HUNDSTREUE
ich bin den Bäumen treu wie ein Hund
die zerrissene Weide vor meinem Haus
in die vor Jahren der Blitz einschlug
steigt nachts in meine Träume
da hört man uns weithin greinen
aaaüber unsere zwei Stämme
aaaüber unsere zwei Leiber
aaaüber unsere zwei Vaterländer
ich weiß nicht warum
durch meine Nerven ständig
diese alte unbegriffene unvollendete
und ekelhaft lange Liebe flattert
überall wird Brot gebacken
und überall teuer verkauft
ich fliehe mein Land und die Weide
und ich komme zurück
ich bin den Bäumen treu wie ein Hund.
Helga M. Novak
1
Das Panorama öffnet den Rundblick in eine weite Landschaft. Es suggeriert dem Betrachter einen erhöhten Standort, von dem aus der Blick schweifen kann, ein Blick, der nicht einen einzelnen Punkt der Landschaft anvisiert, Turm, See oder Sendemast, sondern viele Punkte. Das Panorama sammelt also Blicke und Blick-Punkte, es ist auf Breite und Fülle aus, der Betrachter kann sich nicht satt sehen und hat Mühe, das Entdeckte unterzubringen. Seinen erhöhten Standpunkt faßt er nur topographisch auf: er weiß, daß er mehr wahrnimmt, wenn er auf einen Hügel steigt. Er holt sich von dort aus die Blick-Punkte heran und setzt sie zusammen. Er ist, schon wenn er den Hügel erklettert, fest überzeugt, daß der Rundblick ihm Fülle anbieten wird; allerdings hofft er dabei auf Überraschungen. Er versucht, den bekannten Täuschungen des Rundblicks nicht zu verfallen: es gibt perspektivische Verkürzungen, die auch auf einem Hügel wirken. Zum Beispiel: das sehr Nahe ist hier sehr groß, ein Hochhaus dicht vor dem Auge des Betrachters läßt eine ganze Stadt in der Ferne winzig erscheinen, obwohl der Erbauer des Hauses Pläne und Techniken aus der fernen Stadt bezogen hat. Was in den Tälern liegt, wird leicht ganz übersehen; der Betrachter braucht also Hartnäckigkeit, er übt seinen Blick, während er sammelt; er ist am glücklichsten, wenn er in einer Flußsenke einen Blick-Punkt wiederentdeckt, der lange nicht gesehen worden ist.
2
Die vorliegende Anthologie sieht die Landschaft deutschsprachiger Lyrik unseres Jahrhunderts als Panorama. Sie gibt absichtlich Fülle und hofft Überfülle gerade noch vermieden zu haben. Sie bietet etwa 600 Gedichte von mehr als 200 Autoren aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Luxemburg; sie zeigt auch Gedichte zweier Perser, die in deutscher Sprache schreiben. Die Anthologie bedient sich des Begriffes „modern“ als eines Hilfsbegriffes und meint damit: Lyrik und Lyriker, die auf sehr verschiedene Weise teilhaben an jener Erneuerung des Gedichts, die anderswo tief im 19. Jahrhundert beginnt, bei uns, von wenigen Vorläufern abgesehen, um die Jahrhundertwende, einer Revolution, die selbst längst eine eigene Tradition besitzt und beinahe global die neue Sprache der modernen Poesie hervorgebracht hat. Die Anthologie zieht die Grenzen des „Modernen“ weit, aber sie zieht sie; manche Dichter fehlen hier also, die vom Strom dieser neu gewonnenen Sprache nicht oder nur sehr leicht berührt worden sind. Daß diese Einschränkung womöglich einige Lieblinge jener Leserkreise trifft, die der modernen Dichtung beharrlich die Aufmerksamkeit und Achtung verweigern, halten die Herausgeber für unvermeidlich und notwendig.
3
Die Zahl der Gedichte, die ein Autor hier erhalten hat, kann nur begrenzt als eine Wertung verstanden werden, denn ein einziges Gedicht kann zuweilen mehr von einem Mann sagen, kann ihn auffälliger, gewichtiger machen als drei. Wenn einige Dichter acht, zehn oder zwölf Gedichte bekommen haben, so ist das allerdings als nachdrückliche Wertung aufzufassen: die großen Figuren des deutschen Gedichts sollen sehr deutlich sichtbar werden, wodurch auch die Vielfalt des Vorhandenen nur um so stärker hervortreten wird. Die breite Skala der lyrischen Möglichkeiten und Resultate vorzuzeigen heißt auch, den einzelnen Autor nicht eng, nicht nur mit den bekanntesten, sozusagen kennzeichnendsten Texten vorzustellen. Nicht selten ist gerade der „untypische“ Text eines Dichters erhellend; wo der Leser auf einen solchen Text stößt, kann er auf gezielte Wahl durch die Herausgeber schließen.
