POUR UN POÈTE MORT
Donnez-lui vite une fourmi,
Et si petite soit-elle,
Mais qu’elle soit bien à lui!
Il ne faut pas tromper un mort.
Donnez-la lui, ou bien le bec d’une hirondelle,
Un bout d’herbe, un bout de Paris,
Il n’a plus qu’un grand vide à lui
Et comprend encor mal son sort.
A choisir il vous donne en échange
Des cadeaux plus obscurs que la main ne peut prendre:
Un reflet qui couche sous la neige,
Ou l’envers du plus haut des nuages,
Le silence au milieu du tapage,
Ou l’étoile que rien ne protège.
Tout cela, il le nomme et le donne,
Lui qui est sans un chien ni personne.
Jules Supervielle
FÜR EINEN TOTEN DICHTER
Gebt ihm schnell eine Ameise,
mag sie auch noch so klein sein,
aber sein soll sie sein, sein eigen!
Einen Toten darf man nicht hintergehen.
Gebt sie ihm, oder sonst gebt ihm einen Schwalbenschnabel,
ein Hälmchen Gras, ein Steinchen Paris,
er besitzt nichts als eine große Leere um sich
und versteht sein Schicksal noch schlecht.
Die Gegengabe läßt er euch wählen,
Geschenke, dunkler als eine Hand sie entgegenzunehmen vermag:
Einen Lichtreflex, unter den Schnee gebettet,
oder die Rückseite der allerhöchsten Wolke,
Schweigen mitten im Klamauk,
den schutz- und schirmlosen Stern,
all das nennt und gibt her,
der keinen Hund noch sonst jemand hat: er.
Zu den Gesammelten Werken
Die hier vorgelegte Ausgabe der Werke Paul Celans vereinigt in fünf Bänden das lyrische Œuvre (Bde. 1–3), Prosa und Reden (Bd. 3) sowie die Übertragungen aus sieben Sprachen mit den zugrundeliegenden Originaltexten (Bde. 4 und 5). Es werden damit die bisher einzeln erschienenen Teile des Gesamtwerks versammelt, die Celan selbst für die Veröffentlichung bestimmt und deren Publikation er erlebt oder doch wenigstens noch vorbereitet hat. Eingeschlossen sind einige nachgelassene Werke – in den entsprechenden Bänden ist jeweils besonders auf sie verwiesen –, die eine bestimmte Publikationsreife erkennen lassen und daher im Einverständnis mit den Erben Celans nach seinem Tod veröffentlicht wurden.
Die Ausgabe soll den Zweck erfüllen, die bisher weit verstreut publizierten Werke Celans, darunter nicht mehr oder nur schwer Erreichbares, zusammenzuführen und damit allen Interessierten leichter zugänglich zu machen. Eine solche Wiedergabe der Werke im Zusammenhang dient nicht zuletzt der Möglichkeit, Beziehungen zwischen den einzelnen Werkkomplexen, vor allem zwischen der Lyrik und den Übertragungen, genauer zu erkennen oder überhaupt erst zu entdecken. Die Gesammelten Werke wollen und können keine Edition mit textkritischem Anspruch im engeren Sinn sein und stellen daher keinen Vorgriff auf die historisch-kritische Celan-Ausgabe dar, die ihre anderen und weitergespannten Ziele besitzt. Der Wortlaut der hier erscheinenden Texte folgt (bis auf einige jeweils im Nachwort angezeigte Ausnahmen) den Druckfassungen der Einzelpublikationen, die für die vorliegende Ausgabe mit dem Bemühen überprüft wurden, einen von Druckfehlern gereinigten Text vorzulegen.
Zu Band 4 und 5
Der vierte und fünfte Band der Gesammelten Werke enthalten, zusammen mit den jeweils zugrundeliegenden Originaltexten, sämtliche bisher einzeln publizierten Übertragungen poetischen Charakters ins Deutsche. Ausgeschlossen bleibt eine Reihe von Prosaübersetzungen aus dem Französischen und Amerikanischen, die eher als Gelegenheitsarbeiten zu betrachten sind (vgl. das gesonderte Verzeichnis im Anhang). Die Dichtung Décimale blanche (Weiße Dezimale) von Jean Daive, mit deren Übertragung Celan in den letzten Monaten seines Lebens beschäftigt war, wurde hier ebenfalls nicht aufgenommen, da keine druckfertige Version vorliegt. Celans handschriftliche Übertragung dieser Dichtung ist indes 1977 im Suhrkamp Verlag als Faksimiledruck veröffentlicht worden.
Die Sammlung der bisher nur in Einzelausgaben oder in Periodica verstreut, zum Teil an abgelegener Stelle, erschienenen Übertragungen entspricht Celans eigenem ausdrücklichen Wunsch, zu dessen Verwirklichung er selbst noch erste Anstalten getroffen hatte. Bis zuletzt und nicht ohne Grund war er der Ansicht, daß seine Übertragungen bei den Spezialisten des Metiers wie in der literarischen Öffentlichkeit nicht immer die gebührende Beachtung gefunden hätten. Daß die bereits seit einiger Zeit für die Bibliothek Suhrkamp angekündigte Sammlung der Übertragungen erst jetzt und an dieser Stelle publiziert wird, hat seinen Grund in rechtlichen Schwierigkeiten, die erst im Rahmen dieser Ausgabe der Gesammelten Werke befriedigend gelöst werden konnten. Abgesehen von ihrem Eigengewicht als Zeugnisse der lyrischen Formkraft Celans spiegeln die Übertragungen die für sein Gedichtwerk maßgebende europäische Tradition. Sie reicht von den Sonetten Shakespeares über die französischen Symbolisten Rimbaud und Valéry und über Apollinaire zu den großen russischen Lyrikern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Block, Chlebnikov, Mandelstamm, Jessenin, wie zu den französischen Zeitgenossen Supervielle, Michaux, Char und du Bouchet. Die angelsächsische Moderne ist durch mehrere Autoren von Rang vertreten, die italienische glanzvoll durch Ungaretti.
