort die unzugänglichen Gebiete, und weil unser Marsch geheim und verboten war, durften wir nur die unscheinbarsten Orientierungszeichen benutzen. Da waren keine Fährten, es gab keine Pfade; auf windungsreichem Ritt – immer neue Hindernisse umgehend, mächtigen Bäumen, unpassierbaren Flüssen, gewaltigen Felsmassen, trostlosen Schneefeldern ausweichend, mehr der Ahnung als der Kenntnis folgend – suchten meine vier Kameraden und ich die Route, die mich in die Freiheit gelangen ließe. Meine Begleiter verstanden es, die Richtung zu halten, wußten, wo das Laubgewirr einen Durchlaß bot; doch der Sicherheit halber hieben sie, vom Sattel aus, hie und da mit der Machete eine Kerbe in die Rinde eines der großen Bäume: Merkmale, die sie auf dem Rückweg leiten sollten, wenn sie mich meinem Schicksal überlassen haben würden.
Gebannt ritt jeder von uns voran, umschlossen von der endlosen Einsamkeit, dem grünen und weißen Schweigen, den Bäumen, den langen Lianen, dem von Jahrhunderten abgelagerten Humus, den halb umgesunkenen Stämmen, die uns wieder und wieder den Weg versperrten. Alles war eine betörende, betäubende, unfaßliche Natur und zugleich eine wachsende Bedrohung durch Frost, Schnee, Verfolgung. Alles vermischte sich: die Einsamkeit, die Gefahr, die Stille und die Dringlichkeit meines Auftrags.
Manchmal folgten wir einer kaum wahrnehmbaren Spur, sie stammte vielleicht von Schmugglern oder von gewöhnlichen Verbrechern, die ihr Heil in der Flucht gesucht hatten. Wir wußten nicht, ob viele von ihnen umgekommen waren, jählings gepackt von den Eishänden des Winters, überfallen von entsetzlichen Schneestürmen, wie sie plötzlich in den Anden losbrechen, den Reisenden einhüllen, verschütten, begraben unter sieben Schichten Weiß.
Zu beiden Seiten der Fährte gewahrte ich hie und da in der wilden Ödnis eine Art Bauwerk von Menschenhand: aufgehäufte Äste, über die viele Winter hingegangen waren, pflanzliche Opfergaben von Hunderten, die hier unterwegs gewesen waren, hohe Grabhügel aus Holz, zur Erinnerung an die Gefallenen, zum Gedenken an diejenigen, die nicht mehr weiter konnten und hier für immer unter den Schneemassen liegen geblieben waren. Auch meine Begleiter hieben mit ihren Buschmessern Zweige ab, die unsere Köpfe streiften, herabhängend von gigantischen Nadelbäumen, titanischen Eichen, deren letztes Laub vor den Winterstürmen erschauerte. Und auch ich hinterließ auf jedem Hügel ein Erinnerungszeichen, eine hölzerne Visitenkarte, einen abgehackten Laubwedel, das Grab eines Fremdlings zu schmücken.
Wir mußten einen Fluß überqueren. Die kleinen Wasserläufe, die auf den Gipfeln der Anden entspringen, schießen bergab, lassen ihre rasende, niederreißende Kraft zu Tal donnern, stürzen als Kaskaden in die Tiefe, Erde zerwühlend, Felsen zerschlagend mit der Geschwindigkeit und Wucht, die sie aus ihren erlauchten Höhen mitbringen: doch diesmal fanden wir ein Becken, einen weiten Wasserspiegel, eine Furt. Die Pferde gingen hinein, verloren den Boden unter den Hufen und schwammen zum anderen Ufer. Bald war mein Pferd fast ganz überflutet; ich begann zu schwanken, hilflos strampelten meine Füße gegen die Strömung, während das Tier darum kämpfte, den Kopf über Wasser zu behalten. So durchquerten wir den Fluß. Und kaum waren wir ans andere Ufer gelangt, da fragten mich die Pfadführer, die Bauern, die mir das Geleit gaben, mit einem gewissen Lächeln:
„Haben Sie arg Angst gehabt?“
„Gewiß. Ich hab schon geglaubt, mein letztes Stündchen sei gekommen.“
„Wir sind immer dicht hinter Ihnen gewesen, mit dem Lasso in der Hand.“
„Genau an dieser Stelle“, fügte einer von ihnen hinzu, „ist mein Vater gestürzt, und die Strömung hat ihn mitgerissen. Ihnen sollte nicht das gleiche passieren.“
Wir ritten weiter, bis wir in einen natürlichen Tunnel kamen, den wohl die mächtigen Fluten eines längst versickerten Flusses in die grandiosen Felswände gegraben hatten, falls nicht ein Erzittern des Planeten dies dort oben bewirkt hatte, diesen Kanal, der sich höhlenartig durchs Gestein zieht, durch den Granit, in den wir eindrangen. Nach wenigen Tritten schon glitten die Rosse aus, suchten Halt zu gewinnen auf dem unebenen Felsgrund, ihre Beine knickten ein, Funken stoben von den Hufeisen auf; mehr als einmal sah ich mich schon aus dem Sattel geworfen, auf die Steinblöcke geschmettert. Mein Gaul blutete aus den Nüstern und an den Fesseln, aber hartnäckig folgten wir weiter diesem großartigen, glänzenden, schwierigen Weg.
Uns erwartete etwas, inmitten der Waldwildnis. Plötzlich, als wär’s eine Vision, kamen wir auf eine kleine, zauberhafte Wiese, eingekuschelt im Schoß der Berge: klares Wasser, grünes Gras, wild wachsende Blumen, ein Rauschen von rieselndem Wasser und drüber der blaue Himmel, die verschwenderische Fülle ungebrochenen Lichts.
Dort hielten wir inne, wie in einem Bannkreis, wie Besucher eines heiligen Bezirks: und heiliger noch wirkte die Zeremonie, an der ich teilnahm. Die Vaqueros stiegen von ihren Pferden. Mitten in der Lichtung war, wie für einen Ritus, ein Stierschädel aufgestellt. Meine Begleiter näherten sich ihm stumm, einer nach dem anderen, um ein paar Münzen oder etwas Eßbares in die Knochenhöhlungen zu legen. Ich schloß mich ihnen an und brachte wie sie ein Opfer für irgendwelche ungehobelten Nachfahren des Odysseus, für Irrfahrer und Flüchtlinge aller Art, die Nahrung und Hilfe finden würden in den Augenhöhlen des toten Stieres.
Doch die unvergeßliche Zeremonie war damit noch nicht zu Ende. Meine bäurischen Freunde legten ihre Hüte ab und begannen einen seltsamen Tanz, auf einem Bein um den verlassenen Schädel hüpfend, wobei sie genau der Kreisspur folgten, die andere vor uns, ungezählte andere Tänzer hier hinterlassen hatten. Ich begriff damals, ahnungsweise, an der Seite meiner undurchschaubaren Gefährten, daß es eine Verbindung von Unbekannt zu Unbekannt, eine Bitte, eine Forderung, eine Antwort selbst in den fernsten, entlegensten Einöden dieser Erde gibt.
Später, kurz ehe ich die Grenze überschritt und für viele Jahre Abschied nahm von meiner Heimat, kamen wir bei Nacht zu den letzten Schluchten der Berge. Plötzlich sahen wir ein Licht: sicheres Anzeichen für eine menschliche Behausung. Und als wir näherkamen, fanden wir ein paar windschiefe Schuppen, verwahrloste Hütten, die anscheinend leer standen. In eine derselben traten wir ein und sahen im Feuerschein große Baumstämme mitten im Wohnraum liegen. Leiber von Riesenbäumen, die dort Tag und Nacht brannten und Rauch aufsteigen ließen, der durch die Ritzen im Dach ins Freie drang, wo er in der Finsternis wie ein dichter blauer Schleier hin und her wogte. Wir sahen Unmengen von Käselaiben, zu Bergen gehäuft von denen, die hier im Hochland die Milch verarbeiten. Dicht beim Feuer, wie Säcke nebeneinandergepackt, lagen ein paar Männer. In der Stille vernahmen wir die Saiten einer Gitarre und die Worte eines Liedes, das, aufsteigend aus der Glut und der Dunkelheit, uns die erste menschliche Stimme zutrug, der wir unterwegs begegneten. Es war ein Lied von Liebe und Ferne, eine Klage von Liebe und Sehnsucht, an den fernen Frühling gerichtet, an die Städte, aus denen wir kamen, an die endlose Weite des Lebens. Die Leute wußten nicht, wer wir waren, sie hatten nichts von dem Flüchtling gehört, sie kannten weder meine Dichtung noch meinen Namen. Oder doch? Tatsache war, daß wir dort am Feuer sangen und aßen, und später suchten wir im Dunkeln ein paar primitive Kammern auf. Durch sie strömte das Wasser einer heißen Quelle, vulkanisches Wasser, in das wir eintauchten, Hitze, die aus der Kordillere herausgeflossen kam und uns aufnahm in ihrem Schoß.
Voller Lust planschten wir darin, schrubbten uns blank, wuschen die ganze Last des langen Rittes von uns ab. Wir fühlten uns erfrischt, neu geboren, getauft, als wir im Morgengrauen aufbrachen, um die letzten Kilometer dieser Reise zurückzulegen, der Flucht aus meinem verfinsterten Vaterland. Singend zogen wir auf unseren Reittieren davon, durchtränkt von einem frischen Atem, der uns antrieb, hinaus auf den großen Weg der Welt, der mich erwartete. Als wir – das ist mir noch lebhaft gegenwärtig – den Berghirten ein paar Münzen geben wollten, zum Dank für die Lieder, die Speisen, für das heiße Quellwasser, das Obdach und für die Betten, für all den unverhofften Beistand, der uns zuteil geworden war, lehnten sie unser Angebot rundweg ab. Sie hatten uns bewirtet, weiter nichts. Und in diesem „weiter nichts“, in diesem wortlosen „weiter nichts“, schwang vielerlei mit, vielleicht ein Erkennen, etwas wie Anerkennung, vielleicht die gleichen Träume.
