My life closed twice before its close;
It yet remains to see
If Immortality unveil
A third event to me,
So huge, so hopeless to conceive,
As these that twice befell.
Parting is all we know of heaven,
And all we need of hell.
Emily Dickinson
Mein Leben, zweimal fiels ins Schloß,
aaaeh’s zufällt; nun, ich will
jetzt sehn, ob die Unsterblichkeit
aaaein Drittes mir enthüllt,
so ohne Hoffnung und so groß.
aaaAbschied, das ist, was uns,
du Himmel, an dir wißbar ist, –
aaaund Hölle ists genug.
Zu den Gesammelten Werken
Die hier vorgelegte Ausgabe der Werke Paul Celans vereinigt in fünf Bänden das lyrische Œuvre (Bde. 1–3), Prosa und Reden (Bd. 3) sowie die Übertragungen aus sieben Sprachen mit den zugrundeliegenden Originaltexten (Bde. 4 und 5). Es werden damit die bisher einzeln erschienenen Teile des Gesamtwerks versammelt, die Celan selbst für die Veröffentlichung bestimmt und deren Publikation er erlebt oder doch wenigstens noch vorbereitet hat. Eingeschlossen sind einige nachgelassene Werke – in den entsprechenden Bänden ist jeweils besonders auf sie verwiesen –, die eine bestimmte Publikationsreife erkennen lassen und daher im Einverständnis mit den Erben Celans nach seinem Tod veröffentlicht wurden.
Die Ausgabe soll den Zweck erfüllen, die bisher weit verstreut publizierten Werke Celans, darunter nicht mehr oder nur schwer Erreichbares, zusammenzuführen und damit allen Interessierten leichter zugänglich zu machen. Eine solche Wiedergabe der Werke im Zusammenhang dient nicht zuletzt der Möglichkeit, Beziehungen zwischen den einzelnen Werkkomplexen, vor allem zwischen der Lyrik und den Übertragungen, genauer zu erkennen oder überhaupt erst zu entdecken. Die Gesammelten Werke wollen und können keine Edition mit textkritischem Anspruch im engeren Sinn sein und stellen daher keinen Vorgriff auf die historisch-kritische Celan-Ausgabe dar, die ihre anderen und weitergespannten Ziele besitzt. Der Wortlaut der hier erscheinenden Texte folgt (bis auf einige jeweils im Nachwort angezeigte Ausnahmen) den Druckfassungen der Einzelpublikationen, die für die vorliegende Ausgabe mit dem Bemühen überprüft wurden, einen von Druckfehlern gereinigten Text vorzulegen.
Zu Band 4 und 5
Der vierte und fünfte Band der Gesammelten Werke enthalten, zusammen mit den jeweils zugrundeliegenden Originaltexten, sämtliche bisher einzeln publizierten Übertragungen poetischen Charakters ins Deutsche. Ausgeschlossen bleibt eine Reihe von Prosaübersetzungen aus dem Französischen und Amerikanischen, die eher als Gelegenheitsarbeiten zu betrachten sind (vgl. das gesonderte Verzeichnis im Anhang). Die Dichtung Décimale blanche (Weiße Dezimale) von Jean Daive, mit deren Übertragung Celan in den letzten Monaten seines Lebens beschäftigt war, wurde hier ebenfalls nicht aufgenommen, da keine druckfertige Version vorliegt. Celans handschriftliche Übertragung dieser Dichtung ist indes 1977 im Suhrkamp Verlag als Faksimiledruck veröffentlicht worden.
Die Sammlung der bisher nur in Einzelausgaben oder in Periodica verstreut, zum Teil an abgelegener Stelle, erschienenen Übertragungen entspricht Celans eigenem ausdrücklichen Wunsch, zu dessen Verwirklichung er selbst noch erste Anstalten getroffen hatte. Bis zuletzt und nicht ohne Grund war er der Ansicht, daß seine Übertragungen bei den Spezialisten des Metiers wie in der literarischen Öffentlichkeit nicht immer die gebührende Beachtung gefunden hätten. Daß die bereits seit einiger Zeit für die Bibliothek Suhrkamp angekündigte Sammlung der Übertragungen erst jetzt und an dieser Stelle publiziert wird, hat seinen Grund in rechtlichen Schwierigkeiten, die erst im Rahmen dieser Ausgabe der Gesammelten Werke befriedigend gelöst werden konnten. Abgesehen von ihrem Eigengewicht als Zeugnisse der lyrischen Formkraft Celans spiegeln die Übertragungen die für sein Gedichtwerk maßgebende europäische Tradition. Sie reicht von den Sonetten Shakespeares über die französischen Symbolisten Rimbaud und Valéry und über Apollinaire zu den großen russischen Lyrikern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Block, Chlebnikov, Mandelstamm, Jessenin, wie zu den französischen Zeitgenossen Supervielle, Michaux, Char und du Bouchet. Die angelsächsische Moderne ist durch mehrere Autoren von Rang vertreten, die italienische glanzvoll durch Ungaretti.
Die Vielzahl der übertragenen Autoren aus verschiedensten Sprachbereichen sowie die gattungsspezifische Unterschiedlichkeit der Texte (neben Lyrik im engeren Sinn und poetischer Prosa stehen Drama, Filmtext und lyrische Aufzeichnungen tagebuchartigen oder aphoristischen Charakters) brachte für die Anordnung der Übertragungen in den vorliegenden beiden Bänden gewisse Schwierigkeiten mit sich. Eine innerhalb der einzelnen Herkunftssprachen streng die Chronologie der Erstpublikationen einhaltende Gliederung hätte zwar den Fortgang von Celans Arbeit mit fremdsprachigen Texten über einen Zeitraum von zwanzig Jahren mit seinen Veränderungen sprachlicher Art unmittelbar zur Anschauung bringen können. Ein solches Ordnungsprinzip hätte anderseits in vielen Fällen die Übertragungen der Texte eines Autors auseinandergerissen und überdies den eigenen Brauch Celans unberücksichtigt lassen müssen, verstreut publizierte Übertragungen desselben Autors zu sammeln und, oft in überarbeiteter Form, in separaten Ausgaben zu veröffentlichen (Mandelstamm, Jessenin, Shakespeare, Supervielle).
Die vorliegende Ausgabe entscheidet sich deshalb für eine abgestufte Unterteilung nach erstens der Herkunftssprache der übertragenen Texte, zweitens ihrer Publikationsart (selbständige oder nichtselbständige Veröffentlichung) und drittens dem Zeitpunkt ihrer Erstpublikation. Allerdings werden in unterschiedliche Abteilungen fallende Übertragungen eines Autors grundsätzlich bei seinem ersten Vorkommen in chronologischer Reihenfolge vereinigt. Auf diese Weise sind zugleich Schwerpunkte gewonnen, die sich durch die jeweils gemeinsame Herkunft aus einer Kultursprache ergeben oder aber durch das unterschiedliche Gewicht, das Celan dem Werk der einzelnen Autoren beimaß.
So bilden allein die Übertragungen aus dem Französischen mit den entsprechenden Originaltexten den Inhalt des umfangreicheren vierten Bandes und machen deutlich, wie intensiv sich Celan mit der Literatur des Sprachbereichs auseinandersetzte, in dem er seit 1948 lebte. Bei den übrigen, ihrer Qualität nach nicht weniger bedeutenden Übertragungen aus weiteren sechs Sprachen im fünften Band richtet sich die Reihenfolge der Herkunftssprachen nach dem Umfang und der Anzahl der jeweiligen Übertragungen.
Der Entschluß, in diese Ausgabe zusätzlich die fremdsprachigen Originaltexte aufzunehmen, kam nicht ohne Bedenken zustande. Denn vorerst war es noch nicht in allen Fällen möglich, genau die Textversion zu eruieren, die Celans Übertragungen tatsächlich oder mit einiger Wahrscheinlichkeit zugrundeliegt. Unter Beachtung ihrer erst durch eine historisch-kritische Edition zu behebenden Vorläufigkeit werden die beiden Bände durch ihre jeweilige Gegenüberstellung von Originaltext und Übertragung gleichwohl dazu beitragen können, Celans Leistung als Übersetzer besser wahrzunehmen und genauer zu beurteilen.
Als Druckvorlage für mehrfach publizierte Übertragungen eines Textes wurde jeweils dann die letzte zu Celans Lebzeiten veröffentlichte Fassung benutzt, wenn diese sich von früher erschienenen durch mehr als Interpunktionsvarianten und geringfügige sprachliche Veränderungen unterscheidet, die möglicherweise nicht auf den Autor zurückgehen. Einige offensichtliche Druckfehler wurden verbessert. Die Konstitution eines philologisch exakten Textes kann auch im Fall der Übertragungen erst im Rahmen einer historisch-kritischen Ausgabe geleistet werden.