Die Vielzahl der übertragenen Autoren aus verschiedensten Sprachbereichen sowie die gattungsspezifische Unterschiedlichkeit der Texte (neben Lyrik im engeren Sinn und poetischer Prosa stehen Drama, Filmtext und lyrische Aufzeichnungen tagebuchartigen oder aphoristischen Charakters) brachte für die Anordnung der Übertragungen in den vorliegenden beiden Bänden gewisse Schwierigkeiten mit sich. Eine innerhalb der einzelnen Herkunftssprachen streng die Chronologie der Erstpublikationen einhaltende Gliederung hätte zwar den Fortgang von Celans Arbeit mit fremdsprachigen Texten über einen Zeitraum von zwanzig Jahren mit seinen Veränderungen sprachlicher Art unmittelbar zur Anschauung bringen können. Ein solches Ordnungsprinzip hätte anderseits in vielen Fällen die Übertragungen der Texte eines Autors auseinandergerissen und überdies den eigenen Brauch Celans unberücksichtigt lassen müssen, verstreut publizierte Übertragungen desselben Autors zu sammeln und, oft in überarbeiteter Form, in separaten Ausgaben zu veröffentlichen (Mandelstamm, Jessenin, Shakespeare, Supervielle).
Die vorliegende Ausgabe entscheidet sich deshalb für eine abgestufte Unterteilung nach erstens der Herkunftssprache der übertragenen Texte, zweitens ihrer Publikationsart (selbständige oder nichtselbständige Veröffentlichung) und drittens dem Zeitpunkt ihrer Erstpublikation. Allerdings werden in unterschiedliche Abteilungen fallende Übertragungen eines Autors grundsätzlich bei seinem ersten Vorkommen in chronologischer Reihenfolge vereinigt. Auf diese Weise sind zugleich Schwerpunkte gewonnen, die sich durch die jeweils gemeinsame Herkunft aus einer Kultursprache ergeben oder aber durch das unterschiedliche Gewicht, das Celan dem Werk der einzelnen Autoren beimaß.
So bilden allein die Übertragungen aus dem Französischen mit den entsprechenden Originaltexten den Inhalt des umfangreicheren vierten Bandes und machen deutlich, wie intensiv sich Celan mit der Literatur des Sprachbereichs auseinandersetzte, in dem er seit 1948 lebte. Bei den übrigen, ihrer Qualität nach nicht weniger bedeutenden Übertragungen aus weiteren sechs Sprachen im fünften Band richtet sich die Reihenfolge der Herkunftssprachen nach dem Umfang und der Anzahl der jeweiligen Übertragungen.
Der Entschluß, in diese Ausgabe zusätzlich die fremdsprachigen Originaltexte aufzunehmen, kam nicht ohne Bedenken zustande. Denn vorerst war es noch nicht in allen Fällen möglich, genau die Textversion zu eruieren, die Celans Übertragungen tatsächlich oder mit einiger Wahrscheinlichkeit zugrundeliegt. Unter Beachtung ihrer erst durch eine historisch-kritische Edition zu behebenden Vorläufigkeit werden die beiden Bände durch ihre jeweilige Gegenüberstellung von Originaltext und Übertragung gleichwohl dazu beitragen können, Celans Leistung als Übersetzer besser wahrzunehmen und genauer zu beurteilen.
Als Druckvorlage für mehrfach publizierte Übertragungen eines Textes wurde jeweils dann die letzte zu Celans Lebzeiten veröffentlichte Fassung benutzt, wenn diese sich von früher erschienenen durch mehr als Interpunktionsvarianten und geringfügige sprachliche Veränderungen unterscheidet, die möglicherweise nicht auf den Autor zurückgehen. Einige offensichtliche Druckfehler wurden verbessert. Die Konstitution eines philologisch exakten Textes kann auch im Fall der Übertragungen erst im Rahmen einer historisch-kritischen Ausgabe geleistet werden.
Die Druckvorlagen für die fremdsprachigen Texte in dieser Edition lassen sich zweierlei Kategorien zuordnen. Eine Anzahl von Übertragungen ist bereits zu Lebzeiten Celans zusammen mit den zugrundeliegenden Originaltexten publiziert worden. Diese Versionen der fremdsprachigen Texte werden hier den damaligen Veröffentlichungen folgend wiedergegeben, wobei offensichtliche Druckfehler ebenfalls verbessert wurden. Eine Tradierung von nicht eindeutigen Druck- und weiteren Textfehlern läßt sich dabei bis zur kritischen Aufarbeitung des gesamten Komplexes der Übertragungen nicht ausschließen. In allen anderen Fällen wurden als Druckvorlagen für die fremdsprachigen Texte je nach Erreichbarkeit Erstausgaben oder kritische Einzel- bzw. Gesamtausgaben benutzt. Dabei mußte für diese Edition in Kauf genommen werden, daß für einige Texte als Druckvorlage verläßlicher Art nur Ausgaben erreichbar waren, die ein späteres Erscheinungsdatum haben als die Erstpublikation der entsprechenden Übertragung Celans. Die bibliographischen Angaben zu allen Übertragungen (mit Kennzeichnung der Druckvorlagen für diese Ausgabe bei Mehrfachpublikationen) und zu den Druckvorlagen der fremdsprachigen Texte (mit Nachweis ihrer Erstveröffentlichung in Buchform) finden sich, wie auch der Nachweis der Abbildungen, jeweils in gesonderten Verzeichnissen im Anhang.