Meine Damen und Herren,
ich habe nie aus Büchern irgendein Rezept bezogen, das mich gelehrt hätte, wie man ein Gedicht schreibt; und ich werde meinerseits nicht einmal einen Rat hinterlassen, keinerlei gedruckte Empfehlung einer Tonart, eines Stils, nichts, was die kommenden Dichter als einen Tropfen vermeintlicher Weisheit von mir empfangen könnten. Wenn ich in dieser Rede von zurückliegenden Ereignissen erzählt habe, wenn ich an diesem Ort, bei dieser Gelegenheit – so verschieden von dem, was damals geschah – eine mir unvergeßliche Geschichte habe wiederaufleben lassen, so tat ich dies, weil ich im Lauf meines Lebens immer irgendwo die notwendige Bestärkung erfahren habe, die Formel, die auf mich gewartet hatte, nicht um in meinen Worten zu erstarren, sondern um mich mir selber zu erklären.
Auf jener langen Reise fand ich die Substanzen, die für die Formung des Gedichts erforderlich sind. Dort erhielt ich, was die Erde und die Seele dazu beitragen. Und ich meine, daß die Dichtung ein beiläufiges oder feierliches Tun ist, an dem in gleichem Maße die Einsamkeit und die Gemeinsamkeit beteiligt sind, Individualität und Solidarität, das Gefühl und die Tat, die Innerlichkeit des Einzelnen, die Innerlichkeit des Menschen und die geheime Offenbarung der Natur. Und nicht minder fest bin ich davon überzeugt, daß all das – der Mensch und sein Schatten, der Mensch und sein Handeln, der Mensch und sein Dichten – von einem Gemeinschaftsgeist getragen wird, der sich mehr und mehr ausbreitet, von einer geistigen Übung, welche die Wirklichkeit und die Träume für immer in uns vereinen wird, denn so eint und verschmilzt sie die Poesie. Und ich sage zugleich, daß ich nicht weiß, nach so vielen Jahren, ob das, was ich lernte beim überqueren eines reißenden Flusses, beim Tanz um einen Rinderschädel, beim Baden meiner Haut im reinigenden Wasser aus den Gipfelregionen, ich sage, daß ich nicht weiß, ob das aus mir selber kam, um sich später vielen anderen Wesen mitzuteilen, oder ob es die Botschaft war, welche die anderen Menschen mir schickten als Forderung oder Vorladung, Ich weiß nicht, ob ich das erlebte oder schrieb, ich weiß nicht, ob sie Wahrheit oder Dichtung waren, Übergang oder Ewigkeit, die Verse, die ich damals erfuhr, die Erfahrungen, die ich später sang.
Aus all dem, meine Freunde, ergibt sich eine Lehre, die der Dichter von den anderen Menschen annehmen muß. Es gibt keine unüberwindliche Einsamkeit. Alle Wege führen zum selben Ziel: zur Mitteilung dessen, was wir sind. Und wir müssen die Einsamkeit und die Wildnis, die Isolation und das Schweigen durchqueren, um in den magischen Bezirk zu gelangen, wo wir unbeholfen tanzen können oder singen voller Schwermut: aber in diesem Tanz oder in diesem Lied vollziehen und erfüllen sich die ältesten Riten des Bewußtseins: des Bewußtseins, daß wir Menschen sind und an ein gemeinsames Schicksal glauben.
Es gibt zwar manche, vielleicht sogar viele Leute, die mich für einen Sektierer gehalten haben, für einen, dem es unmöglich ist, Platz zu nehmen am gemeinsamen Tisch der Freundschaft und der Verantwortung; doch will ich mich nicht rechtfertigen, ich glaube nicht, daß Anklagen und Rechtfertigungen zu den Aufgaben des Dichters gehören. Schließlich hat ja noch kein Dichter die Dichtung verwaltet, und wenn irgendeiner seine Zeit damit vertan hat, seinesgleichen anzuklagen, oder wenn ein anderer meinte, sein Leben mit der Verteidigung gegen vernünftige oder aberwitzige Anschuldigungen vergeuden zu dürfen, so bin ich der Überzeugung, daß nur die Eitelkeit uns auf derartige Abwege bringen kann. Ich glaube, daß die Feinde der Dichtung nicht unter denen zu suchen sind, die sich professionell oder als Liebhaber mit ihr beschäftigen, sondern allein im Mangel des Dichters an Übereinstimmung. Darum gibt es für einen Dichter nur einen ernstzunehmenden Feind: seine eigene Unfähigkeit, sich zu verständigen mit den am meisten Mißachteten und Ausgebeuteten unter seinen Zeitgenossen: und das gilt für alle Epochen und für alle Länder.
Der Dichter ist kein „kleiner Gott“. Nein, er ist kein „kleiner Gott“. Er ist kein Auserwählter, den ein rätselvoll-dunkles Geschick erhoben hat über alle, die andere Berufe ausüben, andere Pflichten erfüllen. Oft habe ich es gesagt, daß der beste Dichter der Mann ist, der uns das tägliche Brot reicht: der Bäcker von der Ecke, der sich nicht für einen Gott hält. Er tut seine würdevolle und bescheidene Arbeit, knetet den Teig, schiebt ihn in den Ofen, läßt ihn goldbraun backen in der Hitze und reicht uns das tägliche Brot als einer, der nur seine Pflicht gegenüber der Gemeinschaft tut. Und wenn der Dichter zu einem so schlichten Verständnis seines eigenen Tuns gelangt, wird dieses einfache Selbstbewußtsein auch fähig zur Beteiligung an einem kolossalen Werk der Hände, an einem simplen oder komplizierten Bauwerk, dem Aufbau der Gesellschaft, der Verwandlung der Bedingungen, die den Menschen umgeben; er wird fähig, seine Ware weiterzugeben: Brot, Wahrheit, Wein, Träume. Wenn der Dichter eingreift in diesen immer neuen Kampf, indem er den anderen seinen Anteil zukommen läßt, seine Hingabe, sein Mitgefühl für die gewöhnliche, alltägliche Arbeit aller Menschen, dann wird der Dichter teilhaben, werden wir Dichter teilhaben am Schweiß, am Brot, am Wein, am Traum der ganzen Menschheit. Nur auf diesem unumgänglichen Weg, nur als gemeine, gemeinschaftliche Menschen werden wir der Dichtung den weiten Wirkungsraum zurückgewinnen können, den man ihr in jeder Epoche einengt, den wir selber ihr in jeder Epoche einengen.
Die Irrtümer, die mich zu einer relativen Wahrheit gebracht haben, und die Wahrheiten, die mich immer wieder in den Irrtum zurückführten, haben mir nicht erlaubt – und ich habe auch nie diese Absicht gehabt –, das zu lenken, zu leiten, zu lehren, was man den schöpferischen Vorgang nennt, die ungebahnten Wege der Literatur. Aber eines ist mir klar geworden: daß wir selbst die Gespenster unserer Mythenbildung hervorbringen. Aus dem Mörtel dessen, was wir machen oder machen wollen, werden die Hindernisse für unsere eigene künftige Entwicklung. Wir sehen uns unausweichlich zur Realität und zum Realismus gedrängt, das heißt: zur unmittelbaren Wahrnehmung dessen, was uns umgibt und wie es zu verändern ist, und dann begreifen wir, wenn es schon zu spät scheint, daß wir eine Beschränkung bewirkt haben, die so übertrieben ist, daß wir damit das Lebendige töten, statt das Leben sich entfalten und aufblühen zu lassen. Wir machen uns einen Realismus zur Pflicht, der uns später schwerer und drückender vorkommt als der Backstein, den man zum Bauen benutzt, ohne daß wir damit schon das Gebäude errichtet hätten, das wir als wesentliches Ziel unserer Arbeit vor Augen hatten. Und wenn es uns umgekehrt gelungen ist, den Fetisch des Unverständlichen (oder des nur für einige wenige Verständlichen) zu schaffen, den Fetisch des Erlesenen und Geheimen, wenn wir die Realität und ihren realistischen Abklatsch verdrängt haben, so finden wir uns auf einmal mitten in ungangbarem Gelände, auf einem schwappenden, schwankenden Boden aus Blättern, Schlamm, Gewölk, in dem unsere Füße versinken und wo wir ersticken in niederdrückender Beziehungslosigkeit.
Was uns im besonderen angeht, uns Schriftsteller der amerikanischen Weite: wir hören unablässig den Ruf, jenen Riesenraum mit Wesen von Fleisch und Blut zu bevölkern. Wir erkennen die Pflicht, als Besiedler zu wirken, und während wir uns bemühen, eine kritische Kommunikation zu verwirklichen in einer unbewohnten, aber darum nicht minder von Ungerechtigkeiten, Plagen und Schmerzen erfüllten Welt, fühlen wir zugleich die Verpflichtung, die alten Träume zurückzugewinnen, die in den steinernen Statuen schlummern, in den alten, zerstörten Monumenten, im weiten Schweigen der planetarischen Pampas, der undurchdringlichen Urwälder, der Flüsse, deren Rauschen wie Donner klingt. Randvoll mit Wörtern erfüllen müssen wir einen stummen Kontinent, und uns berauscht die Aufgabe, Fabeln zu erfinden und Namen zu geben. Vielleicht ist das die entscheidende Motivation meines bescheidenen Einzelfalles: und unter diesen Umständen wären meine Ausschweifungen, mein Überfluß oder meine Rhetorik nichts als schlichte Auswirkungen der alltäglichen amerikanischen Notwendigkeit. Jeder einzelne meiner Verse wollte hingestellt sein als handgreiflicher Gegenstand: jedes einzelne meiner Gedichte hatte die Absicht, ein nützliches Werkzeug zu werden: jedes einzelne meiner Lieder war getrieben von dem Verlangen, in der Weite des Raumes als Zeichen der Zusammenkunft zu dienen, wo die Wege sich kreuzten, oder als ein Stück Stein oder Holz, auf dem jemand, irgendwelche anderen, diejenigen, die später kommen, die neuen Zeichen anbringen könnten.