Die Druckvorlagen für die fremdsprachigen Texte in dieser Edition lassen sich zweierlei Kategorien zuordnen. Eine Anzahl von Übertragungen ist bereits zu Lebzeiten Celans zusammen mit den zugrundeliegenden Originaltexten publiziert worden. Diese Versionen der fremdsprachigen Texte werden hier den damaligen Veröffentlichungen folgend wiedergegeben, wobei offensichtliche Druckfehler ebenfalls verbessert wurden. Eine Tradierung von nicht eindeutigen Druck- und weiteren Textfehlern läßt sich dabei bis zur kritischen Aufarbeitung des gesamten Komplexes der Übertragungen nicht ausschließen. In allen anderen Fällen wurden als Druckvorlagen für die fremdsprachigen Texte je nach Erreichbarkeit Erstausgaben oder kritische Einzel- bzw. Gesamtausgaben benutzt. Dabei mußte für diese Edition in Kauf genommen werden, daß für einige Texte als Druckvorlage verläßlicher Art nur Ausgaben erreichbar waren, die ein späteres Erscheinungsdatum haben als die Erstpublikation der entsprechenden Übertragung Celans. Die bibliographischen Angaben zu allen Übertragungen (mit Kennzeichnung der Druckvorlagen für diese Ausgabe bei Mehrfachpublikationen) und zu den Druckvorlagen der fremdsprachigen Texte (mit Nachweis ihrer Erstveröffentlichung in Buchform) finden sich, wie auch der Nachweis der Abbildungen, jeweils in gesonderten Verzeichnissen im Anhang.
Im einzelnen muß noch darauf hingewiesen werden, daß die Übertragungen der Gedichte Chlebnikovs (mit einer Ausnahme), Arghezis und zweier der Gedichte von Rokeah, die sich alle in Band 5 finden, sowie in Band 4 die Übertragung des Kommentars von Cayrol zum Film Nuit et brouillard (Nacht und Nebel) erst nach Celans Tod zum erstenmal publiziert wurden. Im letzteren Fall stellt die Erstveröffentlichung eine redaktionelle Bearbeitung dar. Der Druck der Cayrol-Übertragung folgt deshalb einem handschriftlich überarbeiteten Typoskript Celans.
Zwei kurze Einführungstexte, die Celan seiner Block- und Mandelstamm-Übertragung bei deren Erstpublikationen beifügte, wurden in den Anhang zu Band 5 aufgenommen. In diesem Band richtet sich die Schreibweise der russischen Autorennamen nach der Form der Umschrift, die auch in den Einzelpublikationen der Übertragungen aus dem Russischen erscheint. Die Namen in wissenschaftlicher Transkription finden sich zusätzlich in der Bibliographie der fremdsprachigen Texte.
Am Zustandekommen des vierten und fünften Bandes haben durch Überlassung von Druckvorlagen, durch Mitteilung bibliographischer Angaben und durch sonstige Auskünfte einige Autoren selbst und andere Helfer in freundlicher Weise mitgewirkt. Der besondere Dank der Herausgeber und des Verlags gilt Jean Cayrol, Jean Daive, Anatole Dauman, André du Bouchet, Jacques Dupin, Jürg Janett, Winfried Menninghaus, Leonard M. Olschner, Oskar Pastior, Henri Pastoureau, Dierk Rodewald, David Rokeah und Daniel Würzburger.
Für die Überlassung der Rechte an den Übertragungen, die nicht bei den Erben Celans oder dem Suhrkamp bzw. Insel Verlag liegen, und für die Erlaubnis, die fremdsprachigen Originaltexte abzudrucken, danken Herausgeber und Verlag den jeweiligen Rechtsinhabern (die Copyright-Vermerke sind in die entsprechenden Bibliographien aufgenommen).
Beda Allemann Stefan Reichert, Januar 1983, Nachwort
– Eine schöne Edition, mit Mängeln: die erste Gesamtausgabe der Werke des Dichters Paul Celan. –
Dreizehn Jahre nach Paul Celans Tod fällt es nicht leicht, das Erscheinen seiner Gesammelten Werke nur mit Genugtuung zu begrüßen. Diese fünfbändige Ausgabe kommt zu spät und zu früh, wird aber ein paar Jahre lang unentbehrlich bleiben. Den Herausgebern ist zu danken – Beda Allemann, Stefan Reichert, assistiert von Rolf Bücher –, und auch dem Suhrkamp Verlag, der bei der Wahl seiner Editoren für Gesamtausgaben nicht immer eine so glückliche Hand bewies. (Auf die Revision des ersten Bandes der Günter-Eich-Ausgabe wartet man nach einem Jahrzehnt noch immer.)
Zu spät kommen diese Gesammelten Werke in fünf Bänden, weil sie bereits vor einigen Jahren möglich, erwünscht und nötig wären. 1975 erschien eine Sammelausgabe der Celanschen Lyrik in zwei Bänden der Bibliothek Suhrkamp. Sie war so gewissenhaft redigiert, daß sie jetzt völlig text- und seitengleich übernommen werden konnte (= Band 1 und 2).
Gewiß wäre es möglich gewesen, die Bände 3–5 ebenfalls so zu präsentieren; für Celans Übersetzungen war dies sogar angekündigt worden. Statt dessen muß man jetzt zum höheren Preis noch einmal kaufen, was man schon hat, und gewiß nicht zum letztenmal. Denn wer sich für Celans Werk ernsthaft interessiert, wartet längst auf eine andere, auf die Historisch-Kritische-Ausgabe (HKA). An ihr wird unter Beda Allemanns Leitung seit 1972 an der Universität Bonn gearbeitet; die Deutsche Forschungsgemeinschaft subventioniert sie, und auf ihrer Grundlage werden später noch einmal „Gesammelte Werke“ erscheinen müssen. Die heutige Ausgabe will „kein Vorgriff“ sein, doch kommt ihr die Identität der Herausgeber sehr zugute.
Übrigens waren die ersten Bände der HKA bereits für Ende der siebziger Jahre in Aussicht gestellt. Die jetzige Ausgabe enthält keinen modifizierenden Hinweis. Durch Nachfrage war zu erfahren, daß die Bonner Editoren die Druckvorlage eines Doppelbandes (Text und Apparat) im Frühjahr 1984 beim Verlag abliefern werden, so daß mit seiner Veröffentlichung vielleicht für Anfang 1985 zu rechnen ist. Dieser Doppelband soll die spätere Hälfte der Celanschen Dichtung enthalten, von Atemwende bis Schneepart. Der Textteil kann nur ein Reprint des Reprints der „Gesammelten Werke“ sein, der Apparat-Band aber wird die Entstehungsprozesse der späten Gedichte dokumentieren, er wird zeit-, lebens- und bildungsgeschichtliche Kommentierungen enthalten und Einblicke, in Celans Schaffensweise vermitteln – er dürfte das Bild des Dichters wesentlich verändern. Darauf ist man seit langem gefaßt, und deshalb – in Erwartung dir HKA – tritt auch die Celan-Forschung seit Jahren mit einiger Ungeduld auf der Stelle. Peter Szondi hatte, noch kurz vor seinem Ende das Gedicht „Eden“ mit einem Kommentar versehen und buchstäblich jede Wendung dieses besonders widerständigen Textes auf zeit- und lebensgeschichtliche Daten durchsichtig gemacht; es war der Kommentar eines Mitwissenden. Und 1972 durfte Rudolf Bücher – Privileg eines Bonner Celan-Editors – zehn stark differierende Fassungen des „Blume“-Gedichtes mitteilen, aus denen sich erkennen läßt, auf welch schwankendem Boden jede textinterne Auslegung bei Celan steht: Abbau der „Verständlichkeit“ durch Überlagerungen, Verdichtung, Verrätselung, so stellt sich der Entstehungsvorgang dieses Gedichtes dar. Seine biographische Inschrift ist lesbar geworden: das Wort „Blume“ im Spracherwerb des Sohnes Eric. Durch solche Einblicke sieht sich das Verstehenwollen auf den Nachvollzug der einzelnen Komprimierungsphasen verwiesen.
Es scheint, als müßten wir die Botschaft eines Celanschen Gedichtes nicht nur in seiner Endgestalt, sondern zugleich im Gesamtvorgang seiner Genese suchen: im Resultat die poetische Arbeit bedenken. Dann stünden die vielleicht wichtigsten Einblicke in das Wesen dieser Poesie erst noch bevor. Der Begriff des „Gedichtes“ wäre für Paul Celan zu erweitern – er müßte, auf Wirkung und Entstehung der Texte bezogen, entschieden prozessual gedacht werden. Der hermetische Charakter der Endgestalt bliebe zwar bestehen, der Affront ihrer Esoterik wäre unvermindert gegen die auf Denaturierung programmierte geschichtliche Welt gerichtet, aber dem Leser wäre die Tür geöffnet: Er könnte nun als ein Wissender an die Seite des Dichters in die Front seines Widerstandes treten.