4
Der älteste hier vertretene Dichter ist 1863 geboren, der jüngste 1943. Diesem Faktum folgt die Anthologie in ihrer Anordnung: die Lyriker unseres Jahrhunderts stehen in der Chronologie ihrer Geburtsjahrgänge. Die Herausgeber kennen die Grenzen dieser Einteilung; sie geben ihr trotzdem den Vorzug vor anderen Anordnungen, wie sie gerade im letzten Jahrzehnt mehrmals versucht worden sind, etwa der Anordnung nach Themenkreisen, Stilen, Richtungen. Die Herausgeber schätzen den Reiz dieser Versuche, glauben aber, daß ihnen noch mehr Willkür anhaftet als der chronologischen Einteilung. Keine derartige Sammlung ist von Willkür frei, die totale Anthologie ist nicht herstellbar: sie müßte ja, zum Beispiel, wenigstens das Prinzip der Simultaneität streng wahren, jedes Gedicht müßte also genau auf den Zeitpunkt fixiert werden können, da es erstmalig (vielfach außerhalb einer Sammlung) öffentlich sichtbar wurde. Eine solche Aufgabe übersteigt die Kräfte und die Hilfsmittel zweier Sammler.
5
Alle Gedichte eines Autors erscheinen hier also nacheinander und – soweit feststellbar – ebenfalls chronologisch geordnet. Die Autoren eines Geburtsjahrganges stehen beisammen; auch das gibt einen merkwürdigen Reiz. Ballungsjahrgänge, Ballungszentren sind zu erkennen. Eins von ihnen, die achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts umfassend, ist in seiner Begabungsdichte dem Sturm und Drang und der Romantik vergleichbar; es markiert den Ausbruch der lyrischen Revolution, der im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts stattfand. Ein einziger Jahrgang kann da erscheinen wie ein Vulkan; etwa 1887: Arp, Heym, Hoddis, Schwitters, Trakl – fünf Erzväter der modernen Poesie sind in einem Jahrgang versammelt. Im zweiten und dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts werden die meisten jener Dichter geboren, deren Wirksamkeit in den fünfziger Jahren beginnt. Sie sind die Geschlagenen des zweiten Unheilskrieges, so wie die achtziger und neunziger Jahrgänge die Opfer des ersten waren. Die in den fünfziger Jahren hervortreten, haben die Revolution des Gedichts bereits hinter sich, stehen auf dem durch sie gewonnenen Grund, haben allerdings auch die zwölfjährige Barbarei erlebt, als dem neuen Gedicht nicht nur der Boden entzogen, sondern die Luft zum Atmen abgedreht werden sollte; revolutionär sind sie noch in dem Sinne, daß sie nach dem Krieg die zerstörte Kontinuität wiederherstellen, die außerhalb der verschlossenen Grenzen gewonnenen Errungenschaften hereinholen und den Boden zu bereiten versuchen für eine freundlichere Aufnahme des modernen Gedichts, das weiter unermüdlich, wenn auch vergeblich nach Freundlichkeit unter Menschen sucht, nach besseren Zeiten für Lyrik.
6
Die Herausgeber behaupten, die vorliegende Sammlung überblickend, die besondere Zählebigkeit des Gedichts. Es bleibt hartnäckig lebendig, so hartnäckig, wie das breite Publikum oft an ihm vorbeigeht. Das Zarteste erweist sich als das Festeste, es hat die Konsistenz vielleicht nicht des Stahls, aber der Luft und des Wassers, es tritt überall hervor, es überlebt auf höchst merkwürdige Weise die lauten Katastrophen der Kriege und Diktaturen, die leisen des Vergessens und des Verrats. Die Herausgeber sind ebenso hartnäckig davon überzeugt, daß der Beitrag des deutschsprachigen Gedichts zur Weltsprache der heutigen Poesie erheblich, gewichtig, ja: daß er ebenso erheblich und gewichtig ist wie der französische, spanische, englische, amerikanische, russische Beitrag. Die moderne Dichtung setzt Internationalität voraus; die deutsche Lyrik dieses Jahrhunderts ist demzufolge offen nach allen Seiten; nicht wenige deutsche Lyriker arbeiten auch als Vermittler ausländischer Poesie. Die Herausgeber wünschen der deutschsprachigen Lyrik stärker als bisher jene nachhaltige Wirkung draußen, die sie verdient.