Im einzelnen muß noch darauf hingewiesen werden, daß die Übertragungen der Gedichte Chlebnikovs (mit einer Ausnahme), Arghezis und zweier der Gedichte von Rokeah, die sich alle in Band 5 finden, sowie in Band 4 die Übertragung des Kommentars von Cayrol zum Film Nuit et brouillard (Nacht und Nebel) erst nach Celans Tod zum erstenmal publiziert wurden. Im letzteren Fall stellt die Erstveröffentlichung eine redaktionelle Bearbeitung dar. Der Druck der Cayrol-Übertragung folgt deshalb einem handschriftlich überarbeiteten Typoskript Celans.
Zwei kurze Einführungstexte, die Celan seiner Block- und Mandelstamm-Übertragung bei deren Erstpublikationen beifügte, wurden in den Anhang zu Band 5 aufgenommen. In diesem Band richtet sich die Schreibweise der russischen Autorennamen nach der Form der Umschrift, die auch in den Einzelpublikationen der Übertragungen aus dem Russischen erscheint. Die Namen in wissenschaftlicher Transkription finden sich zusätzlich in der Bibliographie der fremdsprachigen Texte.
Am Zustandekommen des vierten und fünften Bandes haben durch Überlassung von Druckvorlagen, durch Mitteilung bibliographischer Angaben und durch sonstige Auskünfte einige Autoren selbst und andere Helfer in freundlicher Weise mitgewirkt. Der besondere Dank der Herausgeber und des Verlags gilt Jean Cayrol, Jean Daive, Anatole Dauman, André du Bouchet, Jacques Dupin, Jürg Janett, Winfried Menninghaus, Leonard M. Olschner, Oskar Pastior, Henri Pastoureau, Dierk Rodewald, David Rokeah und Daniel Würzburger.
Für die Überlassung der Rechte an den Übertragungen, die nicht bei den Erben Celans oder dem Suhrkamp bzw. Insel Verlag liegen, und für die Erlaubnis, die fremdsprachigen Originaltexte abzudrucken, danken Herausgeber und Verlag den jeweiligen Rechtsinhabern (die Copyright-Vermerke sind in die entsprechenden Bibliographien aufgenommen).
Beda Allemann Stefan Reichert, Januar 1983, Nachwort
– Eine schöne Edition, mit Mängeln: die erste Gesamtausgabe der Werke des Dichters Paul Celan. –
Dreizehn Jahre nach Paul Celans Tod fällt es nicht leicht, das Erscheinen seiner Gesammelten Werke nur mit Genugtuung zu begrüßen. Diese fünfbändige Ausgabe kommt zu spät und zu früh, wird aber ein paar Jahre lang unentbehrlich bleiben. Den Herausgebern ist zu danken – Beda Allemann, Stefan Reichert, assistiert von Rolf Bücher –, und auch dem Suhrkamp Verlag, der bei der Wahl seiner Editoren für Gesamtausgaben nicht immer eine so glückliche Hand bewies. (Auf die Revision des ersten Bandes der Günter-Eich-Ausgabe wartet man nach einem Jahrzehnt noch immer.)
Zu spät kommen diese Gesammelten Werke in fünf Bänden, weil sie bereits vor einigen Jahren möglich, erwünscht und nötig wären. 1975 erschien eine Sammelausgabe der Celanschen Lyrik in zwei Bänden der Bibliothek Suhrkamp. Sie war so gewissenhaft redigiert, daß sie jetzt völlig text- und seitengleich übernommen werden konnte (= Band 1 und 2).
Gewiß wäre es möglich gewesen, die Bände 3–5 ebenfalls so zu präsentieren; für Celans Übersetzungen war dies sogar angekündigt worden. Statt dessen muß man jetzt zum höheren Preis noch einmal kaufen, was man schon hat, und gewiß nicht zum letztenmal. Denn wer sich für Celans Werk ernsthaft interessiert, wartet längst auf eine andere, auf die Historisch-Kritische-Ausgabe (HKA). An ihr wird unter Beda Allemanns Leitung seit 1972 an der Universität Bonn gearbeitet; die Deutsche Forschungsgemeinschaft subventioniert sie, und auf ihrer Grundlage werden später noch einmal „Gesammelte Werke“ erscheinen müssen. Die heutige Ausgabe will „kein Vorgriff“ sein, doch kommt ihr die Identität der Herausgeber sehr zugute.