Schon 1975 hatte Beda Allemann warnend darauf hingewiesen, daß man jene Kriterien erst noch werde entwickeln müssen, „die eine reflektierte Aufnahme der zweiten und, wenn eine Steigerung möglich war, bedeutenderen Hälfte von Celans lyrischem Lebenswerk erst möglich machen…“ Das Erscheinungsbild Paul Celans wird also nächstens noch an Schärfe gewinnen.
Diese Veränderung ist schon im Gange, und sie betrifft auch das Frühwerk, das nun allmählich aus der Verschwiegenheit auftaucht, in die es Celan versenkt hatte. So weiß man aus Israel Chalfens Biographie von einer handschriftlichen Gedicht-Sammlung aus dem Besitz von Ruth Lackner. Etliche Texte – Verse, aber auch Prosatexte in deutscher und rumänischer Sprache – wurden inzwischen teils durch Zitationen, teils durch unautorisierte Drucke post mortem bekannt. Von ihrer vollständigen Veröffentlichung ist mehr als nur eine Ergänzung des Gesamtwerks zu erwarten: sie werden die Konsequenz zu erkennen geben, mit der sich dieses einzigartige jüdische Lebenswerk – geschrieben in der Sprache der Mutter und der Muttermörder – entwickelte.
Leider steht keiner dieser frühen Texte in der jetzigen Gesamtausgabe. Man könnte es vielleicht verstehen, denn sie sind ja nicht „autorisiert“. Aber gilt nicht das gleiche auch für die Gedichte der Sammlung Der Sand aus den Urnen, die Celan 1948, sofort nach dem Druck, zurückzog? Sie wurden nach Celans Handexemplar redigiert und stehen nun, dankenswerterweise, im 3. Band. Ebenso die Nachlaß-Veröffentlichung Zeitgehöft, Celans späteste Verse. Leider teilen uns die Herausgeber nichts über den Charakter der Handschrift mit. Aus der Faksimile-Ausgabe der gleichfalls postum veröffentlichten „Schneepart“-Gedichte kennt man die Entstehungsdaten für jeden Text. Beim Druck pflegte Celan solche Datierungen zwar zu streichen, wenn dies nun aber statt seiner die Herausgeber besorgen, so ist dies doch wohl ein nicht autorisierter Eingriff in ein nicht autorisiertes Manuskript.
Zu früh erscheint diese späte Gesamtausgabe deshalb, weil sie als Lese-Ausgabe zur HKA eben doch nicht in Betracht kommt. Die Herausgeber betonen dies, aber es rechtfertigt sicher nicht das Weglassen einiger Texte. So schrieb Celan für Roben Neumanns Anthologie 34 x Erste Liebe (1966) einen launig-ironischen Beitrag, der ein interessantes Unikum in seinem Œuvre darstellt: „Die Wahrheit, die Laubfrösche, die Schriftsteller und die Klapperstörche“. Schon aus der Neuauflage als Goldmann-Taschenbuch war dieser Text kommentarlos verschwunden. In der Gesamtausgabe wird nicht einmal seine Existenz erwähnt.
Ob die von Hugo Huppert (in: Sinnen und Trachten, Halle/Saale, 1973) wiedergegebenen Äußerungen Celans zu seinem Dichtungsverständnis nicht ebenfalls in diesen dritten Band gehört hätten, darüber kann man vielleicht geteilter Meinung sein. Ein anderer einzelner Satz („la poesie“, 1970), freilich ein „autorisierter“, wird uns mitgeteilt… Weshalb fehlt dann aber jene interessante Bemerkung, er, Celan, habe in seinem ersten Gedichtband „noch verklärt“, und das werde er „nie wieder“ tun? Sie stand am 27. Januar 1958 in der Tageszeitung Die Welt.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: dieser dritte Band ist für jede Auseinandersetzung mit Celan unersetzlich. Er enthält unter anderem die Büchnerpreis-Rede und das „Gespäch im Gebirg“ – zwei Grundtexte. Vor allem aber sind nun jene frühen Prosagedichte auf Bilder von Edgar Jene leichter zugänglich: „Edgar Jene und der Traum vom Traume“. Nicht nur dieser Titel erinnert sehr an Jean Paul. Auch in den lyrischen Aphorismen „Gegenlicht“ (1949) – eine kleine Entdeckung – klingt der Ton Jean Paulscher „Streckverse“ nach. („Vergrabe die Blume und lege den Menschen auf dieses Grab.“) – Apropos: Bei den Gedichten Band 3, Seite 21 und 53, hat jemand die Widmungen an Margul Sperber und Jene vertauscht – vermutlich der Setz-Roboter.
In den Bänden 4 und 5 stehen alle druckreifen „Übertragungen poetischen Charakters ins Deutsche“. Nicht nur Gedichte, aus sieben Sprachen, auch Picassos Drama Wie man Wünsche beim Schwanz packt (geschrieben 1945, übersetzt 1954) und Jean Cayrols Kommentar zu dem KZ-Film Nacht und Nebel (1956) von Alain Resnais – ein Text, den man im Deutschunterricht lesen sollte.
Celans Prosa-Übersetzungen wurden weggelassen, sie hätten mehrere Bände gefüllt: etwa Lermontovs Ein Held unserer Zeit, zwei Krimis von Simenon, Essays oder E.M. Ciorans Lehre vom Zerfall (neuaufgelegt bei Klett-Cotta, 1979).
Eine Bibliographie belegt eindrucksvoll Celans Übersetzer-Fleiß. Dank den Herausgebern! Vor allem auch dafür, daß sie jedem übersetzten Text das fremdsprachige Original beigegeben haben. Welche Schwierigkeiten dabei zu überwinden waren, nicht nur urheberrechtliche, deutet ihr Nachwort an.
Band 4 enthält alle Übertragungen aus dem Französischen, Gedichte von Gérard de Neval (gestorben 1855) bis zu Jean Daive (geboren 1941) – mehr als hundertsechzig Gedichte – Einzelstücke wie Paul Valéry „Die junge Parze“, aber auch Zyklen von André du Boucnet, Jules Supervielle oder Jacques Dupin. Hier werden Wahlverwandtschaften erkennbar – aber das gilt ebenso für Celans Nachdichtungen russischer Lyriker, mit denen Band 5 beginnt: Alexander Block, Mandelstam (dessen Gedächtnis Celan die Niemandsrose widmete), Jessenin und Jewtuschenko („Babij Jar“). Ferner einundzwanzig Sonette von Shakespeare, zehn Gedichte der seltener übersetzten Emily Dickinson (1830-86), einzelne Texte von Robert Frost, Marianne Moore und anderen Angelsachsen. Die italienische Poesie ist durch Giuseppe Ungaretti vertreten: einundsechzig Gedichte, darunter drei, die auch Ingeborg Bachmann übersetzte. An den portugiesischen Versen von Fernando Pessoa (1888–1935) hat E. Roditi mitgearbeitet.
Aus dem Hebräischen hat Celan nur fünf Gedichte von Davis Rokeah nachgedichtet; sie beruhen, wie fast alle bei uns bekannten Übertragungen Rokeahs auf dessen eigener Rohübersetzung – sehr eindrückliche Texte, schade, daß es nur fünf sind. Man hätte glauben wollen, daß sich Celan dem Hebräischen stärker verpflichtete. (Erst wenige Monate vor seinem Tod besuchte er Israel, 1969.)
Die Sammlung des Übertragungswerkes, zweisprachig, dürfte der Hauptgewinn dieser Ausgabe sein. Celan selbst fand seine Übersetzungsleistung unterbewertet – zu Recht. Noch heute ist kaum geklärt, in welchem Verhältnis hier Dichten und Nachdichten stehen. Fast immer hat Celan das fremde Gedicht seiner eigenen poetischen Sprechweise anverwandelt – der eigenen „heißerrungenen Manier“ (um es mit Georg Trakl zu benennen). Das schließt Übersetzer-Treue nicht aus, bewahrt aber den Text vor einer medialen Gleichgültigkeit der ihm zugewiesenen fremden Sprache. Erst durch das selbstbewußte Mitsprechen der Übersetzersprache werden die übertragenen Texte noch einmal Gedichte.
Wie man künftig (durch die HKA) die subjektive Folgerichtigkeit der Celanschen Schreibart aus der Genese seiner Gedichte wird besser verstehen lernen, so wird die Verfügbarkeit seiner „Manier“ erst beim Vergleich der Übersetzungen mit den fremdsprachigen Originalen erkennbar. Beides gehört zusammen. Erst dann wird auch nach dem Grenzverlauf zwischen „heißerrungener Manier“ und Manierismus gefragt werden können.
Celans Lebenswerk – diese epochale Trauerarbeit eines europäischen Juden im Medium des deutschen Gedichtes – hat seinen vollen Beunruhigungswert, seine volle Kenntlichkeit noch längst nicht erreicht. Wenn die Universität Haifa gerade ein Symposium über Paul Celan vorbereitet und wenn die israelischen Initiatoren auch an die Gründung einer Internationalen Gesellschaft denken, so sind solche Absichten sehr zu begrüßen – nicht um irgendeiner Betriebsamkeit willen, sondern der „Wahrheitszwänge, der Selbstevidenz und der weltoffenen Einmaligkeit großer Poesie“ wegen (Band III, Seite 203).