Die Aufgaben des Dichters bis zu ihren letzten Konsequenzen ausdehnend, in der Wahrheit oder im Irrtum, bin ich zu dem Entschluß gekommen, daß meine Tätigkeit innerhalb der Gesellschaft und vor dem Leben auch ein schlicht parteiisches Handeln sein müsse. Ich kam zu diesem Entschluß, ruhmreiche Mißerfolge vor Augen, einsame Siege, blendende Niederlagen. Auf den Schauplatz der Kämpfe Amerikas gestellt, begriff ich, daß es meine menschliche Aufgabe war, mich der breiten Masse des organisierten Volkes anzuschließen, mich ihr anzuschließen mit Leib und Seele, mit Leidenschaft und Hoffnung; denn nur diese gewaltige Sturzflut kann die Wandlungen bewirken, die wir brauchen, wir, die Schriftsteller und die Völker. Und obwohl meine Stellungnahme Einwände hervorgerufen hat und hervorruft, bittere oder freundliche Einwände, erkenne ich keinen anderen Weg für den Schriftsteller unserer großen, grausamen Länder, wenn wir wollen, daß die Dunkelheit aufblüht, wenn wir verlangen, daß die Millionen von Menschen, die es noch nicht gelernt haben, uns zu lesen oder überhaupt zu lesen, die noch nicht schreiben können, uns nicht schreiben können, einen Platz finden im Land der Würde, ohne die es ihnen nicht möglich ist, ganz Mensch zu sein.
Wir haben das elende Leben der Völker geerbt, die eine jahrhundertealte Plage mit sich schleppen, der ursprünglichsten Völker, der lautersten, die aus Steinen und Metallen zauberhafte Türme schufen, Kleinodien von berückendem Glanz: Völker, die jählings zerstört und zum Schweigen gebracht wurden durch die schrecklichen Zeiten des Kolonialismus, den es noch immer gibt.
Unsere Leitsterne sind Kampf und Hoffnung. Doch es gibt keinen einsamen Kampf, keine einsamen Hoffnungen. In jedem Menschen verbinden sich die entlegenen Epochen, die Trägheit, die Irrtümer, die Leidenschaften, die Nöte unserer Zeit, das Tempo der Geschichte. Aber was wäre aus mir geworden, wenn ich irgendwie zur Festigung der feudalistischen Vergangenheit des großen amerikanischen Kontinents beigetragen hätte? Wie könnte ich heute, angesichts der Ehrung, die Schweden mir erweist, die Stirn erheben, wenn ich nicht stolz darauf wäre, daß ich ein wenig an dem Wandel mitgewirkt habe, der sich gegenwärtig in meinem Land vollzieht. Man muß auf die Landkarte von Amerika blicken, sich seine großartige Vielfalt vergegenwärtigen, die kosmische Großzügigkeit des Raumes, der uns umgibt, um zu verstehen, daß viele Schriftsteller nichts mit jener Vergangenheit zu tun haben wollen, mit der Schmach und der Ausplünderung, die finstere Götter über die amerikanischen Völker verhängten. Ich habe den schwierigen Weg einer geteilten Verantwortung gewählt; statt den Lobpreis des Individuums als der strahlenden Mitte unseres Sonnensystems nachzubeten, verschrieb ich mich lieber in Bescheidenheit dem Dienst in einem ansehnlichen Heer, das eine gewisse Strecke weit in die Irre gehen mag, aber rastlos weiterzieht und vorrückt mit jedem Tag, gegen die zeitfremden Starrköpfe ebenso wie gegen die Narren ohne Geduld. Denn ich glaube, daß meine Aufgaben als Dichter mich nicht nur die Bruderschaft mit der Rose und mit der Symmetrie lehrten, mit der überschwenglichen Liebe und der grenzenlosen Sehnsucht, sondern auch Bruderschaft mit den harten menschlichen Mühen, die ich in meine Dichtung aufgenommen habe.
Heute vor genau hundert Jahren schrieb ein armer und glänzender Dichter, der grimmigste aller Verzweifelten, diese Prophezeiung:
A l’aurore, armés d’une ardente patience, nous entrerons aux splendides Villes. – In der Morgenfrühe, gewappnet mit glühender Geduld, werden wir in die strahlenden Städte einziehen.
Ich glaube an diese Verheißung von Rimbaud dem Seher. Ich komme aus einer dunklen Provinz, aus einem Land, das die schroffe Geographie abgeschnitten hat von allen anderen. Ich war der verlassenste aller Dichter, und meine Dichtung war regional, voller Schmerz und voller Regen. Aber ich hatte immer Vertrauen zum Menschen. Nie habe ich die Hoffnung verloren. Deshalb bin ich vielleicht bis hierher gekommen mit meiner Poesie, und auch mit meiner Fahne.
Zum Schluß muß ich den Menschen guten Willens, den Arbeitern, den Dichtern sagen, daß die ganze Zukunft in diesem Satz von Rimbaud ausgedrückt ist: nur mit einer glühenden Geduld werden wir die strahlende Stadt erobern, die allen Menschen Licht, Gerechtigkeit und Würde schenkt.
So wird die Dichtung nicht vergeblich gesungen haben.
Pablo Neruda
hatte Salvador Allende ein großes Fest ausrichten, hatte der Dichter seine Freunde mit der Veröffentlichung von acht neuen Gedichtbänden überraschen wollen. Neruda hat jenes Fest und die Veröffentlichung dieser Gedichte nicht mehr erlebt. Er starb am 23. September 1973, wenige Tage nach der Ermordung Salvador Allendes. Die Soldaten der Junta hatten seine Bücher verbrannt, sein Haus verwüstet. Doch der General Pinochet ordnete eine dreitägige Staatstrauer an. Die Anhänger der Volksfront waren im Stadion von Santiago de Chile zusammengetrieben worden. Doch am Grab des Dichters erklang die Internationale. Und heute, während in Chile weiter gefoltert und gemordet wird, gestattet man Nerudas Witwe, das Haus des Dichters auf Isla Negra in ein Museum umzuwandeln. „Ein toter Dichter ist ein guter Dichter“ – trotzdem darf Pinochet wohl kaum darauf hoffen, Pablo Neruda ins Museum abdrängen zu können. Der Mythos dieses Poeten ist stärker und dauerhafter als die Macht des Militärs. Neruda war ein Dichter, wie sie in Europa nicht mehr vorkommen, einer, „der im Volk schwamm wie der Fisch im Wasser.“ (Wolfgang Werth). Die vorliegende spanisch-deutsche Ausgabe enthält eine von Fritz Vogelsang zusammengestellte und übertragene Auswahl aus den Bänden Die abgeschnittene Rose (hier vollständig wiedergegeben), Garten im Winter, 2000, Das gelbe Herz, Buch der Fragen, Elegie, Das Meer und die Glocken, Ausgewählte Mängel. Anstelle eines Nachworts schließt Nerudas Nobelpreisrede aus dem Jahr 1971 den Band ab.
Luchterhand Verlag, Klappentext, 1975
Die vollkommene Schönheit
In dem Haus in Santiago de Chile, dem Neruda in Anspielung auf Matilde Urrutia den Namen „La Chascona“, Wuschelkopf, gab, wird derzeit eine Pablo-Neruda-Bibliothek eingerichtet. Da kommt mir der Gedanke, daß Nerudas Beziehung zu Büchern nicht nur leidenschaftlich, sondern auch widersprüchlich war. In vielen seiner Vers- und Prosatexte hat das Adjektiv libresk einen ausgesprochen abfälligen Beiklang. In einem berühmten Brief, den er als junger Mann aus einem fernöstlichen Konsulat an seinen argentinischen Freund Héctor Eandi schrieb, erklärte er, daß Jorge Luis Borges ihn nicht interessiere, daß er ihm wie jemand vorkomme, der sich zu sehr mit „Büchern und der Gesellschaft“ befasse, während er selbst ein Mensch sei, dem es um die Natur, um großartige Weine, um die Liebe als Trost „in der unabwendbaren Einsamkeit“ gehe. In einem seiner in Mexiko geschriebenen Gedichte auf die Schlacht von Stalingrad spricht er von dem „frenetischen Büchermenschen“, einer Gestalt, die die Farbe von „Tinte und Tintenfaß“ angenommen habe und angesichts dieses Liebeslieds nur ihr „wohlbekanntes Leid“ aufblättere. Ich habe mich oft gefragt, ob diese von vorgeblicher Intellektualität verdorbene Gestalt nicht Octavio Paz sein könnte, den Neruda 1937 in Paris und Valencia kennengelernt hatte und von dem er sich aus politischen Gründen bald distanzierte. Federico García Lorca hingegen hat er als einen Dichter präsentiert, der „dem Blut näher als der Tinte“ sei, was heißt: dem Leben näher als den Büchern. In den fernen fünfziger Jahren sprach ich einmal mit Neruda über Amado Alonsos große Untersuchung seines Werkes mit dem Untertitel: „Interpretation einer hermetischen Dichtung“. Neruda versicherte mir, er habe sie nicht gelesen und gedächte auch nicht, dies je zu tun. Ich höre noch heute seine Worte, die mich damals erstaunten:
Ich mag keine Bücher über Bücher. Ich mag Bücher, die wie große Beefsteaks sind.
Diesen Ausspruch zitierte ich des öfteren unter herzlichem Gelächter. Doch ich erkannte, daß in der Haltung des Dichters etwas Komplexeres lag, etwas, das ihn tief ergriff. Bücher waren entweder Erweiterungen, Fortsetzungen der Natur, oder sie existierten nicht. Libreske Bücher, Bücher über Bücher, hatten in seiner idealen Bibliothek keinen Platz. Daher die vielen naturwissenschaftlichen Werke in seiner Bibliothek im Hause Los Guindos, die ich Ende 1952 kennenlernte und die er zwei Jahre später der Universidad de Chile schenkte. Die Buffon-Ausgaben, prachtvoll illustriert mit großen Bildtafeln von Pflanzen, Fischen, Vögeln, standen neben Reisebeschreibungen und klassischen maritimen Texten. In der Bibliothek war auch seine außergewöhnliche Sammlung von Muscheln und Meeresschnecken untergebracht, als ob die großen Naturobjekte gleichfalls aufgeschlagene Bücher wären, als ob man die Streifen, Windungen, Elfenbeintöne der Muschelschalen „lesen“ könnte, ein Gedanke der europäischen Romantik, den sich Neruda, der Dichter der Avantgarde und direkte Nachfahr der romantischen Revolution, bewußt zu eigen machte. In diesem mit Hölzern aus den chilenischen Wäldern ausgestatteten Raum, der den dicht bewaldeten, regnerischen Süden des Landes zu beschwören schien, gab es außer Büchern und Schneckenhäusern auch Fotos von Dichtern, und als ich die Bibliothek von Los Guindos das erste Mal betrat, waren die Porträtierten Walt Whitman mit seinem breiten Bauerngesicht, Edgar Allan Poe, der große „maudit“ der Amerikaner, und Charles Baudelaire, der europäische „maudit“, der an den Städten krank Gewordene, der geschrieben hatte: „homme libre, toujours tu chériras la mer“, freier Mensch, immer wirst du das Meer lieben… Kurzum, Neruda verachtete alles Libreske und war dennoch in paradoxer Leidenschaft stets auf der Jagd nach Büchern, den großen Büchern dieser Welt. Denn er liebte die Typographie, erstklassiges Papier, die Kunst des Buchdrucks, prachtvolle Einbände. Er war ein bibliophiler Dichter, ein Büchersammler, ja mitunter sogar ein „imprentero“, ein Liebhaber der Druckkunst, wie er einen seiner besten Freunde, den spanischen Dichter Manuel Altolaguirre, bezeichnete. Ich hatte Gelegenheit, ihm zuzuschauen, wie er in Isla Negra mit unerschöpflicher Geduld aus alten Jules-Verne-Ausgaben oder aus Victor Hugos Roman Die Arbeiter des Meeres Illustrationen für die Gestaltung des „Estravagario“ zusammenstellte. Dieses „Extravaganzenbrevier“ war ein Buch des ästhetischen Wandels, ein deutlicher Bruch in seinem Schreiben, eine Rückwendung zu Elementen seiner Jugendverse – Gedichte über das Meer, über die Kaimauern von Puerto Saavedra, über das „Gespenst des Frachtschiffs“. An dieser Edition arbeitete der Dichter und vergaß kein Detail. Danach war er enttäuscht von den ersten Reaktionen der Leser, vor allem seiner Leser, doch das ist eine andere Geschichte, die uns vom Thema wegführen würde.