Übrigens waren die ersten Bände der HKA bereits für Ende der siebziger Jahre in Aussicht gestellt. Die jetzige Ausgabe enthält keinen modifizierenden Hinweis. Durch Nachfrage war zu erfahren, daß die Bonner Editoren die Druckvorlage eines Doppelbandes (Text und Apparat) im Frühjahr 1984 beim Verlag abliefern werden, so daß mit seiner Veröffentlichung vielleicht für Anfang 1985 zu rechnen ist. Dieser Doppelband soll die spätere Hälfte der Celanschen Dichtung enthalten, von Atemwende bis Schneepart. Der Textteil kann nur ein Reprint des Reprints der „Gesammelten Werke“ sein, der Apparat-Band aber wird die Entstehungsprozesse der späten Gedichte dokumentieren, er wird zeit-, lebens- und bildungsgeschichtliche Kommentierungen enthalten und Einblicke, in Celans Schaffensweise vermitteln – er dürfte das Bild des Dichters wesentlich verändern. Darauf ist man seit langem gefaßt, und deshalb – in Erwartung dir HKA – tritt auch die Celan-Forschung seit Jahren mit einiger Ungeduld auf der Stelle. Peter Szondi hatte, noch kurz vor seinem Ende das Gedicht „Eden“ mit einem Kommentar versehen und buchstäblich jede Wendung dieses besonders widerständigen Textes auf zeit- und lebensgeschichtliche Daten durchsichtig gemacht; es war der Kommentar eines Mitwissenden. Und 1972 durfte Rudolf Bücher – Privileg eines Bonner Celan-Editors – zehn stark differierende Fassungen des „Blume“-Gedichtes mitteilen, aus denen sich erkennen läßt, auf welch schwankendem Boden jede textinterne Auslegung bei Celan steht: Abbau der „Verständlichkeit“ durch Überlagerungen, Verdichtung, Verrätselung, so stellt sich der Entstehungsvorgang dieses Gedichtes dar. Seine biographische Inschrift ist lesbar geworden: das Wort „Blume“ im Spracherwerb des Sohnes Eric. Durch solche Einblicke sieht sich das Verstehenwollen auf den Nachvollzug der einzelnen Komprimierungsphasen verwiesen.
Es scheint, als müßten wir die Botschaft eines Celanschen Gedichtes nicht nur in seiner Endgestalt, sondern zugleich im Gesamtvorgang seiner Genese suchen: im Resultat die poetische Arbeit bedenken. Dann stünden die vielleicht wichtigsten Einblicke in das Wesen dieser Poesie erst noch bevor. Der Begriff des „Gedichtes“ wäre für Paul Celan zu erweitern – er müßte, auf Wirkung und Entstehung der Texte bezogen, entschieden prozessual gedacht werden. Der hermetische Charakter der Endgestalt bliebe zwar bestehen, der Affront ihrer Esoterik wäre unvermindert gegen die auf Denaturierung programmierte geschichtliche Welt gerichtet, aber dem Leser wäre die Tür geöffnet: Er könnte nun als ein Wissender an die Seite des Dichters in die Front seines Widerstandes treten.
Schon 1975 hatte Beda Allemann warnend darauf hingewiesen, daß man jene Kriterien erst noch werde entwickeln müssen, „die eine reflektierte Aufnahme der zweiten und, wenn eine Steigerung möglich war, bedeutenderen Hälfte von Celans lyrischem Lebenswerk erst möglich machen…“ Das Erscheinungsbild Paul Celans wird also nächstens noch an Schärfe gewinnen.
Diese Veränderung ist schon im Gange, und sie betrifft auch das Frühwerk, das nun allmählich aus der Verschwiegenheit auftaucht, in die es Celan versenkt hatte. So weiß man aus Israel Chalfens Biographie von einer handschriftlichen Gedicht-Sammlung aus dem Besitz von Ruth Lackner. Etliche Texte – Verse, aber auch Prosatexte in deutscher und rumänischer Sprache – wurden inzwischen teils durch Zitationen, teils durch unautorisierte Drucke post mortem bekannt. Von ihrer vollständigen Veröffentlichung ist mehr als nur eine Ergänzung des Gesamtwerks zu erwarten: sie werden die Konsequenz zu erkennen geben, mit der sich dieses einzigartige jüdische Lebenswerk – geschrieben in der Sprache der Mutter und der Muttermörder – entwickelte.
Leider steht keiner dieser frühen Texte in der jetzigen Gesamtausgabe. Man könnte es vielleicht verstehen, denn sie sind ja nicht „autorisiert“. Aber gilt nicht das gleiche auch für die Gedichte der Sammlung Der Sand aus den Urnen, die Celan 1948, sofort nach dem Druck, zurückzog? Sie wurden nach Celans Handexemplar redigiert und stehen nun, dankenswerterweise, im 3. Band. Ebenso die Nachlaß-Veröffentlichung Zeitgehöft, Celans späteste Verse. Leider teilen uns die Herausgeber nichts über den Charakter der Handschrift mit. Aus der Faksimile-Ausgabe der gleichfalls postum veröffentlichten „Schneepart“-Gedichte kennt man die Entstehungsdaten für jeden Text. Beim Druck pflegte Celan solche Datierungen zwar zu streichen, wenn dies nun aber statt seiner die Herausgeber besorgen, so ist dies doch wohl ein nicht autorisierter Eingriff in ein nicht autorisiertes Manuskript.