Hermann Burger: Paul Celans Bilder wissen mehr: Seine Gesammelten Werke in fünf Bänden
Frankfurter Allgemeine Zeitung. 10.12.1983
Peter Horst Neumann: Fünf Bände, zu spät und zu früh: Die erste Gesamtausgabe der Werke des Dichters Paul Celan
Die Zeit, Nr. 10. 2.3.1984
Jürgen P. Wallmann: Gedichte sind wie eine Flaschenpost. Paul Celans gesammelte Werke bei Suhrkamp
Rheinische Post, 22.2.1984
Das lyrische Œuvre Paul Celans, soweit es bis dahin der Öffentlichkeit zugänglich war, ist nach dem Tode des Dichters im Frühjahr 1970 durch die maßgebende Literaturkritik einhellig als eines der bedeutendsten der deutschen Nachkriegsliteratur bezeichnet worden. Schon früh hat auch die wissenschaftliche Germanistik der Lyrik Celans ihr besonderes Interesse zugewandt. Bereits 1959 ist die erste ausschließlich Celan gewidmete Dissertation entstanden. Neben dem unbestrittenen Rang des Werkes hat offenbar die im Sinne der Tradition des europäischen Symbolismus ,hermetische‘ Struktur der Celanschen Lyrik die Kritik und Wissenschaft zu besonders intensiver Auseinandersetzung angespornt. Zugleich ist sichtbar, daß diese Auseinandersetzung noch lange nicht abgeschlossen sein wird. Wichtige methodologische Gesichtspunkte sind exponiert, aber aus verständlichen Gründen noch nicht mit der letzten Konsequenz und Vollständigkeit durchgeführt worden.
Seit der Publikation von Schneepart im Frühjahr 1971 liegt das lyrische Œuvre Celans, soweit es vom Autor selbst veröffentlicht oder zur Veröffentlichung vorbereitet wurde, in insgesamt acht (resp. mit dem vom Autor zurückgezogenen Gedichtband von 1948, Der Sand aus den Urnen, neun) Einzelbänden der Öffentlichkeit vor. Späteste Gedichte sind versammelt im Band Zeitgehöft (1976), einer eigentlichen Nachlaßpublikation.1 Hinzu kommen die zahlreichen Übertragungen Celans aus dem Russischen, Englischen, Italienischen, Französischen, Hebräischen, Portugiesischen und Rumänischen, die teils in Periodica und Anthologien, teils auch in selbständigen Einzelbänden erschienen sind. Celan hat ausdrücklich gewünscht, daß diese Übertragungen, die nicht immer die ihnen gebührende Beachtung gefunden haben, in einem Sammelband zusammengefaßt würden. Vorbereitungen dazu waren zum Zeitpunkt seines Todes bereits in die Wege geleitet.2
Im Gegensatz zu den Übertragungen haben Celans wenige Prosatexte, meist poetologisch-theoretischer Natur, breitere Aufmerksamkeit bei Kritik und Forschung gefunden und sich dabei als höchst wertvolle Hilfen für das Verständnis der Lyrik erwiesen.
Indes läßt sich nicht sagen, Celans Werk liege nun abschließend vor. Mit einer vollständigen, von Überlieferungsfehlern (gesetzt, diese seien einfach zu registrieren) gereinigten Präsentation des von Celan selbst unmittelbar zur Veröffentlichung bestimmten Teiles seines Werks, evtl. auch von Teilen seines Nachlasses, die eine bestimmte Publikationsreife aufzuweisen scheinen – mit einer solchen ,Werkausgabe‘ wäre doch nur ein erster Schritt in Richtung auf die Erschließung seines Gesamtwerks getan.
Der Zustand des literarischen Nachlasses in Paris läßt vermuten, daß Celan viel daran gelegen war, die künftige philologische Analyse der Genesis seiner Gedichte zu erleichtern. Tatsächlich wird durch den hermetischen Charakter der Celanschen Dichtung die Einsicht in die Entstehung der einzelnen Gedichte zum absoluten Desiderat. Bereits die publizierten Endfassungen dieser Gedichte lassen erkennen, daß ihnen ein komplexer und poetologisch noch über das Werk Celans hinaus für die Analyse moderner Lyrik signifikanter Transformationsprozeß vorausgegangen sein muß. Ihn anhand der im Nachlaß vorliegenden und vom Autor mit großer Sorgfalt aufbewahrten Vor- und Zwischenstufen konkret faßbar zu machen, muß ein ganz vordringliches Interesse der Celan-Forschung sein. Wenn in irgendeinem, so hat in diesem Fall das Prinzip einer historisch-kritischen Gesamtausgabe von den Erfordernissen der Forschung her seine unbedingte Legitimation. Daß unmittelbar nach dem Tode des Dichters eine solche Ausgabe in Angriff genommen wurde, bedarf angesichts des skizzierten Sachverhalts keiner speziellen Begründung mehr.
In einer Niederschrift vom 15. Dezember 1967, die den Charakter einer letztwilligen Verfügung hat, sagt Celan abschließend:
Je souhaite qu’une édition de mes poèmes et de mes traductions de poésie anglaise, russe, française paraisse aux Editions Suhrkamp et je prie Beda Allemann d’y apporter son aide et son savoir.
Es war dem verständnisvollen Entgegenkommen der Erben wie des Verlegers zu verdanken, daß ein Einverständnis über den Plan einer historisch-kritischen Celan-Ausgabe erreicht werden konnte. Seit 1972 wird diese mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft vorbereitet.3
Bei den editorischen Vorarbeiten war besonders dafür Sorge zu tragen, den literarischen Nachlaß in dem von Celan hinterlassenen geschlossenen Zustand zu erfassen, wie er – von den Jugendgedichten abgesehen – gegenwärtig verfügbar ist. Die Ausgabe soll grundsätzlich alle vom Autor selbst veröffentlichten oder zur Veröffentlichung bestimmten bzw. von der Veröffentlichung nicht ausdrücklich ausgeschlossenen Texte umfassen, dazu, soweit eruierbar, sämtliche Vorstufen zu diesen Texten.
Vorbild für die textkritische Edition ist das Verfahren Hans Zellers, wie es in den von ihm besorgten Bänden der historisch-kritischen C.F. Meyer-Ausgabe verwirklicht ist. In Auseinandersetzung mit anderen Ausgaben, vor allem der Großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe und der historisch-kritischen Trakl-Ausgabe, war für die Celan-Ausgabe ein den besonderen Verhältnissen des Nachlasses angepaßtes Verfahren zu entwickeln.
Der Kommentar der Ausgabe soll in Form von knapp formulierten Einzelbemerkungen Worterklärungen, Zitatnachweise und Literaturverweise enthalten.
Eine besondere Problematik ist mit den vom Autor ausdrücklich von jeder Veröffentlichung ausgeschlossenen Texten (vor allem Gedichten aus späterer Zeit) verbunden, die im Nachlaß überliefert sind. Sie werden vorderhand in die philologische Aufbereitungsarbeit einbezogen, ohne daß damit über ihre Veröffentlichung entschieden wäre.
Die Einbeziehung sämtlicher Briefe Celans in die Ausgabe erscheint wegen des oft sehr privaten und lebende Personen betreffenden Inhalts vorerst nicht möglich. Direkt auf das Werk bezügliche Stellen können jedoch im Rahmen des Kommentars verwertet und auszugsweise publiziert werden.
Ähnliches gilt für die tagebuchartigen Aufzeichnungen, die im Nachlaß enthalten sind. Sie sind nach dem Willen der Erben nur dem Hauptherausgeber zugänglich, der zuhanden seiner Mitarbeiter Auszüge erstellt, die ausschließlich für die Edition relevante Fakten (Datierungen, unmittelbar auf das Werk bezügliche Reflexionen etc.) umfassen.
Nach dem derzeitigen Stand der Planung gliedert sich die Celan-Ausgabe in zwei Abteilungen, deren erste die Gedichte und Prosatexte samt Apparatbänden, und deren zweite Abteilung die Übertragungen samt Apparatbänden umfassen wird.
Für die erste Abteilung ist folgende Bandeinteilung vorgesehen:
– Band 1: Die acht Gedichtsammlungen von Mohn und Gedächtnis bis Schneepart in der Anordnung der Einzeldrucke.
– Band 2: Der Sand aus den Urnen. Verstreut gedruckte und nachgelassene Gedichte. Prosatexte und Reden.
– Band 3: Bericht des Herausgebers. Apparat zu Band 1 (Mohn und Gedächtnis bis Fadensonnen).
– Band 4: Apparat zu Band 1 (Lichtzwang und Schneepart); Apparat zu Band 2.