„Die Leute glauben, daß ich Bücher kaufe, weil ich Geld habe“, sagte Neruda mir einmal. „Aber ich war schon mit neunzehn ein Bibliophiler und Büchersammler, als mein Vater Bahnarbeiter war und niemand von uns einen Centavo besaß.“ Die Menschen denken natürlich praktisch und in Gemeinplätzen, aber der geistige Mechanismus wahrhafter Dichter ist von anderer Art. Wenn Neruda auf eine bibliophile Kostbarkeit stieß, kam er alsbald zu dem Schluß, daß er ohne sie nicht leben könne. Es war jedesmal Liebe auf den ersten Blick. Und von da an ruhte er nicht, bis er im Besitz des begehrten Objekts war, das heißt, bis er es in seiner Bibliothek stehen hatte, greifbar zum Lesen und zum Anschauen. Oft leistete er bei seinen Beutezügen eine kleine Anzahlung, um sich das Stück zu sichern. Und wenn er einen Literaturpreis bekam oder Tantiemen eingingen, irgendwelches Geld, lief er los, um die reservierten Bücher oder Dinge einzulösen.
In Paris habe ich ihn des öfteren auf seinen Streifzügen begleitet. Häufig besuchten wir einen schmalen, langgestreckten dunklen Laden in der Rue des Saints-Pères, der Monsieur Lohlé gehörte. Eines Tages war ich so naiv, diesen nach „Lokis“ zu fragen, einer in Nordosteuropa spielenden Erzählung Prosper Mérimées, die an die volkstümlichen Überlieferungen vom Wolfsmenschen anknüpft. Er antwortete, er habe sie bis vor kurzem besessen, aber nun verkauft. Ich bat ihn, mich zu benachrichtigen, wenn wieder ein Exemplar einträfe. „Ach so!“ rief Monsieur Lohlé. „Ich meinte das Manuskript!“
Bei diesen Expeditionen fand der Dichter mancherlei Dinge, von denen viele später, bei der Rückführung seiner Habe nach Chile und während des Putsches, verlorengingen. Ich erinnere mich an die Originalausgabe der „Éducation sentimentale“ mit eigenhändiger Widmung Flauberts für seine Berufskollegin und Freundin George Sand, ein anrührendes, einzigartiges Exemplar mit historischer Aura, das ich nie wieder zu Gesicht bekam. Im Unterschied zu Neruda bin ich kein Sammler, so daß mich jemand, der meine Wohnung in Santiago besuchte, sogar einmal gefragt hat, ob ich mich als Anhänger der Minimal Art verstünde. Bei jenen Streifzügen kaufte ich aber doch hin und wieder ein seltenes Buch, zumeist dann, wenn der Dichter seine Augen woanders hatte. Lag doch eines Sonntagvormittags auf einem Verkaufstisch des Marché aux Puces direkt vor meiner Nase die zweibändige Originalausgabe der Promenades dans Rome von Stendhal, der auf dem Umschlag als „Monsieur de Stendhal“ firmierte. Sie sollte 500 Franc kosten, damals etwa 150 Dollar, und den Luxus gönnte ich mir, was Neruda begeistert begrüßte, als ob er ahnte, daß ich damit seiner Zunft beitrat. Nun schlage ich den ersten Band auf und sehe, daß er 1829 in Paris gedruckt wurde, von einem gewissen Delaunay, „Buchhändler Ihrer Königlichen Hoheit, der Frau Herzogin von Orléans“. Ich weiß nicht, in welcher verwandtschaftlichen Beziehung diese Herzogin – vermutlich – zu Philippe Égalité und König Louis-Philippe, ebenfalls aus dem Hause Orléans, steht, und kann es jetzt auch nicht nachprüfen. Außerdem hatte ich das Motto vergessen: ESCALUS. – Mon ami, vous m’avez l’air d’être un peu misanthrope et envieux? – MERCUTIO. – J’ai vu de trop bonne heure la beauté parfaite. SHAKSPEARE (sic!).
Ich frage mich, ob der Dichter wohl die vollkommene Schönheit in den Wäldern und Meeren seiner Kindheit erblickt hat und davon für immer gezeichnet war. Einige Passagen des Memorials von Isla Negra, zumal jene über das „verlorene Kind“, scheinen darauf hinzudeuten. Die Bücher waren in jenem Fall Fortsatz und in gewissem Sinne Ersatz der Natur, Formen eines Trostes, der zwangsläufig beschränkt blieb. Neruda sagte mir einmal, eines seiner höchsten, unvergleichlichen Vergnügen sei es, die großen Werke der Literatur in der Originalausgabe zu lesen. Deshalb kaufte er sich nach seinem Nobelpreis eine Shakespeare-Folioausgabe, die ihm ein Buchhändler in Kalifornien brieflich angeboten hatte. Das war es, was der vollkommenen Schönheit in Buchform am nächsten kam! Gern las er laut spanische, englische oder französische Lyrik, und er vermochte relativ unbekannte Gedichte auswendig vorzutragen: so die wundervollen Liebessonette von Juan de Tarsis y Peralta, Conde de Villemediana. Zudem hatte er ein reiches Repertoire an komischen und Gelegenheitsgedichten wie etwa Osnoflas Reime mit Betonung auf der drittletzten Silbe („La creía pura y cándida / y ha resultado una bándida“) oder „El Cagatorio“ (Das Scheißhaus), das von Dantes „Purgatorio“ inspirierte Pamphlet eines Dichters namens Tupper gegen Alessandri.
Neben Lyrik las Neruda Kriminalromane, Memoiren, Biographien, Briefwechsel. Er schwärmte für Raymond Chandler, Chester Himes, Georges Simenon und andere Meister des Genres. Andere Romane las er so gut wie nie, und dabei fand er sich fast ständig von lobhungrigen Romanciers umlagert. Als er Ende 1972 krank nach Chile heimkehrte, stellte ich fest, daß seine letzte Pariser Lektüre „Son of Oscar Wilde“ gewesen war, in dem Wildes Sohn die Tragödie der Familie schildert, nachdem sein Vater im viktorianischen England wegen Homosexualität verurteilt worden war und ins Zuchthaus Reading mußte. Dieses Buch über einen Schriftsteller, der so ganz anders als er selbst war, hat Neruda tief erschüttert. Für mich war das eine interessante, späte, gleichsam postume Lektion: eine große Geste von wiedererlangter Freiheit.
August 2002
Rückkehr nach Isla Negra
Als ich nach vielen Jahren und vielen Ereignissen heimkehrte in mein Land, sprang mir – da ich die Läden weiterhin nach alten und neuen Büchern durchstöberte – sogleich das Phänomen ins Auge, das man hier „Kultur-Stromsperre“ nennt. Der Verkaufsraum für Bücher ist von Schreibwaren besetzt und der für Literatur von angelsächsischen Unterhaltungsromanen, die nach bekannten Formeln in Serie fabriziert werden; die europäischen Verleger bezeichnen sie als „Produkte“. Ich weiß durchaus, daß zuvor revolutionäre Propagandaschriften die Literatur verdrängt hatten, aber dieses historische Faktum ist kein Trost für jemanden, der gewohnheitsmäßig nach wirklichen Büchern sucht.
Doch habe ich, und in gewissem Sinne ebenfalls durch bloßes Hinschauen, auch herausgefunden, daß Chiles poetische Tradition trotz allem weiterlebt. Unter der Schicht von Bestsellern und importierten Erzeugnissen begegnet man plötzlich dem spöttischen, wehmütigen, kritischen Dichterblick. Seit Don Alonso de Ercillas Zeiten war Chile immer ein merkwürdiges, reiches Anhängsel der abendländischen Dichtung, obwohl uns die Historiographen des 19. Jahrhunderts das Etikett eines Landes von Geschichtsschreibern anzuheften versuchten, als ob Geschichte und Imagination stets in erbittertem Streit miteinander lägen. In den ersten Tagen nach meiner Rückkehr sah ich im Haus von Vicente Huidobros Sohn die Originalporträts des Dichters von der Hand Picassos und Juan Gris’. Der Huidobro-Spezialist René de Costa, Professor an der Universität Chicago, war entzückt über die in Familienarchiven entdeckten Briefe von Hans Arp, Max Jacob, Jean Cocteau. Hier war die Poesie des Montparnasse, des Pariser Maler- und Dichterviertels in der Epoche von Huidobro, versteckt im Santiaguiner Stadtteil San Francisco de las Condes.