Zu früh erscheint diese späte Gesamtausgabe deshalb, weil sie als Lese-Ausgabe zur HKA eben doch nicht in Betracht kommt. Die Herausgeber betonen dies, aber es rechtfertigt sicher nicht das Weglassen einiger Texte. So schrieb Celan für Roben Neumanns Anthologie 34 x Erste Liebe (1966) einen launig-ironischen Beitrag, der ein interessantes Unikum in seinem Œuvre darstellt: „Die Wahrheit, die Laubfrösche, die Schriftsteller und die Klapperstörche“. Schon aus der Neuauflage als Goldmann-Taschenbuch war dieser Text kommentarlos verschwunden. In der Gesamtausgabe wird nicht einmal seine Existenz erwähnt.
Ob die von Hugo Huppert (in: Sinnen und Trachten, Halle/Saale, 1973) wiedergegebenen Äußerungen Celans zu seinem Dichtungsverständnis nicht ebenfalls in diesen dritten Band gehört hätten, darüber kann man vielleicht geteilter Meinung sein. Ein anderer einzelner Satz („la poesie“, 1970), freilich ein „autorisierter“, wird uns mitgeteilt… Weshalb fehlt dann aber jene interessante Bemerkung, er, Celan, habe in seinem ersten Gedichtband „noch verklärt“, und das werde er „nie wieder“ tun? Sie stand am 27. Januar 1958 in der Tageszeitung Die Welt.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: dieser dritte Band ist für jede Auseinandersetzung mit Celan unersetzlich. Er enthält unter anderem die Büchnerpreis-Rede und das „Gespäch im Gebirg“ – zwei Grundtexte. Vor allem aber sind nun jene frühen Prosagedichte auf Bilder von Edgar Jene leichter zugänglich: „Edgar Jene und der Traum vom Traume“. Nicht nur dieser Titel erinnert sehr an Jean Paul. Auch in den lyrischen Aphorismen „Gegenlicht“ (1949) – eine kleine Entdeckung – klingt der Ton Jean Paulscher „Streckverse“ nach. („Vergrabe die Blume und lege den Menschen auf dieses Grab.“) – Apropos: Bei den Gedichten Band 3, Seite 21 und 53, hat jemand die Widmungen an Margul Sperber und Jene vertauscht – vermutlich der Setz-Roboter.
In den Bänden 4 und 5 stehen alle druckreifen „Übertragungen poetischen Charakters ins Deutsche“. Nicht nur Gedichte, aus sieben Sprachen, auch Picassos Drama Wie man Wünsche beim Schwanz packt (geschrieben 1945, übersetzt 1954) und Jean Cayrols Kommentar zu dem KZ-Film Nacht und Nebel (1956) von Alain Resnais – ein Text, den man im Deutschunterricht lesen sollte.
Celans Prosa-Übersetzungen wurden weggelassen, sie hätten mehrere Bände gefüllt: etwa Lermontovs Ein Held unserer Zeit, zwei Krimis von Simenon, Essays oder E.M. Ciorans Lehre vom Zerfall (neuaufgelegt bei Klett-Cotta, 1979).
Eine Bibliographie belegt eindrucksvoll Celans Übersetzer-Fleiß. Dank den Herausgebern! Vor allem auch dafür, daß sie jedem übersetzten Text das fremdsprachige Original beigegeben haben. Welche Schwierigkeiten dabei zu überwinden waren, nicht nur urheberrechtliche, deutet ihr Nachwort an.
Band 4 enthält alle Übertragungen aus dem Französischen, Gedichte von Gérard de Neval (gestorben 1855) bis zu Jean Daive (geboren 1941) – mehr als hundertsechzig Gedichte – Einzelstücke wie Paul Valéry „Die junge Parze“, aber auch Zyklen von André du Boucnet, Jules Supervielle oder Jacques Dupin. Hier werden Wahlverwandtschaften erkennbar – aber das gilt ebenso für Celans Nachdichtungen russischer Lyriker, mit denen Band 5 beginnt: Alexander Block, Mandelstam (dessen Gedächtnis Celan die Niemandsrose widmete), Jessenin und Jewtuschenko („Babij Jar“). Ferner einundzwanzig Sonette von Shakespeare, zehn Gedichte der seltener übersetzten Emily Dickinson (1830-86), einzelne Texte von Robert Frost, Marianne Moore und anderen Angelsachsen. Die italienische Poesie ist durch Giuseppe Ungaretti vertreten: einundsechzig Gedichte, darunter drei, die auch Ingeborg Bachmann übersetzte. An den portugiesischen Versen von Fernando Pessoa (1888–1935) hat E. Roditi mitgearbeitet.
Aus dem Hebräischen hat Celan nur fünf Gedichte von Davis Rokeah nachgedichtet; sie beruhen, wie fast alle bei uns bekannten Übertragungen Rokeahs auf dessen eigener Rohübersetzung – sehr eindrückliche Texte, schade, daß es nur fünf sind. Man hätte glauben wollen, daß sich Celan dem Hebräischen stärker verpflichtete. (Erst wenige Monate vor seinem Tod besuchte er Israel, 1969.)
Die Sammlung des Übertragungswerkes, zweisprachig, dürfte der Hauptgewinn dieser Ausgabe sein. Celan selbst fand seine Übersetzungsleistung unterbewertet – zu Recht. Noch heute ist kaum geklärt, in welchem Verhältnis hier Dichten und Nachdichten stehen. Fast immer hat Celan das fremde Gedicht seiner eigenen poetischen Sprechweise anverwandelt – der eigenen „heißerrungenen Manier“ (um es mit Georg Trakl zu benennen). Das schließt Übersetzer-Treue nicht aus, bewahrt aber den Text vor einer medialen Gleichgültigkeit der ihm zugewiesenen fremden Sprache. Erst durch das selbstbewußte Mitsprechen der Übersetzersprache werden die übertragenen Texte noch einmal Gedichte.