Der Apparat der Celan-Ausgabe soll als fotomechanisch reproduziertes Typoskript hergestellt werden. Mit diesem Verfahren können der schwierige Satz, kostspielige Druckverfahren, zeitraubende Korrekturarbeiten und daraus resultierende Fehlerquellen bisheriger Ausgaben vermieden werden.
Nachtrag 1984
Bald nach Erscheinen der vorstehenden Bemerkungen haben sich die personellen Voraussetzungen der kritischen Celan-Ausgabe durch den Fortfall der zweiten Mitarbeiterstelle nicht unerheblich verändert.
Die vorgesehene Bandeinteilung wurde inzwischen wie folgt modifiziert:
– Band 1,1 Gedichte I: Mohn und Gedächtnis bis Die Niemandsrose, Text
– Band 1,2 Apparat
– Band 2,1 Gedichte II: Atemwende bis Schneepart, Text
– Band 2,2 Apparat
– Band 3,1 Der Sand aus den Urnen; Eingedunkelt; Zeitgehöft; verstreut gedruckte und nachgelassene Gedichte in chronologischer Folge; Prosa; Reden; Text
– Band 3,2 Apparat
Aus technischen Gründen, besonders im Hinblick auf Schwierigkeiten bei der Beschaffung im Ausland befindlicher Nachlaßmaterialien im Bereich der frühen Gedichte, wurde die Publikationsvorbereitung für den 2. Doppelband (Gedichte von Atemwende bis Schneepart) vorweggenommen. Die Herstellung der Druckvorlage für diesen Doppelband steht vor ihrem Abschluß.
Inzwischen ist Ende 1983 bei Suhrkamp die fünfbändige Leseausgabe von Celans Gesammelten Werken erschienen, die außer den Gedichten und den von Celan selbst autorisierten Prosatexten auch erstmals die Gesamtheit der von ihm in sehr verschiedenen Zusammenhängen und an heute z.T. schwer zugänglichen Stellen veröffentlichten Übertragungen von Gedichten und poetischer Prosa aus fremden Sprachen enthält (Bde 4 und 5). Damit ist ein noch vom Autor selbst stammendes Desiderat eingelöst.
Nachdem seit 1977 von den zuständigen Gremien der Deutschen Forschungsgemeinschaft keine Mittel für einen speziellen Mitarbeiter zur Weiterführung der bereits in die Wege geleiteten Vorbereitungen zu einem Materialienband, der die unerläßliche Kommentierung der kritischen Ausgabe aufnehmen soll, mehr bewilligt worden sind und die entsprechenden Arbeiten dementsprechend ins Stocken geraten mußten – wie übrigens auch die textkritische Tätigkeit des mit der Ausarbeitung des genetischen Apparates betrauten Mitarbeiters dadurch beeinträchtigt wurde –, hat sich in einem Kreis beratender Editions- und Celan-Spezialisten nun die Einsicht durchgesetzt, daß ohne energische Förderung auch dieser Seite der kritischen Ausgabe die mit Recht in sie gesetzten Erwartungen der Celan-Forschung nicht erfüllt werden können. Dieses Expertengremium soll sich künftig als Beirat der Ausgabe konstituieren, und ein für die Kommentierung verantwortlicher Mitherausgeber soll gewonnen werden.
Es ergeht in diesem Zusammenhang erneut die dringende Bitte an alle Besitzer von Celan-Dokumenten und Detailinformationen, die der Kommentierung dienlich sein können, der Celan-Arbeitsstelle beim Germanistischen Seminar der Universität Bonn (Am Hof 1d, 5300 Bonn 1) davon Mitteilung zu machen.
Man wird bei alledem von der historisch-kritischen Ausgabe nicht erwarten dürfen, daß sie alle Schwierigkeiten des Celan-Verständnisses mit einem Schlag behebt. Das gilt sowohl für den genetischen Apparat, der seinerseits eine neue Interpretationsanstrengung vom Benutzer verlangen wird, wie auch für die vorgesehene Kommentierung. Weder die Entstehungsvarianten eines Gedichts oder Prosa-Textes, die der textkritische Apparat zur Darstellung bringt, soweit sie im Nachlaß erhalten sind, noch die kommentierende Sacherläuterung der faktenmäßigen Voraussetzungen, die einer Dichtung zugrunde liegen, können als solche und gleichsam automatisch den Schlüssel für das Verständnis liefern. Die Literaturwissenschaft und die Celan-Forschung im speziellen werden mit dem Erscheinen der historisch-kritischen Ausgabe neue Problemstellungen zugewiesen erhalten. Man wird von der immer noch anzutreffenden Auffassung abzurücken haben, Celan lesen und verstehen bedeute vor allem bloße Decodierung eines als schwierig bekannten poetischen Wortlauts, den manche als „hermetisch“ zu bezeichnen nicht müde werden. Celan selbst war bekanntlich anderer Ansicht. Es bedarf im Zusammenhang mit seinem Werk nicht so sehr der Entschlüsselung und der Rückübersetzung in eine konventionellere und deshalb scheinbar verständlichere, sondern vielmehr der Einarbeitung in eine andere Sprache.
Vorderhand besteht nun begründete Hoffnung auf einen zügigen Fortgang der Vorbereitungsarbeiten, wie er beim bisherigen Personalbestand der Bonner Arbeitsstelle nicht zu leisten war.
Beda Allemann und Rolf Bücher, in TEXT+KRITIK, Paul Celan – Heft 53/54, Zweite, erweiterte Auflage, edition text + kritik, 1984
Für jeden, besonders jeden, der Gedichte schreibt, ist es aufwühlend, sich der Dichtung Celans, wenn auch nur in Übersetzung oder partiell und fragmentarisch, zu nähern. Ist sie doch Realisierung eines scheinbar Unmöglichen: nicht nur nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sondern zu schreiben „innerhalb“ dieser Asche, zu einer anderen Dichtung zu gelangen, indem man die absolute Auslöschung bezwingt, in gewisser Weise jedoch „in“ dieser Vernichtung verbleibt. Celan durchquert die untergegangenen Räume mit einer Kraft, Härte und Sanftheit, die man unvergleichlich nennen kann: im Durchschreiten hemmender Unmöglichkeiten brachte er eine überwältigende Fülle von Schöpfungen hervor, die auch außerhalb Europas einen entscheidenden Einfluß auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts ausübten, letztlich aber im doppelten Sinne exklusiv, gestirnhaft unnahbar und aller Imitation unzugänglich bleiben. Jede Hermeneutik gerät durch seine Gedichte in eine Krise, auch wenn diese Poesie die hermeneutische Auseinandersetzung erwartet, ja geradezu erzwingt.
Celan war sich im übrigen stets bewußt, daß seine Sprache, je weiter sie voranschritt, um so mehr dazu bestimmt war, nicht mehr zu „bedeuten“: der Mensch hatte für ihn bereits aufgehört zu existieren. Selbst wenn in seinen Texten die Sehnsucht nach einer anders verlaufenden Geschichte aufzuckt, erscheint sie ihm als Fortschreiten einer grausamen und unersättlichen Negation. Seine Sprache weiß, daß sie dem Abdriften in die Destrukturierung nichts entgegenstellen darf, um sich zu verwandeln, um das sprachliche Zeichen zu wechseln. Gleichzeitig aber muß Sprache die Geschichte, und nicht nur sie, „umkehren“, muß sie, obwohl durch diese Welt bedingt, „transzendieren“, indem sie wenigstens ihre grausigen Defizite aufzeigt.
Wenn Poesie immer auch Konstruktion, Komposition ist, selbst noch in dieser von ihr durchdrungenen und sie zugleich völlig negierenden Endwelt, kann die auseinanderstrebende Flucht der Geschichte vor dem Sinn nunmehr weder direkt noch indirekt gestützt oder ausgedrückt werden. Celan äußert sich demnach in einem System von Formen, besser gesagt einem Formen-Beben, im wachen Bewußtsein, sich auf das Verstummen zuzubewegen, wie er selbst zugab. Dieses Verstummen, unterschieden vom Schweigen, das auch eine Form der Verwirklichung sein kann, verhüllt und offenbart gleichzeitig eine Art „Kräftemessen“, bei welchem eine zerstörerische Kraft sich unendlich langsam, aber unerbittlich durchsetzt. Oder vielmehr durchsetzen müßte: Denn eben dies, im Verstummen zu scheitern und entlang dieses selben Diskurses zu einer Art höchster Trunkenheit im Entdecken getrieben zu sein, bildet jenes Paradox, in dem Celan sich sprachlich mitteilt.