Dann besuchte ich nach acht Jahren erstmals wieder das Haus in Isla Negra. und stellte fest, daß Nerudas Verschwinden fast nicht glaubhaft ist. In den alten Zeiten pflegte ich sonntagabends, wenn die Wochenendgäste fort waren, mit dem Dichter am Kamin zu plaudern. Ich schaute von den Felsen aufs Haus und dachte, da drinnen, inmitten der Stille, die sich über Isla Negra gesenkt hat, steckt literarischer Sprengstoff: die Briefe, in denen Isabelle Rimbaud den Tod ihres Bruders Arthur schildert, die Originalausgaben von Baudelaire, Poe, Whitman… Ein Stück weiter oben in den Bergen, in seinem zwischen Pinien- und Eukalyptuswäldern verborgenen Exilort, studierte Nicanor Parra die von dem utopischen Sozialisten Fourier erstellte Hahnrei-Klassifizierung und las abwechselnd die gelehrten, unflätigen Dialoge von Rabelais und Benedicto Chuaquis Erinnerungen an seine Emigration. Die herrlichen Blumen des Monats August fingen an zu sprießen, und die Seeigel in dem von Señora Elena geführten Gästehaus schmeckten köstlich. Mit einem Wort, man mußte nicht alle Hoffnungen in bezug auf Isla Negra fahrenlassen.
Ein Buch, das mir in diesen Tagen in die Hände fiel, war der letzte Gedichtband von Jorge Teillier, Para un pueblo fantasma. Die Zurückhaltung oder fast einhellige Gleichgültigkeit der Kritiker gegen dieses Buch erstaunte mich. Man könnte meinen, daß die Kultur-Stromsperre viel mit der Trägheit oder den außerliterarischen Intentionen der Kritik zu tun hat. Jorge Teillier ist der Fortsetzer par excellence der poetischen Tradition Chiles. Nach Jahrzehnten formalen Experimentierens gelingt ihm die optimale Synthese von literarischer Ordnung und Abenteuer. In seiner Dichtung existiert ein mythischer chilenischer Süden, dieselbe regnerische, waldreiche Grenzregion wie bei Neruda, doch entwirklicht, lediglich Anlaß für eine Sprachschöpfung, die in den Bäumen, Bergen, Plätzen der Provinz zahllose Bezüge zur modernen Literatur mitschwingen läßt, als würden der Literatur- und der Naturraum einander überschneiden. Das gespenstische, Haus Usher, das in Poes Erzählung über dem Hausherrn zusammenstürzt, schwimmt in Teilliers Versen auf einem sumpfigen Süden, und der Dichter William Gray kuriert sein Delirium tremens in einer Klinik bei Santiago.
Teillier, hat jemand mir gesagt, sei ein Dichter, der sich oft wiederholt – als ob dies eine Kritik wäre –, andere nannten ihn einen pessimistischen Dichter, nicht aus dem Geschlecht derer, die das Vaterland aufbauen. Tatsächlich waren optimistische Dichter immer selten, die gelben Zellen der Melancholie hingegen fanden sich reichlich im Blut von Coleridge, Shakespeare, Baudelaire und auch Laforgue, der siebenundzwanzigjährig an Schwermut und Langeweile starb. Doch aus der kreativen Melancholie der Dichter erwächst, paradoxerweise, der Faden einer Nationalkultur. Die Wahrheit der Dichter ist nicht die Wahrheit der Geographen oder Ökonomen. In einem Gedicht Teilliers, einer Hommage an seine Vorgänger, „träumt Pablo Neruda, daß er Neftalí Reyes sei“. Der Neftalí Ricardo Reyes aus dem Standesamtregister, der Eisenbahnersohn aus Parral, ist eine Erfindung des Dichters Neruda. Wie auch die Plaza und die Bars des Städtchens Lautaro – die Lautarinos mögen es mir verzeihen – eine Erfindung von Jorge Teillier sind. So verfährt die Poesie. Und es ist der Beweis, daß die poetische Tradition des Landes weiterlebt. Trotz allem.
1994
Aus dem Spanischen von Joachim Meinert
Jorge Edwards, August 2002, Sinn und Form, Heft 5, September/Oktober 2004
– Gespräch mit Volodia Teitelboim über Pablo Neruda. –
Als ich Nerudas Stimme vernahm, klangen tieftönend und rhythmisch seine Verse von Wurzeln und Vögeln an mein Ohr – aufgezeichnet auf ein Tonband, das ich erst ein Jahr nach dem Tode des Dichters erhielt. La Chascona, sein baumumstandenes Haus auf den Hängen über Santiago, wo er aufgebahrt war, wurde von den Faschisten verwüstet. Zehn Jahre sind seit jenem blutigen September in Chile vergangen. Volodia Teitelboim, Pablo Nerudas langjähriger Freund, sitzt mir in einem kleinen Berliner Hotelzimmer gegenüber. Seine ruhige, besonnene Rede, gleichsam fortfließend ohne Punkt und Komma, wird nur von Denkpausen gegliedert. In das kurze Schweigen hinein fallen Bilder der Erinnerung in den Farben Chiles und Nerudas: regenschwerer Wälder des Südens, orangeleuchtender Wüsten des Nordens, grauhastiger Städte, mit Ovationen und Fahnen gefüllter Stadien, in denen die Stimme des Dichters aufstieg, muschelrauschender Häuser, die Don Pablo bewohnte.
Hildegund Ruge: Welcherart waren Ihre ersten Begegnungen mit Pablo Neruda und seinem Werk?
Volodia Teitelboim: Ich ging noch zur Schule, war gerade zehn Jahre alt, als ich von ihm hörte. Damals, im Gymnasium von Curicó, hatte ich einen Zeichenlehrer, Barack Canut de Bon, der zusammen mit Neruda am Pädagogischen Institut von Santiago studiert hatte. Er schrieb gleichfalls Poesie, lief, wie derzeit unter den jungen Poeten üblich, mit schwarzem Cape und breitem Hut umher. Er hatte an den Recitals teilgenommen, zu denen Pablo Neruda, Romeo Murga, der Französischlehrer Victor Barberis und er selbst erste eigene Verse vortrugen. Sie gehörten alle der gleichen Generation an und waren Freunde. Barack Canut de Bon war es, der mir von den Werken Leo Tolstois erzählte, welche damals großen Einfluß in Chile besaßen. Und er zeigte mir als erster einige Gedichte von Neruda. Zu der Zeit war bereits der Gedichtband erschienen, der sowohl in Chile als auch im gesamten spanischen Sprachraum sehr populär wurde: Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung. Irgend jemand hat diesen Zyklus einmal als das Lied der Lieder in der spanisch verfaßten Liebeslyrik bezeichnet. Neruda publizierte es mit 20 Jahren. Dieses erste Buch, welches ich von ihm las, erfüllte mich mit solch einer Bewunderung, wie ich sie bis dahin nur für die Dichtung Gabriela Mistrals aufbrachte. Sie war die bedeutendste Dichterin Chiles und später unsere erste Nobelpreisträgerin. Ihr Sammelband Trostlosigkeit hatte uns tief beeindruckt. Ich kannte viele Gedichte auswendig, so Nerudas sämtliche Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung – ein Beweis dafür, welch enorme Wirkung diese Poesie auf mich, ebenso wie auch meine Altersgenossen, machte. Später, als ich 16, 17 war, kam es jedoch zu einem Bruch mit dieser konventionellen Dichtung. Er ging mit der Hinwendung der jungen Generation zur surrealistischen Poesie einher, einer Poesie, die sich überkommener Strukturen und Inhalte entledigte. 1935, als ich schon die Universität zu Santiago besuchte, gab ich mit Eduardo Anguita Die Anthologie der Neuen Chilenischen Dichtung heraus, die natürlich die großen Namen unserer Poesie wie Gabriela Mistral und Pablo Neruda einschloß. Dennoch galt unsere unmittelbare Zuneigung Vicente Huidobro, der gerade aus Frankreich zurückgekehrt war und für uns die Inkarnation einer ästhetischen Revolution in der Poesie symbolisierte. Neruda faßte das als Aggressionsakt gegen sich auf, so daß man sagen kann, unsere erste Beziehung war mehr die der Opposition und Kontradiktion denn die des Verständnisses, obgleich Neruda für mich der größte chilenische Dichter blieb. Meine Haltung zu ihm wurde besonders durch seine entschiedene antifaschistische Parteinahme im Spanienkrieg korrigiert. Damals – ich war schon ein Studentenführer und kommunistischer Intellektueller – nahm ich direkten Kontakt zu Neruda auf, denn er hatte nach seiner Rückkehr aus Spanien 1936 den Bund der antifaschistischen Intellektuellen zur Verteidigung der Kultur gegründet, dessen Mitarbeiter ich wurde. Und seither – bis zu seinem Tode – dauerte unsere Freundschaft an. Neruda war, als wir uns persönlich kennenlernten, 32 Jahre alt, ich 20, und als er starb, war er 69. Eine solche langjährige Freundschaft bringt viel Vertrautheit mit sich. Sie erstreckte sich von der Arbeit bis hin zu den intimsten Belangen des Lebens. Ich verfolgte das Entstehen seiner Bücher mit, pflegte sie auch vor dem Erscheinen zu lesen. Manchmal beriet er sich mit mir über einen passenden Titel, wenn er sich zwischen dem einen oder anderen nicht entscheiden konnte. Wir führten lange, angeregte Unterhaltungen über alle Aspekte des Lebens, nicht nur über Literatur und Politik. Ich war vertraut mit seinen Erfolgen und Niederlagen, mit Ehezerwürfnissen und neuen Eheschließungen, mit Glück und Krankheit, Freundschaften und Feindschaften, mit Attacken, die ihn verletzten, und Antworten, die er darauf geben wollte. Ich sah ihn als Revolutionär, als eine Art literarischer Guerillero, der stets scharfer literarischer Polemik ausgesetzt war, als einen politisch reflexiven Menschen, der die Volksbewegung, die Partei, die Revolution über seine persönlichen Interessen zu stellen vermochte.