Wie man künftig (durch die HKA) die subjektive Folgerichtigkeit der Celanschen Schreibart aus der Genese seiner Gedichte wird besser verstehen lernen, so wird die Verfügbarkeit seiner „Manier“ erst beim Vergleich der Übersetzungen mit den fremdsprachigen Originalen erkennbar. Beides gehört zusammen. Erst dann wird auch nach dem Grenzverlauf zwischen „heißerrungener Manier“ und Manierismus gefragt werden können.
Celans Lebenswerk – diese epochale Trauerarbeit eines europäischen Juden im Medium des deutschen Gedichtes – hat seinen vollen Beunruhigungswert, seine volle Kenntlichkeit noch längst nicht erreicht. Wenn die Universität Haifa gerade ein Symposium über Paul Celan vorbereitet und wenn die israelischen Initiatoren auch an die Gründung einer Internationalen Gesellschaft denken, so sind solche Absichten sehr zu begrüßen – nicht um irgendeiner Betriebsamkeit willen, sondern der „Wahrheitszwänge, der Selbstevidenz und der weltoffenen Einmaligkeit großer Poesie“ wegen (Band III, Seite 203).
Hermann Burger: Paul Celans Bilder wissen mehr: Seine Gesammelten Werke in fünf Bänden
Frankfurter Allgemeine Zeitung. 10.12.1983
Peter Horst Neumann: Fünf Bände, zu spät und zu früh: Die erste Gesamtausgabe der Werke des Dichters Paul Celan
Die Zeit, Nr. 10. 2.3.1984
Jürgen P. Wallmann: Gedichte sind wie eine Flaschenpost. Paul Celans gesammelte Werke bei Suhrkamp
Rheinische Post, 22.2.1984
Das lyrische Œuvre Paul Celans, soweit es bis dahin der Öffentlichkeit zugänglich war, ist nach dem Tode des Dichters im Frühjahr 1970 durch die maßgebende Literaturkritik einhellig als eines der bedeutendsten der deutschen Nachkriegsliteratur bezeichnet worden. Schon früh hat auch die wissenschaftliche Germanistik der Lyrik Celans ihr besonderes Interesse zugewandt. Bereits 1959 ist die erste ausschließlich Celan gewidmete Dissertation entstanden. Neben dem unbestrittenen Rang des Werkes hat offenbar die im Sinne der Tradition des europäischen Symbolismus ,hermetische‘ Struktur der Celanschen Lyrik die Kritik und Wissenschaft zu besonders intensiver Auseinandersetzung angespornt. Zugleich ist sichtbar, daß diese Auseinandersetzung noch lange nicht abgeschlossen sein wird. Wichtige methodologische Gesichtspunkte sind exponiert, aber aus verständlichen Gründen noch nicht mit der letzten Konsequenz und Vollständigkeit durchgeführt worden.
Seit der Publikation von Schneepart im Frühjahr 1971 liegt das lyrische Œuvre Celans, soweit es vom Autor selbst veröffentlicht oder zur Veröffentlichung vorbereitet wurde, in insgesamt acht (resp. mit dem vom Autor zurückgezogenen Gedichtband von 1948, Der Sand aus den Urnen, neun) Einzelbänden der Öffentlichkeit vor. Späteste Gedichte sind versammelt im Band Zeitgehöft (1976), einer eigentlichen Nachlaßpublikation.1 Hinzu kommen die zahlreichen Übertragungen Celans aus dem Russischen, Englischen, Italienischen, Französischen, Hebräischen, Portugiesischen und Rumänischen, die teils in Periodica und Anthologien, teils auch in selbständigen Einzelbänden erschienen sind. Celan hat ausdrücklich gewünscht, daß diese Übertragungen, die nicht immer die ihnen gebührende Beachtung gefunden haben, in einem Sammelband zusammengefaßt würden. Vorbereitungen dazu waren zum Zeitpunkt seines Todes bereits in die Wege geleitet.2
Im Gegensatz zu den Übertragungen haben Celans wenige Prosatexte, meist poetologisch-theoretischer Natur, breitere Aufmerksamkeit bei Kritik und Forschung gefunden und sich dabei als höchst wertvolle Hilfen für das Verständnis der Lyrik erwiesen.
Indes läßt sich nicht sagen, Celans Werk liege nun abschließend vor. Mit einer vollständigen, von Überlieferungsfehlern (gesetzt, diese seien einfach zu registrieren) gereinigten Präsentation des von Celan selbst unmittelbar zur Veröffentlichung bestimmten Teiles seines Werks, evtl. auch von Teilen seines Nachlasses, die eine bestimmte Publikationsreife aufzuweisen scheinen – mit einer solchen ,Werkausgabe‘ wäre doch nur ein erster Schritt in Richtung auf die Erschließung seines Gesamtwerks getan.