Er dringt in Räume eines Sprechens ein, das immer knapper, zugleich ungeheuer dicht wird, wie eine „Singularität“ in der Physik. Er macht Wörter gerinnen und zerlegt sie, schafft zahlreiche geflügelte Neologismen, untergräbt die Syntax, ohne ihre mögliche grundsätzliche Berechtigung aufzuheben; er treibt das eigene, d.h. das deutsche, Sprachsystem bis zum äußersten, wobei er sich gleichzeitig stets bewußt bleibt, daß seine wunderbaren Entwürfe, diese unglaublichen „Fugen“ und „Engführungen“ entlang musikalischer wie nichtmusikalischer Skalen, seine Geologien und plötzlich demontierten doppelten Böden zu etwas führen, das weder ein unergründlich Transsprachliches noch eine Rückkehr an den Ort des Ursprungs darstellt. Dennoch mischt sich in jede sprachliche Bewegung Celans etwas Definitives Lapidares, also Steinernes, aber wie Grabstein, der Metapher zu sein vermag für verfehlte Ewigkeit wie für einen Tod, der stets „unberuhigt“ ungerächt bleibt. Also weder heilbringende Geburt noch Heimkehr und auch keine noch so heiß ersehnte „Heimat“, vor allem nicht im Geist ausgeprägter kultureller Bezüge, sei es entlang einer Linie der deutschen Tradition, die von Hölderlin zu Trakl führt, sei es im Bezug auf ein zutiefst jüdisches Element, das fortschreitend angenommen und in seinem ganzen außergewöhnlichen und grausamen Schicksal erlitten wird. Celans Schicksal kann in jedem Augenblick ein zwangsläufig heiliges Aktionsdrama („heilig“ i.S. des lateinischen sacer) genannt werden, in dem der Fluch sich mit den Segnungen jedes poetischen und menschlichen inventum durchdringt. Gerade die Negierung des Sakralen, das in einer Atmosphäre der Vernichtung dennoch erhalten bliebe, war für ihn immer ein Heiliges und Gebieterisches, Bedrohliches und Hinreißendes, Blendendes und Hypnotisches. Sie war die vollkommene Hinnahme eines Schicksals in eben jenem Augenblick, da jegliche Bedeutung (sogar die dieses Begriffes) zunichte wurde. Auf dem Papier blieben die Spuren einer extremen übermenschlichen Anstrengung und einer außergewöhnlichen Gabe, in obsessiver Selbstfrustration zu lieben und zu schaffen, die gleichwohl äußerst fruchtbar war und zeitlich in eine Folge von Wenden gegliedert werden kann, in einen schillernden Strahlenkranz aus Surrealität/Irrealität/Subrealität, erlittener Gewalt, die sich auf jeder Seite, in den Stigmata seiner furchtbaren Bilderrätsel ablagerte wie Überreste eines unaussprechlichen Massakers.
Andere Möglichkeiten, andere Verhaltensweisen gegenüber gleichartigen Problemen und Situationen sind denkbar, wenn auch nicht gerade in jenen extremen Formen, wie sie die zahlreichen, engagierten Experimentatoren unserer Zeit durchgespielt haben. Deren Prämisse bestand darin, sich Erfahrungen ähnlich jenen Celans, die wie in einer Art Sphäre eingeschlossen waren, zu nähern, indem man sie von außen untersuchte, aufbrach und profanierte in der Gegenüberstellung mit psychischen und vor allem ihnen zutiefst wesensfremden Codes aus dem heutigen Wissens-(bzw. Nichtwissens-)stand. In allen Fällen ging es darum, diese Art „Welt“ von außen zu zerlegen, anzugreifen, um damit auch die extremsten Möglichkeiten auszuschöpfen, welche ein neues Verhältnis zwischen Geschichte und Dichterwort herstellen können. Für Celan blieb dies ein Problem, das sich ihm immer von neuem stellte und dessen er sich vollkommen bewußt war, wodurch er sich aber auch insgeheim behindert fühlen mußte, trotz seiner Meisterschaft in der Handhabung der Sprache und seiner Fähigkeit zu glühenden Symbiosen mit anderen Welten der Dichtung und der Erfahrung (man denke nur an seine schöpferische und herausgehobene Beziehung zur Gestalt „Mandelstamm“). Wenn sich auch sein ganzes Schaffen in engem Kontakt mit den verschiedensten Formen des Experimentellen, selbst des profanierendsten entwickelte – von Paris als gewählter Lebenswelt noch gefördert –, fand er seine einzige Wohnstatt in der Treue zu einem WORT, das für ihn in der deutschen Mutter- und Mördersprache Gestalt annahm.
Sein Auge und seine besitzergreifenden Sinne, seine stoß- und stufenweisen Texte, deren Poesie „sich nicht mehr aufdrängt, sondern sich aussetzt“ (wie er selbst sagte), seine mexikanischen Opfermesser aus Stein, seine gleichzeitige Nachgiebigkeit wie Angriffslust gegenüber der Sprache, noch seine exzessivsten und verstörendsten Manöver bleiben stets dazu verurteilt, in eine „erhabene“ Identität zu münden, wobei erhaben gleich leer, erhaben, weil nichtig bedeutet. Er hält sich dabei stets im Schattenkegel eines „Vertikalismus“, wie „im Angesicht von…“, im Unterschied zu dem, was etwa anderen widerfahren sein mochte. Aber welche Stellung man ihm auch einräumen mag – keiner ist ihm in unserer Epoche der Dichtung gleichzusetzen. Es dürfte kaum möglich sein, ihm auf den vieltausend Stationen seines Kalvarienberges zu folgen, die in unzählige Verführungen, in aufleuchtende Wälder, in beißende Eisballungen, in verformende Gegenständlichkeiten, in mehrdeutige Pflanzlichkeiten, in eine verstummenmachende Geschichte ausbrechen und gleichzeitig in parallele Aussagen, in vernichtende Xenoglossien.
Seine beharrliche Kraft jedoch bündelt alle Ausbrüche wieder um den vertikalen Nicht-Kern, weil jenes eine, das Celan nie verläßt, die Gewalt einer Liebe hat, die gerade deshalb immer absoluter wird, weil immer mehr „ohne Gegenstand“. Celan konnte sich aus dieser übermächtigen und erschreckend ein-seitigen Anschauungsweise nicht lösen, um eine andere zu übernehmen, die ihm als doppeltes Spiel erscheinen mußte. Er konnte sich nicht zu einer Erhabenheit überwinden (selbst wenn es des Versuchs wert gewesen wäre), einer oft geleugneten Erhabenheit, die sich in der erwähnten „hölderlinschen“, jüdischen oder sogar chassidischen Tradition wiederfindet, bis hin zur Banalisierung in der Wirklichkeit; selbst wenn er sich von Anfang an „die“ Wirklichkeit zum Ziel gesetzt hatte bis zur äußersten Aufgabe seiner selbst.
Es genügte, was Celan angeht, den Worten von Nelly Sachs zu folgen: „Celan, gesegnet von Bach und Hölderlin, gesegnet von den Chassidim“, denn in ihnen liegt alles, was unser ganzes Jahrhundert zu Respekt und Dankbarkeit verpflichten sollte. Und die ihm auch einer hätte zollen müssen, der ihn begrub und der sich ihm gegenüber schuldig machte, obwohl er von Celan bewundert wurde und alle Voraussetzungen erfüllte, ihm auf der Höhe wissender Teilnahme nahe zu sein –, ihn begrub unter einer verstörenden Wechselhaftigkeit von Reden und Anschauungen, die ihn verletzte: Ich spreche von Heidegger. Über jenem Text Celans, betitelt nach Todtnauberg (den Gebirgsort, in den der Philosoph sich zurückzuziehen pflegte), wohin Celan 1967 aufbrach mit „einer Hoffnung (…) / auf eines Denkenden / kommendes / Wort / im Herzen“, lastet das Gefühl einer endgültigen Enttäuschung. Auch wenn wenig über dieses Gespräch bekannt ist, bei dem es vermutlich um die zentralen Probleme von Dichtung ging, mußte Celan doch hoffen, daß der Philosoph eine eindeutige Verurteilung des Genozids oder irgendeine Äußerung der Reue über sein Schweigen von sich geben würde. Aber nichts dergleichen geschah. Aus den wunderbaren, geheimnisvollen Worten des Gedichts tritt ein fast bis an die Grenzen des Autismus in sich verschlossener Heidegger hervor und ein Celan, der in eine quälende Unsicherheit geraten ist. Es bleibt das Gefühl einer Kluft, eines Mißtons und fast eines endgültigen Verrats, den eine ganze Kultur an diesem vertrauensvollen, unschuldigen Dichter begangen hatte, der in seinem Schreiben alles wagte, um sich jenseits der absoluten Verzweiflung zu stellen, ohne sie aber zugeben zu können; und der schließlich an ihr zugrunde ging. Es bleibt das Gefühl eines Bruchs im Herzen der deutschen Kultur, ja der Kultur ganz Europas, der fatalerweise auch heute noch, da sich ein neues Miteinander der Menschen abzeichnet, die nicht auszulöschenden Spuren eines Schattens wirft.