Viele politische Ereignisse haben uns geprägt und uns zu einer solchen konsequenten Haltung gebracht: der Spanienkrieg, der Sieg der Volksfrontregierung in Chile 1938, die Rettung der 2.000 spanischen republikanischen Flüchtlinge, deren Überfahrt mit der „Winnipeg“ nach Chile Neruda 1939 von Paris aus organisierte, die Arbeit im Bund der Intellektuellen Chiles. Dann kam der zweite Weltkrieg mit seinen Auswirkungen auf unser Land. Zu dieser Zeit war Neruda Diplomat. Als erster begrüßte er den Sieg von Stalingrad in drei Gesängen, die so populär wurden, daß man sie an den Mauern der großen Städte lesen konnte – so in Santiago und Mexiko, wo er Konsul war. Als Neruda seinen Posten in Mexiko niederlegte, schloß er sich stärker der unmittelbaren politischen Arbeit in Chile an. Unsere Beziehungen hatten sich auf besondere Weise entwickelt, denn ich war seit meinem 16. Lebensjahr aktiver Kommunist. 1932 trat ich der kommunistischen Jugendbewegung bei, war Mitglied des Zentralkomitees und arbeitete später in Parteifunktionen. Daraus ergab sich, daß ich sein Kamerad auch in Fragen der politischen Auseinandersetzung wurde und daß ich es war, der für ihn die Verbindung zur Partei darstellte, solange er noch nicht Mitglied war, aber doch schon ein entschlossener Genosse, ein Kommunist ohne Parteibuch. An der Seite hervorragender Intellektueller und Künstler trat er im Juli 1945 in einem denkwürdigen Akt im Theater Caupolicán in Santiago der Kommunistischen, Partei Chiles bei. Es war hauptsächlich die Mitgliedschaft Pablo Nerudas, die dazu beitrug, den Kampf der Arbeiter mit dem der Intellektuellen zu vereinen, dem Marxismus die ihm zukommende kulturelle Dimension zu verleihen. Sein Ansehen als Dichter und international geschätzte Persönlichkeit half der Partei, Kunst, Literatur, die Kultur allgemein nicht als intellektuelle Anmaßung oder elegante, aber entbehrliche Blume im Knopfloch zu betrachten, sondern als anspruchsvolle Notwendigkeit – ebenso wie die Arbeit mit den Gewerkschaften oder der Jugend. Neruda verlieh der Partei Würde und entwickelte sich zu einer nationalen Figur. Im selben Jahr wurde er zum Senator für Nordchile gewählt. Ich begleitete ihn auf seinen Wahlkampagnen durch das Land wie später auch Allende – und wie er mich, als ich für Valparaiso und Santiago zur Kandidatur stand. 1965 zum Beispiel war ich Senator von Santiago. Aus dieser Zeit sind noch Dokumente erhalten, die Neruda damals veröffentlichte, unter anderem offene Briefe an die Presse, in denen er die Leser zur Stimmabgabe für mich aufforderte. Ich möchte damit ausdrücken, daß wir seit seinem Parteibeitritt noch enger miteinander verbunden waren und uns die alltägliche politische Arbeit neben den gemeinsamen persönlichen Interessen und unserer Liebe zur Literatur ständig zusammenführte.
Ruge: Der Dichter Neruda, der seiner Partei zu höherem Ansehen verhalf und der umgekehrt durch die Parteizugehörigkeit seiner Dichtung stärkere Impulse verlieh, hielt mit seiner Erfahrung nicht hinter dem Berge. Als er 1971 endlich den Nobelpreis für Literatur in Empfang nehmen konnte, bekannte er vor aller Welt:
Ich habe den schwierigen Weg der mit den anderen gemeinsam getragenen Verantwortung gewählt, und anstatt die Anbetung des Individuums als Sonne und Mittelpunkt des Systems zu erneuern, habe ich es vorgezogen, mich in aller Bescheidenheit in den Dienst eines beachtlichen Heeres zu stellen, das sich streckenweise irren kann, das jedoch unermüdlich geht und jeden Tag vorrückt und den anachronistischen Starrköpfen ebenso die Stirn bietet wie den überheblichen Ungeduldigen.
Es war wohl auch Nerudas politische Konsequenz, die seine Anwartschaft auf den Nobelpreis über fast zehn Jahre hinzögerte, ehe man sich zu einem positiven Entschluß durchrang.
Teitelboim: Ich erinnere mich daran, daß Neruda lange Zeit auf den Kandidatenlisten für diesen hohen Literaturpreis stand und von Jahr zu Jahr aufs neue den Aufregungen ausgesetzt war, die daraus resultierten: Die Presse stellte Vermutungen an, forderte Interviews, das Fernsehen engagierte sich, im Radio sprach man davon. Das alles ermüdete den Dichter in einem Maße, daß er sich schließlich in seinem Haus in Isla Negra regelrecht verschanzte und jede Auskunft verweigerte. 1971/72 wirkte Neruda als Botschafter der Allende-Regierung in Frankreich. Als wir hörten, daß er ernsthaft krank war, fuhr ich im Februar 1972 nach Paris, um ihn aufzusuchen. Er wußte nicht, daß er Krebs hatte, oder er wollte es mir nicht gestehen. Jedenfalls erfuhr ich alles von seiner Frau Matilde. Er hatte einige Monate zuvor den Nobelpreis entgegengenommen und erzählte mir, daß seine Kandidatur bis zum letzten Augenblick sehr umstritten war. Artur Lundkvist, ein großer Bewunderer seiner Poesie und sein Übersetzer, hatte ihn immer von neuem vorgeschlagen. Kurz vor der Preisverleihung besuchte er Neruda in der Pariser Botschaft und berichtete ihm von den Diskussionen in der schwedischen Akademie. Jedenfalls kommentierte Neruda mir gegenüber den Erhalt des Nobelpreises so:
Es ist das erste Mal in der Geschichte, daß sie den Nobelpreis einem Mitglied des Zentralkomitees einer kommunistischen Partei verleihen, und möglicherweise das einzige Mal.
Das war eine klare politische Reflexion. Er sah in dem Nobelpreis nicht nur eine Ehrung seiner eigenen Person und seines Werkes, sondern vor allem einen Sprung über die Barriere der politischen Diskriminierung der Kommunisten.
Die Kontroversen gingen natürlich weiter, die Reaktion provozierte mit neuen Lügenmärchen. Es hieß, Neruda habe sich für die mit dem Preis verbundene Geldsumme in Frankreich ein Schloß gekauft. In Wirklichkeit hatte er einen Teil des Geldes der Partei zur Verfügung gestellt, für den anderen kaufte er sich ein Haus in der Normandie. Er nannte es – einer Gewohnheit folgend, all seine Wohnstätten zu benennen – La Manquel oder seine normannische Mühle. Als ich ihn besuchte, sagte er mir in etwa:
Ich kenne dieses Schloß, das man mir andichtet, nicht, aber es liegt in der Nähe meines Hauses. Laß uns hinfahren, um es kennenzulernen.
Es war an einem nebligen, taubenetzten Morgen. Im Dunst erblickten wir ein Schloß, umgeben von Gerüsten. Es strahlte eine mysteriöse, poetische Atmosphäre aus. Doch was Neruda gekauft hatte, war nicht dieses Schloß des Herzogs von Rouen, das eine nordamerikanische Millionärin erworben hatte, sondern eine Art großer Schuppen, in dem im Mittelalter Dachziegel hergestellt wurden. Daraus bildete Neruda sein Haus, denn immer faszinierten ihn kuriose Konstruktionen. All seine Häuser waren, architektonisch gesehen, seltsame Gebilde, die seinen individuellen Stempel trugen. Neben dem Gebäude führte der ruhige, schöne Fluß Iton entlang, in dem die Frauen wie vor fünfhundert Jahren Wäsche wuschen. In diese etwas entlegene, freundlich anmutende Umgebung trug Neruda die Hoffnung, seine Gesundheit wiederherzustellen.
Ich besinne mich noch darauf, wie Julio Cortázar, der unermüdliche Freund Nerudas und Chiles, in einem kleinen Automobil angefahren kam und traurig dreinblickte, als er Neruda, der sonst so voller Lebensfreude war, melancholisch vorfand. Er trug bereits den Tod in sich.
Als Pablo Neruda 1972 nach Chile zurückkehrte, zog er sich sofort nach Isla Negra zurück. Ich besuchte ihn jede Woche. Es war erstaunlich: Dieser Mensch mit seiner Intelligenz und seinem Scharfsinn wußte, daß er dem Tode entgegenging, und er verteidigte sich mit Arbeit. Im zweiten Stock des Hauses hatte er ein riesiges Fenster zum Meer hin, davor stand sein Bett – sein letzter Arbeitsplatz. Hier beendete er noch sechs, sieben Bücher, eingeschlossen die Memoiren, auf deren letzten Seiten er den Putsch verurteilt, Pinochet anklagt und Allende huldigt. Unter anderem entstanden „La rosa separada“ (Die geteilte Rose), „Defectos escogidos“ (Ausgewählte Mängel), „2000“. Weder sein Intellekt noch seine poetische Quelle waren erschöpft. Das beweisen seine letzten Bücher, die von wahrer geistiger Tiefe zeugen.
Schließlich mußte ich nach Europa abreisen. Ich machte ihm meinen Abschiedsbesuch. Es war der 31. Juli 1973. Wir unterhielten uns lange, und dann sagte er zu mir:
Komm bald zurück! Ich habe dir noch ein paar Sachen zu sagen.
Im Grunde klang es wie: Halt dich nicht lange auf, sonst sehen wir uns nicht wieder. – Ich ahnte voraus, was kam.
Er war mein bester Freund. Ja, ich war zweitrangig, die große Persönlichkeit war er. Aber ich bewahre diese Freundschaft als etwas Schönes, sehr Tiefes. Und viele Geheimnisse seines Lebens, die er mir anvertraute, hüte ich…
Ruge: Diese Freundschaft, die Sie, Volodia Teitelboim, Neruda bewahren, lebt weiter in Ihrem Wirken, gestern wie heute und in Zukunft. Wie realisiert sie sich im konkreten?
Teitelboim: Ich nenne nur einige Beispiele. Im vorigen Jahr fand in Siena in Italien ein Seminar über die Poesie Nerudas statt, an dem viele Nerudaforscher verschiedener Länder teilnahmen. Ich hielt den Eröffnungsvortrag. Ein anderer sprach über Neruda und seine Masken. Er entwarf ein literarisch-biographisches Bild des Dichters, das einen falschen Eindruck hervorrief und Diskussionen provozierte. Ausführlich ließ er sich darüber aus, daß Neruda sein wahres Gesicht sein Leben lang hinter Masken versteckte. Ich intervenierte, um die Sache richtigzustellen. Ich entsann mich meiner ersten Begegnung mit Neruda. 1933, nach seiner diplomatischen Mission wieder in Santiago eingetroffen, las er im Theater Miraflores aus seiner Dichtung Erster Aufenthalt auf Erden. Neruda sprach mit seiner schleppenden düsteren Stimme hinter einigen Masken, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte. Es waren herrliche orientalische, chinesische, indische Masken. Aber all das hatte nicht zu bedeuten, daß er sich scheute, sein wahres Gesicht zu zeigen. Er zeigte es immer.