7
Die Herausgeber haben sich, während sie die Gedichte für dieses Buch zusammentrugen, davon überzeugt, daß das neue Gedicht unseres Jahrhunderts nicht nur eine neue Sprache setzte. Die Revolution des Gedichts war selbstverständlich eine Revolution der Sprache, aber nicht nur das. Das Neue ist nicht nur als Sprachmaterial neu; es schafft auch eine neue Weise, die Welt und den Menschen zu sehen; es ist mindestens ebensosehr eine intellektuelle und emotionale wie eine sprachliche Leistung. Immer noch kommuniziert es, wenn auch nicht mehr auf die sogenannte landläufige Weise, mit der Welt und der schwierigen Wirklichkeit des Jahrhunderts. Deshalb betrachten die Herausgeber heute, 1965, jene Versuche mit Mißtrauen, in denen das reine Materialexperiment als das Neueste vom Tage ausgegeben wird. Das Neue ist nie nur eine Frage von Syntax, Silbentrennung, Interpunktion und Zeilenanordnung; es ist auch eine Frage des geistigen Durchdringens, des Welt-Bezugs, der Welt-Bewältigung, der Optik und Akustik in einem universalen, nicht nur im phonetischen oder lettristischen Sinn. Noch genauer: die Herausgeber weigern sich, 1965 dasjenige als progressiv anzuerkennen, was etwa Kurt Schwitters 1925 bereits hinter sich hatte.
8
Die Herausgeber vermerken schließlich halb mit Sorge, halb mit Erleichterung, daß das zeitgenössische Gedicht eigentlich nur einen Hauptfeind hat: er heißt Ideologie. Sie stellen fest, daß das Gedicht des Jahrhunderts tausendfach die allgewaltigen Ideologien über- und unterlaufen hat. Allerdings sind das teuer erkaufte Siege. Die Ideologen haben nicht nur einige der besten lyrischen Geister erstickt und zu Schönrednern oder Schweigenden gemacht; sie haben auch durch Spießertum, Gewaltherrschaft und Krieg die widersetzlichen Dichter vertrieben, eingekerkert, geschunden, getötet. Rund fünfzig Emigranten und Verjagte, zehn Kriegsgefallene, mehrere Ermordete und Deportierte sprechen auch durch ihr Leben, nicht nur durch ihr Gedicht eine harte Sprache – nicht zu reden von den vielen an Leib und Seele Verwundeten, den Selbstmördern, den tragisch Verblendeten, den Einsamen, den Abgeschnittenen, mit Sprech- und Schreibverbot Gestraften. In diesem Sinne wird das Panorama zur Dokumentation.
9
Die Anthologie gibt zu jedem Dichter eine biographische Notiz. Sie gibt ferner Auswahl-Listen der wichtigen Anthologien und Zeitschriften für deutschsprachige Poesie und eine Lyrik-Bibliographie aller beteiligten Autoren. Biographie und Bibliographie erstreben Vollständigkeit und Genauigkeit; sie werden sie angesichts der teilweise sehr erheblichen Schwierigkeiten bei der Beschaffung des Materials nicht überall erreicht haben.
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Die Herausgeber verknüpfen mit der Publikation dieser Sammlung auch die Absicht, anregend auf noch vorhandene Lücken auf dem derzeitigen Lyrik-Markt hinzuweisen. Noch immer fehlen gegenwärtig Gesamt- oder repräsentative Auswahlausgaben so wichtiger Dichter wie Klabund, Lotz, Wolfenstein und Zech. Autoren wie Adler, Blass, Boldt, Kanehl, Seitz, Vagts, Wegner sind als Lyriker noch immer beinahe verschollen und harren der Wiederentdeckung. Es stellt sich die Frage, ob nicht auch die Wiederauflage von Gedichtbänden, die heute unerreichbar sind, nunmehr geboten ist.
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Die Herausgeber bedauern folgende Mitteilung: Paul Celan sollte in dieser Anthologie mit acht Gedichten vertreten sein. Er hat, trotz nachhaltiger Bitten der Herausgeber, die Abdruckerlaubnis verweigert, weil auch Gedichte von Yvan Goll in diese Sammlung aufgenommen wurden. Auf diese Weise vor eine an sich unerträgliche Wahl gestellt, haben sich die Herausgeber für den 1950 verstorbenen Dichter Goll entschieden. Sie sind nach wie vor überzeugt, daß eigentlich sowohl Yvan Goll als auch Paul Celan hätten vertreten sein müssen.
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Die Herausgeber danken den beteiligten Dichtern und Verlagen sowie den Mitarbeitern des Sigbert Mohn Verlages für ihre Hilfe.
Wolfgang Hädecke, Herbst 1965, Vorwort
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