Andrea Zanzotto, Park, Heft 39/40, Juli 1991
(Aus dem Italienischen von Michael Speier und Cäcilie Glinz)
– Köln, Stadtpark, 21. Mai 1972. –
In den Jahren 1940/41 betätigte ich mich als Schauspielerin am Jüdischen Theater in Czernowitz, das im Morgenrojt-Haus spielte. Paul holte mich jeden Abend nach der Vorstellung ab, besuchte aber nur selten eine der Vorstellungen. Es war eine Kiewer russisch-jiddische Truppe. Man spielte vor allem Scholem Alejchem, Goldfaden, aber auch Übersetzungen russischer Autoren ins Jiddische.
[…]4
Zu dieser Zeit des Sprachenbabels in Czernowitz betonte Paul wiederholt die Selbstverständlichkeit, mit der er nur deutsch dichtete, auch wenn Russisch oder Rumänisch offiziell „verpflichteten“. Aber diese Sprachen waren für ihn nur „Randerscheinungen“…
Musik liebte Paul und hörte gerne klassische Konzerte, aber in der Russenzeit gab es kaum solche Darbietungen, außer den Schallplattenkonzerten im Hause Horowitz, an Sonntagvormittagen, wo Mozart, Schubert, Haydn und Mendelssohn gehört wurden. Ebenso gab es solche Konzerte bei Ippens, wo außer der Tochter Hella auch ihre Eltern immer dabei waren, bis alle 1941 von den Russen als „Kapitalisten“ nach Sibirien deportiert wurden, obwohl ihr Sohn seinerzeit in Spanien für die Republik gekämpft hatte…
Paul hatte ein gutes Gehör, aber keine eigentliche Gesangstimme. Trotzdem sang er richtig; am liebsten sang er Volkslieder in allen ihm bekannten Sprachen.
Sport betrieb Paul kaum. Er neigte sogar am Badestrand (Pruth) dazu, faul in der Sonne zu dösen, obwohl er ein guter Schwimmer war. Ich musste ihn dazu drängen! Er hatte überhaupt eine Scheu vor der Entkleidung am Badestrand.
Die froheste Zeit war wohl der Sommer 1940, also vor der großen Enttäuschung durch die Russen. Ich erinnere mich an Spazierfahrten im offenen Fiaker an späten Nachmittagen, durch den Herrengasse-Korso bis in den Volksgarten. Es war eine lustige Gesellschaft mit Paul. […]
Paul war ein gütiger Mensch, keineswegs hart, aber sehr anspruchsvoll. Er wollte „alles“ haben und war mit keinem Erfolg zufrieden. Er wollte das „Absolute“. Er war, trotz seiner Geselligkeit, mit der er alle hinreißen konnte, ein sehr egozentrischer Mensch, der wollte, dass alles um ihn kreise! Er schwankte oft in seiner Stimmung: von „himmelhoch jauchzend“ bis „zu Tode betrübt“. Er war ein Kind seines Sternbildes, des Schützen […], konsequent und seinen großen Lebenslinien treu. Er war nie kleinlich, besonders nicht in materiellen Angelegenheiten, die er verachtete, aber er war in solchen Kleinigkeiten auch nicht sehr verlässlich. Er gab nie ein entliehenes Buch zurück, aber konnte das wenige Geld, das man ihm als Notpfennig für die Zeit im Arbeitslager geschenkt hatte, für Blumen, die teuersten, die er auftreiben konnte, auslegen, um mir ein Abschiedsgeschenk vor seinem Abmarsch ins Lager zu bringen. Das Schlechte, das ihm angetan wurde, besonders in der Gestalt von persönlichen Angriffen, konnte er nie vergessen, es blieb immer gegenwärtig. In Gesellschaft konnte er sehr heiter und unterhaltsam sein; wenn aber die Gesellschaft ihn nicht interessierte oder die Schaffung eines Kontakts nicht gelang, dann schwieg er beharrlich. Er konnte, unter einem Baum stehend, ihn bewundern, seine Krone, […] Zweige und seine Bewegungen im Winde… Paul liebte die Pflanzen, Bäume und Blumen ganz besonders, aber nicht die Tiere. Doch hat er gelegentlich eine Katze gestreichelt.
Paul war sicherlich nicht ausgesprochen kinderlieb, aber er bedauerte es, keine Geschwister zu haben. Zu mir sagte er zuweilen:
Ich möchte auch dein Bruder sein.
Er war aber auch sehr eifersüchtig, was für ihn eine wahre Qual wurde. Die meisten seiner Gedichte aus der Zeit, da ich im Zentrum seines Lebens stand, waren eigentlich Eifersuchtsgedichte. […]
Rein äußerlich war Pauls besonderer Gang auffallend: Schritt um Schritt, wie tänzelnd, sich bei Spaziergängen zu Bäumen und Sträuchern hinneigend, da ein Blatt, dort eine Blume pflückend oder nur greifend, um sie zu betrachten. So wanderte er mit mir. Vor allem im Volksgarten in Czernowitz.
Seine Handschrift war ursprünglich sorgfältig, wie gestochen; später wurde sie einfacher und enger, wie sein Gedicht!
Der Tod war etwas Vertrautes für ihn, aber er liebte es, eher mit dem Gedanken an ihn zu spielen. So im Gedicht „Das Rotkehlchen“. Er war nicht grausam, und dieses Gedicht ist nicht in diesem Sinne aufzufassen. Sein Gebot an mich, Selbstmord zu begehen, das ich natürlich nicht ernst nehmen konnte, auch als der Fall eintrat, für den es vorgesehen war, nämlich die endgültige Trennung voneinander, dessen Übertretung er in der Widmung des Manuskripts im „schwarzen Büchlein“ bedauerte, war hingegen ernst gemeint. Das ist aus der Kompliziertheit seines Verhältnisses zu mir verständlich. Er fühlte sich seiner Männlichkeit nicht sicher, und seiner Liebe gab er nur durch die Poesie Ausdruck. Er hat nie um mich angehalten, hat nie den Versuch gemacht, eine physische Vereinigung herbeizuführen, obwohl er meine Vergangenheit, meine geschiedene erste Ehe und meine Erwartungen sicherlich kannte. Ich war oft zur Verzweiflung über die Ungewissheit seiner Absichten getrieben, denn das rein poetische und schöngeistige Verhältnis entsprach nicht meinen Wünschen. Ich hielt ihm oft vor, dass wir eigentlich nicht zusammengehören und dass unser Verhältnis keine Zukunft haben kann. Seine Reaktion darauf waren Eifersuchtsszenen. Obwohl er nie ein eigentliches Geständnis seiner Liebe gemacht und keine Heirat versprochen hatte, so spann er dennoch Träume von einem Kind, das er von mir haben mochte. Doch es blieb bloß beim Phantasieren… Er bemühte sich, ganz im Gegenteil, alles so einzurichten, dass ein eigentliches Liebesverhältnis zwischen uns nicht zustande kam. So, als er für sich ein Zimmer mieten musste, fand er kein anderes als das bei gemeinsamen Bekannten, wohin ich nicht als seine Geliebte hätte einziehen können. Es war sicherlich kein Zufall.
In Bukarest begann die Trinksucht ihn zu beherrschen. Dort begann auch ein etwas liederliches Leben mit verschiedenen Mädchen und Frauen, auch wenn sie alle geistig hochstehende Menschen, Literaten und Künstler waren. Es waren alles Frauen mit sexuellen Erfahrungen, die sich gerne und leicht anboten. Er nahm alles an, ohne jemals Liebe zu geben. Alles aus Verzweiflung über meine Heirat mit einem anderen. Von diesen Frauen liebte ihn manch eine, aber er war unfähig, diese Gefühle zu erwidern; es blieb bei rein physischen Abenteuern. Eine der Frauen, die um jene Zeit im Meer ertrunken war, betrauerte er sehr tief und lange.
Paul liebte auch das gute Essen, was damals sich bei Gelagen, bei Speise und Trank zeigte. Zu seinen Eigenschaften gehörte auch die Neigung zum Spiel. Schon am Anfang unserer Beziehung, als er meine Mutter besuchte, pflegte er ihr phantastische Geschichten als wahre Begebenheiten aufzutischen, die die alte Frau auch als solche hinnahm, bis er sie auf ihren Hereinfall aufmerksam machte. Auch in seinem Verhältnis zu mir war viel von einem Spiel oder von einer Zurschaustellung…
[…]
Ruth Kraft, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Israel Chalfen, Standort/Signatur A: Celan/Chalfen I, 90.64.2/15, Ts. Mit hs. Eintragungen, 5 S.
Hans Mayer: Erinnerung an Paul Celan, Merkur, Heft 272, Dezember 1970
WO FLEISCH IST
nach Paul Celan
Wo Fleisch ist,
ist Fressen für zwei.
Ein Knirschen von verträumten Eckzähnen
im Kotelett, dämmerndes Lächeln über der Jagdwurst.
Die weiße Mandelblüte der Gier
verweht im hetzenden Sprung.
Da erst gleitest du ganz hinab
in die Lust, die nur dein ist.
Frei schwingend im Blattwerk des schäumenden Sommers,
Rhododendronkelche.
Wo Fleisch ist,
ist Fressen für zwei.