Eine weitere internationale Würdigung fand im Mai 1983 unter dem Patronat der UNESCO in Paris statt. Dort hatten sich um Matilde Urrutia de Neruda Freunde des Dichters aus Frankreich, Spanien, Chile und anderen Ländern zusammengefunden, um seiner im Jahr des zehnten Todestages zu gedenken. Nach Julio Cortázar hielt ich eine Ansprache.
Im Juni dieses Jahres führte die KP Chiles in Berlin ein Kulturtreffen mit Vertretern des chilenischen Exils aus ganz Europa durch. Zum Auftakt sahen wir im Studiotheater bat die Premiere des Stückes Brennende Geduld von Antonio Skármeta in der Regie von Alejandro Quintana. Dieses Stück stellt gewissermaßen eine Neruda-Ehrung dar, in der der Autor nach eigenen Worten bemüht ist, „die Dreieinigkeit von Volk, Lyrik und Liebe auszudrücken, die sein Werk und Leben speiste“. Nicht zuletzt ging ich in meinem Referat auf Nerudas Vermächtnis ein, dem wir als Kommunisten und Kulturschaffende gleichermaßen verpflichtet sind.
Für die Zukunft habe ich vor, ein Buch über Pablo Neruda zu schreiben, in das ich einen Teil unserer Korrespondenz einbeziehen möchte, aber auch persönliche Erinnerungen, Erlebnisse, Meinungen, die unsere innige Freundschaft reflektieren.
neue deutsche literatur, Heft 10, Oktober 1983
Nerudas langes, schmales Land kämpft, immer wieder von Erdbeben geschüttelt, zwischen der Unermesslichkeit der Anden und des Meeres ums Überleben. Nicht selten wird die ausgeprägte Reiselust der Chilenen auf das Gefühl des Eingesperrtseins zwischen diesen beiden Titanen geschoben. In seiner Dankesrede nach der Überreichung des Nobelpreises in Schweden wies Pablo Neruda selbst auf diese Lebensverhältnisse ausdrücklich hin:
Ich komme aus einem fernen Land, abgeschnitten von allen anderen durch die schroffe Geografie.
Andererseits hat diese Inselhaftigkeit aber auch die Fantasie beflügelt, sodass der schmale Streifen Erde bahnbrechende Lyriker wie Pablo Neruda, Gabriela Mistral, Vicente Huidobro und Nicanor Parra hervorgebracht hat. Seit Bestehen des Landes sind seine rastlosen Bewohner Emigranten oder Nomaden von Beruf. Im Volksmund heißt es über diese Begabung mit treffendem Witz, wir hätten „Hundeläufe“. Wir Chilenen, die wir, geografisch gesprochen, die allerletzte Nachhut der Erde bilden, sind schon seit Jahrhunderten wahre Künstler im Davonlaufen. Kein Wunder, schließlich ist jeder Einzelne unserer Landsleute, wo immer er sich aufhält, den Unbilden des Meeres ausgesetzt. Dieser Ozean ist es, der den Helden von Nerudas einzigem Theaterstück (Glanz und Tod von Joaquín Murieta) verschlingt, als sich dieser, vom Goldfieber gepackt, in Valparaiso einschifft, um Kurs auf Kalifornien zu nehmen. In einem der Verse fasst Nerudas Protagonist die Verwegenheit derer, die sich ins Ungewisse stürzen, in die Worte:
Finde ich den Tod, bin ich Chilene.
Neruda besang das Schauspiel der Natur in seiner Gesamtheit, doch das Meer war seine Windrose, seine Achse. Ich möchte behaupten, im Werk unseres Nobelpreisträgers war das Meer stets ein treues Abbild seiner Seele, nahm in seiner Poesie immer wieder andere Dimensionen und Rollen ein und begleitete den Menschen Neruda von Kindheit an bis zur Hinfälligkeit und Krankheit im Alter.
Sein Leben beginnt im Landesinneren, im regnerischen Mutterleib des südlichen Chile, im erbarmungslosen Schlamm, im Reich der Pflanzen, beherrscht von Wald und Holz. Doch eines Tages geschieht das Wunder, das er so anrührend in Memorial von Isla Negra erzählt, und ein kleines Boot treibt mit ihm den Fluss Cautin hinab und an der Küste von Carahue unversehens aufs Meer hinaus.
Über diese Bootsfahrt, auf der der hilflose kleine Junge, der noch nicht über Vernunft, Gesang und Freude verfügt, das Meer wie einen angeschlagenen Turm einbrechen und sich gleich darauf wieder wütend aufbäumen sieht, bekennt Pablo:
Ich löste mich aus den Wurzeln, mein Land weitete sich, die geschlossene Einheit des Holzes barst. Im Kerker des Waldes öffnete sich eine grüne Tür, durch die mit Getöse eine Woge hereinschlug, und mein Leben dehnte sich mit einem Wellenschlag bis ins All.
In seiner Jugend begreift er das Meer als verspielte und manchmal zerstörerische, anarchistische Gewalt, die Sexualität einer erotischen Bestie, unersättlich und unbezähmbar, wie in seiner „Ode an das Meer“.
Hier auf der Insel
das Meer,
und wie viel Meer
bricht hervor jeden Augenblick
aus sich selber
o ja, sagt es, o ja,
o nein, o nein, o nein,
o ja, sagt es, im Blauen,
im Schaum, im Wagenritt,
o nein, sagt es, o nein.
Das Crescendo des Textes erreicht seinen Höhepunkt, wenn er beschreibt, wie die Brandung gegen den Fels schlägt: mit sieben grünen Zungen, sieben grünen Tigern, sieben grünen Meeren.
Anhand ebendieses Gedichts erläutert der Lyriker dem Postboten Mario Begriffe wie „Metapher“ und „Rhythmus“. Nachdem Mario ihn die Verse hat rezitieren hören, ist er wie in Trance, und Neruda fragt ihn, was er von seiner Ode halte. Ich gebe die Dialogstelle hier wieder, weil dies der entscheidende Moment ist, in dem zwischen den beiden ungleichen Männern die Freundschaft keimt und die Handlung des Romans ansetzt:
„Na, wie findest du das?“
„Seltsam.“
„Seltsam. Du bist aber ein scharfer Kritiker!“
„Nein, Don Pablo. Das Gedicht ist nicht seltsam. Ich fühlte mich seltsam, als ich es Sie aufsagen hörte.“
„Mein lieber Mario, kannst du dich nicht etwas deutlicher ausdrücken? Ich habe nicht den ganzen Vormittag Zeit, deinen Worten zu lauschen.“
„[…] Wie soll ich es Ihnen erklären? Als Sie das Gedicht aufsagten, gingen die Worte so hin und her, von her nach hin…“
„Wie das Meer eben.“
„Ja, genau. Sie bewegten sich wie das Meer.“
„Das macht der Rhythmus.“
„Und ich fühlte mich seltsam, weil mir von so viel Bewegung ganz schwindlig wurde.“
„Dir wurde schwindlig?“
„Genau. Ich fühlte mich wie ein Boot, das auf Ihren Worten schaukelt.“
[…]
„Wie ein Boot, das auf meinen Worten schaukelt.“
„Ja, genau.“
„Weißt du, was du da gemacht hast, Mario?“
„Was?“
„Eine Metapher.“
„Aber die ist doch nichts wert; sie ist mir ja ganz zufällig rausgerutscht.“
Ich zitiere diesen Dialog wörtlich, weil er Nerudas Kunst und die Beziehung zu seinen Mitmenschen sehr schön veranschaulicht; mit beidem habe ich mich einen Gutteil meines Lebens beschäftigt.
Zum einen will ich zeigen, dass die Poesie des Chilenen auf die Zuhörer eine körperliche Wirkung hat. Sie fühlen sich wie berauscht von einem geheimnisvollen Likör, von seiner monotonen, klapperschlangenhaft dahingleitenden Stimme, seinen hypnotischen Pupillen. Wenn die Möchtegern-Avantgarde mit ihrer Poesie allen anderen vorauseilt, so zeichnet sich wahrhaft avantgardistische Poesie dadurch aus, dass der Dichter die anderen vor sich hertreibt.
Diese Hexerei wollte ich meinen Lesern unbedingt verdeutlichen, doch hatte dies innerhalb des komödiantischen Tons zu geschehen, der das ganze Buch prägt. Ich konnte das Thema nicht in der geschwollenen Kathedersprache eines literarischen Essays abhandeln, denn es ging mir ja darum, den Dichter fassbar zu machen, ihn herauszuholen aus den Prätorianerzirkeln der ernsten politischen Würdenträger und eitlen Kritiker, die ihn die meiste Zeit in Atem hielten. Abgesehen davon aber wollte ich, im Zeitraffer und mit einem Schmunzeln, einen weiteren Charakterzug meines geliebten Lyrikers darstellen: die ungemein feinfühlige, demokratische Art seines Umgangs mit einfachen Leuten. Zu einem gebildeten Schwätzer konnte er abweisend und sogar unfreundlich sein, doch einem Arbeiter, der ihm mit Neugierde begegnete, war sein Herz jederzeit zugänglich. Er war ironisch, aber anders als die Großmeister der Ironie durchaus in der Lage, den schlagfertigen Witz eines schlichten Geistes aus dem Volk einzustecken, ohne sich zu ärgern.
Allerdings wirft die behagliche Plauderei der beiden einen Verdacht auf: Wird dem Postboten tatsächlich schwindlig von den Versen, oder tut er nur so, um sich über den Vortrag des Dichters lustig zu machen?
In jedem Fall findet zwischen ihnen ein Austausch statt, eine Demokratisierung ihrer Beziehung, womit die Erzählung reif ist, den entscheidenden humorvollen Sprung in die Tiefen der Lyrik zu wagen. Jetzt, da der Briefträger weiß, was eine Metapher ist, erlaubt er sich, dem Pontifex Maximus der Poesie eine „logische“ Frage zu stellen, mit der er ihn auf treuherzige und zugleich verschmitzte Weise verwirrt.