Der Zustand des literarischen Nachlasses in Paris läßt vermuten, daß Celan viel daran gelegen war, die künftige philologische Analyse der Genesis seiner Gedichte zu erleichtern. Tatsächlich wird durch den hermetischen Charakter der Celanschen Dichtung die Einsicht in die Entstehung der einzelnen Gedichte zum absoluten Desiderat. Bereits die publizierten Endfassungen dieser Gedichte lassen erkennen, daß ihnen ein komplexer und poetologisch noch über das Werk Celans hinaus für die Analyse moderner Lyrik signifikanter Transformationsprozeß vorausgegangen sein muß. Ihn anhand der im Nachlaß vorliegenden und vom Autor mit großer Sorgfalt aufbewahrten Vor- und Zwischenstufen konkret faßbar zu machen, muß ein ganz vordringliches Interesse der Celan-Forschung sein. Wenn in irgendeinem, so hat in diesem Fall das Prinzip einer historisch-kritischen Gesamtausgabe von den Erfordernissen der Forschung her seine unbedingte Legitimation. Daß unmittelbar nach dem Tode des Dichters eine solche Ausgabe in Angriff genommen wurde, bedarf angesichts des skizzierten Sachverhalts keiner speziellen Begründung mehr.
In einer Niederschrift vom 15. Dezember 1967, die den Charakter einer letztwilligen Verfügung hat, sagt Celan abschließend:
Je souhaite qu’une édition de mes poèmes et de mes traductions de poésie anglaise, russe, française paraisse aux Editions Suhrkamp et je prie Beda Allemann d’y apporter son aide et son savoir.
Es war dem verständnisvollen Entgegenkommen der Erben wie des Verlegers zu verdanken, daß ein Einverständnis über den Plan einer historisch-kritischen Celan-Ausgabe erreicht werden konnte. Seit 1972 wird diese mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft vorbereitet.3
Bei den editorischen Vorarbeiten war besonders dafür Sorge zu tragen, den literarischen Nachlaß in dem von Celan hinterlassenen geschlossenen Zustand zu erfassen, wie er – von den Jugendgedichten abgesehen – gegenwärtig verfügbar ist. Die Ausgabe soll grundsätzlich alle vom Autor selbst veröffentlichten oder zur Veröffentlichung bestimmten bzw. von der Veröffentlichung nicht ausdrücklich ausgeschlossenen Texte umfassen, dazu, soweit eruierbar, sämtliche Vorstufen zu diesen Texten.
Vorbild für die textkritische Edition ist das Verfahren Hans Zellers, wie es in den von ihm besorgten Bänden der historisch-kritischen C.F. Meyer-Ausgabe verwirklicht ist. In Auseinandersetzung mit anderen Ausgaben, vor allem der Großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe und der historisch-kritischen Trakl-Ausgabe, war für die Celan-Ausgabe ein den besonderen Verhältnissen des Nachlasses angepaßtes Verfahren zu entwickeln.
Der Kommentar der Ausgabe soll in Form von knapp formulierten Einzelbemerkungen Worterklärungen, Zitatnachweise und Literaturverweise enthalten.
Eine besondere Problematik ist mit den vom Autor ausdrücklich von jeder Veröffentlichung ausgeschlossenen Texten (vor allem Gedichten aus späterer Zeit) verbunden, die im Nachlaß überliefert sind. Sie werden vorderhand in die philologische Aufbereitungsarbeit einbezogen, ohne daß damit über ihre Veröffentlichung entschieden wäre.
Die Einbeziehung sämtlicher Briefe Celans in die Ausgabe erscheint wegen des oft sehr privaten und lebende Personen betreffenden Inhalts vorerst nicht möglich. Direkt auf das Werk bezügliche Stellen können jedoch im Rahmen des Kommentars verwertet und auszugsweise publiziert werden.
Ähnliches gilt für die tagebuchartigen Aufzeichnungen, die im Nachlaß enthalten sind. Sie sind nach dem Willen der Erben nur dem Hauptherausgeber zugänglich, der zuhanden seiner Mitarbeiter Auszüge erstellt, die ausschließlich für die Edition relevante Fakten (Datierungen, unmittelbar auf das Werk bezügliche Reflexionen etc.) umfassen.
Nach dem derzeitigen Stand der Planung gliedert sich die Celan-Ausgabe in zwei Abteilungen, deren erste die Gedichte und Prosatexte samt Apparatbänden, und deren zweite Abteilung die Übertragungen samt Apparatbänden umfassen wird.
Für die erste Abteilung ist folgende Bandeinteilung vorgesehen:
– Band 1: Die acht Gedichtsammlungen von Mohn und Gedächtnis bis Schneepart in der Anordnung der Einzeldrucke.
– Band 2: Der Sand aus den Urnen. Verstreut gedruckte und nachgelassene Gedichte. Prosatexte und Reden.
– Band 3: Bericht des Herausgebers. Apparat zu Band 1 (Mohn und Gedächtnis bis Fadensonnen).
– Band 4: Apparat zu Band 1 (Lichtzwang und Schneepart); Apparat zu Band 2.
Der Apparat der Celan-Ausgabe soll als fotomechanisch reproduziertes Typoskript hergestellt werden. Mit diesem Verfahren können der schwierige Satz, kostspielige Druckverfahren, zeitraubende Korrekturarbeiten und daraus resultierende Fehlerquellen bisheriger Ausgaben vermieden werden.
Nachtrag 1984
Bald nach Erscheinen der vorstehenden Bemerkungen haben sich die personellen Voraussetzungen der kritischen Celan-Ausgabe durch den Fortfall der zweiten Mitarbeiterstelle nicht unerheblich verändert.