Manfred Bieler
Paul Celan: Dichter ist, wer menschlich spricht. Ein Film von Ulrich H. Kasten und Hans-Dieter Schütt mit Eric Celan und Bertrand Badiou.
Gerhart Baumann hielt seinen Vortrag Paul Celan: Um-Wege zu sich und die offene Frage des Gedichts auf der Tagung Vom Sinn moderner Lyrik am 23. Januar 1971 im Haus der Katholischen Akademie in Freiburg.
Niemand zeugt für den Zeugen. 100 Jahre Paul Celan. Literarische Soirée am 30.9.2020 im Haus am Dom Limburg.
„wir wissen ja nicht, was gilt“ – Paul Celan zum 100. Geburtstag
Ein Abend zu Paul Celan am 18.5.2020 im Literaturhaus Berlin mit Hans-Peter Kunisch und Thomas Sparr. Es moderiert Eveline Goodman-Thau.
Paul Celan, Czernowitz & die „Todesfuge“. Helmut Böttiger berichtet.
Erreichbar, nah und unverloren. Reisen zu Paul Celan. Teil 1. Gespräch mit Helmut Böttiger.
Todesfuge – Biographie eines Gedichts. Alexander Suckel im Gespräch mit Thomas Sparr am 17.4.2020 im Literaturhaus Halle.
„Ästhetik und politische Dimension der Dichtung Paul Celans“. Mit Helmut Böttiger, Thomas Sparr und Monika Rinck; Moderation: Dieter Stolz am 23.11.2020 im Literaturforum im Brecht Haus.
Paul Celan in Europa – Videogespräch am 22.9.2020 im Rahmen der trilateralen Forschungskonferenzen 2020–2023 in der Villa Vigoni.
Paul Celan übersetzen – Gabriel Horatiu Decuble im Gespräch mit Ton Naaijkens und Alexandru Bulucz, Moderation Ernest Wichner am 6.11.2021 im Literaturhaus Halle im Rahmen der Tagung „Was setzt über, wenn Gedichte übersetzt werden“.
Clément Fradin, Julia Maas und Michael Woll stellen Paul Celans Bibliothek im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor.
„Die Todesfuge. Zur Biographie eines Gedichts im Archiv“ – Thomas Sparr im Gespräch mit Jan Bürger, Kai Uwe Peter und Michael Woll
Michael Woll stellt Paul Celans Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor. Im Mittelpunkt stehen dabei die Hölderlin-Bezüge in Celans Texten.
Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kehraus mit Celan
Zwischen „Grabschändern“ und „Linksnibelungen“. Wolfgang Emmerich im Gespräch mit Michael Braun über Paul Celans Verhältnis zu Deutschland und seinen deutschen Kritikern.
Carolin Callies, Ann Cotten, Daniela Danz, Aris Fioretos, Norbert Hummelt und Rainer René Mueller kommentieren Paul Celans Gedicht „Was es an Sternen bedarf“.
Paul Celan liest Gedichte in Jerusalem am 9.10.1969
Daniel Jurjew / Klaus Reichert: Paul Celan: Ich sehe seine Hellsichtigkeit, bei anderem denke ich einfach: er übertreibt
Frankfurter Rundschau, 19.4.2020
Gregor Dotzauer: Das Eigene und das Andere
Der Tagesspiegel, 19.4.2020
Susanne Ayoub: Es ist Zeit, dass es Zeit ist
Der Standart, 19.4.2020
Sandro Zanetti: Akute Dichtung: Celans Zumutungen
Geschichte der Gegenwart, 19.4.2020
Friederike Invernizzi: Sprechen zwischen Wunde und Narbe
Forschung & Lehre, 19.4.2020
Frank Trende: Die bewegende Geschichte der Todesfuge
shz.de, 19.4.2020
Dunja Welke: Paul Celan – Ein zerrissener Dichter
RBB, 18.4.2020
Stefan Lüddemann: Paul Celan, Dichter des Holocaust, starb vor 50 Jahren
Neue Osnabrücker Zeitung, 19.4.2020
Shmuel Thomas Huppert: Erinnerungen an Paul Celan
SR 2, 26.2.2020
Christoph Bartmann: Ein Riss, der nicht zu heilen war
Süddeutsche Zeitung, 20.4.2020
Christine Richard: Ein Leben, immer nahe am Untergang
Tages-Anzeiger, 20.4.2020
Anton Thuswaldner: „Die Welt ist gegen mich losgezogen“
Salzburger Nachrichten, 19.4.2020
Klaus Reichert im Gespräch mit Niels Beintker: Erinnerungen an Begegnungen und Gespräche mit Paul Celan
BR24, 20.4.2020
Rüdiger Görner: Asche atmen: Zu Paul Celan
Die Presse, 23.4.2020
Marko Martin: Paul Celan und die „Linksnibelungen“
Welt, 27.4.2020
Evelyne Polt-Heinzl: Paul Celan Ein Migrant in Wien
Die Furche, 8.4.2020
Andreas Wirthensohn: Todesklage für die Überlebenden
Wiener Zeitung, 21.11.2020
Klaus Demus: „Eine sehr große Freundschaft“
literaturoutdoors.com, 22.11.2020
Claus Löser: Fünf Filme für Paul Celan
Berliner Zeitung, 21.11.2020
Krisha Kops: Paul Celan: Dichter, Überlebender, Heimatloser
Deutsche Welle, 22.11.2020
Ulf Heise: Lyrik als Flaschenpost
Freie Presse, 22.11.2020
Susanne Ayoub: Paul Celan: Verlust der Heimat, Trauer um die Eltern
Der Standart, 22.11.2020
Wolf Scheller: Was nicht gesagt, nur angedeutet werden kann
Der Standart, 23.11.2020
Andreas Montag: Dichter Paul Celan – Der Schleier des Herbstes
Mitteldeutsche Zeitung, 23.11.2020
Andreas Müller: Paul Celan – zum 100. Geburtstag
Wiesbadener Kurier, 23.11.2020
Stefan Kister: Unter die Deutschen gefallen
Stuttgarter Zeitung, 22.11.2020
Paul Jandl: Vielleicht war Paul Celan einmal ganz er selbst. Da spielte er die Dürrenmatts beim Tischtennis in Grund und Boden
Neue Zürcher Zeitung, 23.11.2020
Sabine Glaubitz: Er schrieb das Unsagbare auf: Nachkriegsdichter Paul Celan wäre heute 100 Jahre alt geworden
stern, 23.11.2020
Volker Weidermann: Ein Grab in den Lüften
Der Spiegel, 20.11.2020
Jochen Hieber: Im Höhenrausch mit Ingeborg Bachmann
Der Spiegel, 23.11.2020
Stefan Brams: Interview mit Thomas Sparr – Paul Celan stiftet zur Erinnerung an
Neue Westfälische, 23.11.2020
Helmut Böttiger: Die graue Sprache
Süddeutsche Zeitung, 22.11.2020
Helmut Böttiger: Auf der Suche nach einer graueren Sprache
Jüdische Allgemeine, 21.11.2020
Albrecht Dümling: Die Todesfuge in Tönen
Deutschlandfunk Kultur, 20.11.2020
Nikolaus Halmer im Gespräch mit Barbara Wiedemann: Paul Celan: „Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen“
Die Furche, 11.11.2020
Harald Seubert: Lieder jenseits der Menschen und kodierte Zeit: Paul Celan (1920–1970). Zum Gedenken
youtube.com, 15.6.2020
Celebrating Paul Celan: An Evening with Pierre Joris and Paul Auster
youtube.com, 21.11.2020
Stadtführung „Auf den Spuren von Paul Celan“
youtube.com, 10.9.2020
Paul-Celan-Literaturtage 2020. Videopräsentation vom Paul Celan Literaturzentrum Czernowitz
Ausstellung Paul Celan 100 – Unter den Wörtern
Online-Begleitprogramm zur Ausstellung Paul Celan – Meine Gedichte sind meine Vita
West-östliche Konstellationen. Internationale Tagung als hybride Veranstaltung im Lyrik Kabinett, München, sowie online.
Tagungskonzeption und -organisation: Prof. Markus May und PD Dr. Erik Schilling (Institut für deutsche Philologie der LMU München)
8.–9.10.2020
Eröffnung
Ambivalente Topographien. Rilkes Dritte Duineser Elegie und Celans „Walliser Elegie“
„West-östliche“ Lesarten im Jahrhundert nach Celan
Das Schweigen über Brücken. Orte Celans bei Robert Schindel
Abendvortrag: Todesfuge. Biographie eines Gedichts
„Wortaufschüttung“. Materialität als Indexikalität bei Paul Celan
Betreten. Zum Anfang von Engführung
Celans Draußen. Über reale und sprachliche Räume in seiner Dichtung
„Stimmen vom Galgenbaum“. Celans west-östliches Rotwelsch
Paul Celans Todesfuge interpretiert von Diamanda Galas im Teatro Albeniz, Madrid, 15.10.2008.
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