Briefträger: „Glauben Sie, dass die ganze Welt eine Metapher für etwas ist?“
Dichter: „Ich gehe jetzt in meine Küche und mache mir ein Omelett aus Aspirin, um über deine Frage nachdenken zu können, und morgen sage ich dir, was ich von ihr halte.“
Das Stichwort für diesen Aufschwung in die höheren Sphären der Sprache musste für Mario natürlich das Meer sein. Weil er Chilene ist, weil er von Haus aus Fischer ist und weil sein Gesprächspartner auf einer Art unbeweglichem Schiff wohnt.
Neruda hat dank seiner politischen Tätigkeit und weiten Reisen durch bunte Länder und mongolische Steppen Gelegenheit gehabt, von jedem Kontinent, von jeder Insel aus das Meer zu betrachten. Und da er für eine Weltgemeinschaft der Gerechtigkeit und Gleichheit kämpft, erkennt er noch im fernen Chinesischen Meer das gleiche brüderliche Auf und Ab seiner chilenischen Wellen wieder. In seiner „Ode an ein einziges Meer“ bringt er es auf den Punkt: Von Meer zu Meer ein einziger grüner Traum…, oder auch: Dieses Meer, diese Welle, kommt aus Amerika…
Während bürokratische und repressive Einfallslosigkeit die Utopie des realen Sozialismus verschliss, wurde Neruda von körperlichen Beschwerden gequält. Das schleichende Leiden, das ihn schließlich umbringen sollte, zehrte bereits auf dem Höhepunkt seines Ruhmes an ihm, als er in Frankreich lebte, wohin ihn der revolutionäre Präsident Salvador Allende als Botschafter Chiles entsandt hatte; als er nach Schweden reiste, um den Nobelpreis entgegenzunehmen; und als er sich im Zuge seiner rasend schnell zunehmenden Berühmtheit dem massenhaften Ansturm seiner Bewunderer ausgesetzt sah.
Es waren dramatische Zeiten für Chile, und Nerudas diplomatische Mission ließ sich nicht mit links erledigen: Die nationale und internationale Verschwörung gegen Salvador Allende warf ihre Schatten voraus. Als Isla Negra weit entfernt und der Dichter geschwächt war von Krankheit und Sorge, erhielt das Meer einen anderen Tenor und passte sich dem Unheil an. Neruda glaubte nun nicht mehr an den gemeinsamen grünen Traum aller Meere des Planeten, sondern nur noch an eines: den Pazifik vor seinem Haus an der Küste.
Diese schmerzliche Metamorphose zeigt sich unverhüllt und ohne Rücksicht auf die Geografie in der Abwertung aller fernen, vormals verklärten Ozeane. Kein Meer ist ihm jetzt noch gut genug, mit Ausnahme von diesem einen, das ihm „türkisfarbene Abgründe schenkt“.
Das Gedicht „Llama el océano“ (Ruf den Ozean) aus Jardín de invierno (Wintergarten) beginnt mit einem melancholischen Abgesang:
Ich gehe nicht ans Meer in diesem weiten Sommer
von Hitze bedeckt, gehe ich nicht weiter
als bis zu den Mauern, den Türen und Ritzen,
die das Leben umgeben und mein Leben.
Dieser zutiefst schwermütigen Ouvertüre folgt eine Schimpftirade gegen die Meere, die ihn nicht erlösen, ihn nicht heilen, nicht imstande sind, seinem Herzen, seinem krebszerfressenen Leib Linderung zu verschaffen. In der dritten Strophe wird dies überdeutlich:
Ich will das Meer nicht,
das fremde,
tote, von tristen Städten umgebene
Meer, dessen Wellen weder töten können
noch erfüllt sind von Salz und Klang.
Die Komplexität dieser scheinbar simplen Verse überfordert die Akademiker offenbar; bisher haben sich nur ganz wenige mit Jardín de invierno befasst, möglicherweise aus Enttäuschung darüber, dass der Dichter so unvermittelt eine Leidenschaft aufgab, die sie für einen unveränderlichen Wesenszug gehalten hatten. Denn mit diesem Buch betreten wir ein Minenfeld apokalyptischer Vorahnungen.
Angefangen bei diesem tragischen Oxymoron: Tote Meere können nicht töten, erst das lebendige Meer, als das ihn der Pazifik erwartet, wird ihn wahrhaftig töten. Die widersprüchliche Vision dieses gesunden Meeres, das ihn nicht gesund macht, wird in der Realität konkretere, rauere, bitterere Formen annehmen als in diesem Albtraum des Dichters.
Tatsächlich riss das Militär im September 1973 die Herrschaft über das Land an sich, und der Schriftsteller fühlte, wie seine Depression das fieberhafte Wachstum des Krebses beschleunigte. Sein Ende näherte sich rasch, und die Verschmelzung seines Klagelieds mit dem Totengesang des Meeres war vollkommen.
Bis alles, was sein konnte, zu Schweigen wurde.
Mit diesen Worten schließt der prophetische Text „Soliloquio en las olas“ (Selbstgespräch in den Wellen).
Tief bewegt von dieser innigen Verbindung des Dichters mit dem Meer, gebe ich am Ende meines Romans den lockeren Umgangston für einen Moment auf und lasse meinen Neruda die Verse aus „Herbst“ sagen, mit denen der Vorhang fällt, die glühende Stirn ans Fenster gepresst, um die Schulter den freundschaftlichen Arm des Postboten:
Ich geh wieder ans Meer, das der Himmel birgt,
die Stille zwischen Woge und Woge
stellt eine bedrohliche Spannung her:
Das Leben erstirbt, das Blut beruhigt sich,
bevor losschlägt die neue Bewegung
und des Grenzenlosen Stimme dröhnt.
Es ist das tragische Jahr 1973.
Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Pablo Neruda
PABLO NERUDA
1
Der das Wasser liebte,
den Stein und den Wind,
das Salz und die Süße der Trauben:
Pablo Neruda ist tot!
Die Gitarren schweigen.
Das Brot, gebrochen in Liebe,
entfiel seiner Hand.
2
Der die Diebe sah an festlicher Tafel
und sah seine Brüder
auf der Suche nach Brot
auf dem Kehricht:
Pablo Neruda ist tot!
Seine Freunde werden gejagt
mit Kolbenhieben und Schüssen.
Seine Bücher werden verbrannt
auf den Straßen.
3
Pablo Neruda ist tot!
Aber schlaflos wälzen die Mörder
sich hinter den Mauern ihrer Paläste,
wenn sein Lied sie erreicht.
4
Pablo Neruda ist tot!
Aber zornig erhebt sich der Schmerz
seines Volkes, barfüßig und blutend,
mit Fäusten und Fahnen.
5
Pablo Neruda ist tot!
Aber sein Blut tritt hervor
und wird zum Gesang,
der die Völker ergreift.
6
Wie die Erde, Pablo,
gehörst du uns allen!
Volker von Törne
VERFLUCHUNG
Dem Andenken Pablo Nerudas
Er liegt im chilenischen Massengrab.
Sie haben Neruda erschlagen.
Tyrannen verstehen Dichter nicht.
Verstehen sie, töten sie.
Die Soldaten verließen sein Tor.
Sein Arrest ist beendet, die gewonnene Runde.
Stirbt der Dichter, siecht die Freiheit.
Siecht die Freiheit,
aaaaaaaaaaaaaaaakrepiert der Dichter.
Mörder mit hornigen Händen
kommen mit künstlichen Kränzen,
Rücklings liegt er, blumenumrankt
wie Lorca lag, jung und gemordet.
Matilde, aufrecht und schön
gebeugt
aaaaaaaden Tränen,
aaaaaaaaaaaaaaaaadem toten Leib.
Olivener Pablo mit den lila Augen
einziger Sänger
aaaaaaaaaaaaaunter den Erhöhten!
Er lud mich aufs Schiff –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazu seinem Geburtstag.
Die gemeinsame Feier,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaader einsame Tod…
Er lud mich, zu lesen in den Stadien –
in ihnen schreien die Eingesperrten.
Sie erschlugen den Großen Gefangenen…
Die ihr an die Stäbe schlagt,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaBrüder Nerudas
steckt schwarze Schleifen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaans Revers
wie einst die Partisanen rote.
Eine Schweigeminute? Eine Minute des Fluchs
ersetzt die Nekrologe, die Epitaphe.
Anathema dir, kasernierte Maffia,
Anathema!
Wenige entkamen ins Ausland
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauf einer „Iljuschin“…
Anathema
meinen demokratischen Illusionen!
Den Listenhenkern, Mördern der Dichter:
Anathema!
Anathema!
Anathema!
Laßt mich ans Grab Nerudas.
Ich bringe ihm russische Erde. Stehe,
schlucke die Trauer, die Scham und neige mich
vor dem letzten Dichter der gefallenen Freiheit.
Andrej Wosnessenski
Jürgen P. Wallmann: „Ich werde niemanden exkommunizieren“
Die Tat, 21.9.1974
Uwe Berger: Seine Poesie ist Stimme des Volkes
Neues Deutschland, 12.7.1979
H. U.: Einheit von Poesie und Politik
Neue Zeit, 11.7.1979
Hans-Otto Dill: Seine Dichtung – leidenschaftlicher Hymnus auf den Kampf der Völker
Neues Deutschland, 12.7.1984
Volodia Teitelboim: Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1984
Margit Klingler-Clavijo: Ich bekenne, ich habe gelebt
Deutschlandfunk, 12.7.2004
Josef Oehrlein: Die drei Archen des Dichters
Cicero
Karin Ceballos Betancur: Das Kind und der Dichter
Die Zeit, 8.7.2004
Holmar Attila Mück: Krieger mit der Lyra
Deutschlandradio Berlin, 12.7.2004
Claudia Schülke: „Militanter Stalinist und kolossaler Dichter“: Pablo Neruda
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.2004
Sergio Villegas: Beerdigung unter Bewachung
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1978
Karl Bongardt: Seinen Atem durchwob die singende Liebe
Neue Zeit, 24.9.1983
Holger Teschke: Sänger des Regens und der Klassenkämpfe
junge Welt, 23.9.2023
Manfred Orlick: „Ich bekenne, ich habe gelebt!“
literaturkritik.de, 23.9.2023
Gerhard Dilger: Dichterfürst im Zwielicht
taz, 23.9.2023
Benjamin Loy: Schwieriges Schweigen
ORFSound, 20.9.2023
Pablo Neruda – Lesung und Interview des Literaturnobelpreisträgers 1971.
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