Die vorgesehene Bandeinteilung wurde inzwischen wie folgt modifiziert:
– Band 1,1 Gedichte I: Mohn und Gedächtnis bis Die Niemandsrose, Text
– Band 1,2 Apparat
– Band 2,1 Gedichte II: Atemwende bis Schneepart, Text
– Band 2,2 Apparat
– Band 3,1 Der Sand aus den Urnen; Eingedunkelt; Zeitgehöft; verstreut gedruckte und nachgelassene Gedichte in chronologischer Folge; Prosa; Reden; Text
– Band 3,2 Apparat
Aus technischen Gründen, besonders im Hinblick auf Schwierigkeiten bei der Beschaffung im Ausland befindlicher Nachlaßmaterialien im Bereich der frühen Gedichte, wurde die Publikationsvorbereitung für den 2. Doppelband (Gedichte von Atemwende bis Schneepart) vorweggenommen. Die Herstellung der Druckvorlage für diesen Doppelband steht vor ihrem Abschluß.
Inzwischen ist Ende 1983 bei Suhrkamp die fünfbändige Leseausgabe von Celans Gesammelten Werken erschienen, die außer den Gedichten und den von Celan selbst autorisierten Prosatexten auch erstmals die Gesamtheit der von ihm in sehr verschiedenen Zusammenhängen und an heute z.T. schwer zugänglichen Stellen veröffentlichten Übertragungen von Gedichten und poetischer Prosa aus fremden Sprachen enthält (Bde 4 und 5). Damit ist ein noch vom Autor selbst stammendes Desiderat eingelöst.
Nachdem seit 1977 von den zuständigen Gremien der Deutschen Forschungsgemeinschaft keine Mittel für einen speziellen Mitarbeiter zur Weiterführung der bereits in die Wege geleiteten Vorbereitungen zu einem Materialienband, der die unerläßliche Kommentierung der kritischen Ausgabe aufnehmen soll, mehr bewilligt worden sind und die entsprechenden Arbeiten dementsprechend ins Stocken geraten mußten – wie übrigens auch die textkritische Tätigkeit des mit der Ausarbeitung des genetischen Apparates betrauten Mitarbeiters dadurch beeinträchtigt wurde –, hat sich in einem Kreis beratender Editions- und Celan-Spezialisten nun die Einsicht durchgesetzt, daß ohne energische Förderung auch dieser Seite der kritischen Ausgabe die mit Recht in sie gesetzten Erwartungen der Celan-Forschung nicht erfüllt werden können. Dieses Expertengremium soll sich künftig als Beirat der Ausgabe konstituieren, und ein für die Kommentierung verantwortlicher Mitherausgeber soll gewonnen werden.
Es ergeht in diesem Zusammenhang erneut die dringende Bitte an alle Besitzer von Celan-Dokumenten und Detailinformationen, die der Kommentierung dienlich sein können, der Celan-Arbeitsstelle beim Germanistischen Seminar der Universität Bonn (Am Hof 1d, 5300 Bonn 1) davon Mitteilung zu machen.
Man wird bei alledem von der historisch-kritischen Ausgabe nicht erwarten dürfen, daß sie alle Schwierigkeiten des Celan-Verständnisses mit einem Schlag behebt. Das gilt sowohl für den genetischen Apparat, der seinerseits eine neue Interpretationsanstrengung vom Benutzer verlangen wird, wie auch für die vorgesehene Kommentierung. Weder die Entstehungsvarianten eines Gedichts oder Prosa-Textes, die der textkritische Apparat zur Darstellung bringt, soweit sie im Nachlaß erhalten sind, noch die kommentierende Sacherläuterung der faktenmäßigen Voraussetzungen, die einer Dichtung zugrunde liegen, können als solche und gleichsam automatisch den Schlüssel für das Verständnis liefern. Die Literaturwissenschaft und die Celan-Forschung im speziellen werden mit dem Erscheinen der historisch-kritischen Ausgabe neue Problemstellungen zugewiesen erhalten. Man wird von der immer noch anzutreffenden Auffassung abzurücken haben, Celan lesen und verstehen bedeute vor allem bloße Decodierung eines als schwierig bekannten poetischen Wortlauts, den manche als „hermetisch“ zu bezeichnen nicht müde werden. Celan selbst war bekanntlich anderer Ansicht. Es bedarf im Zusammenhang mit seinem Werk nicht so sehr der Entschlüsselung und der Rückübersetzung in eine konventionellere und deshalb scheinbar verständlichere, sondern vielmehr der Einarbeitung in eine andere Sprache.
Vorderhand besteht nun begründete Hoffnung auf einen zügigen Fortgang der Vorbereitungsarbeiten, wie er beim bisherigen Personalbestand der Bonner Arbeitsstelle nicht zu leisten war.
Beda Allemann und Rolf Bücher, in TEXT+KRITIK, Paul Celan – Heft 53/54, Zweite, erweiterte Auflage, edition text + kritik, 1984
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Dorothea Müller-Altneu, in Die Stimme (Tel Aviv) 46, Nr. 281, April 1990
Denke ich heute an meine Kindheits- und Jugendjahre zurück, so sehe ich im Geiste die Stätten meiner ersten Begegnungen und Gespräche mit Paul wieder.
Wenn man vom Haupteingang des Czernowitzer Volksgartens die Siebenbürgerstraße zur Kaserne des 8. Jägerregimentes überquerte, kam man nach wenigen Schritten zum steilen Töpferberg, der in die Bräuhausgasse mündete. Dort stand mein Elternhaus, und gegenüber, im etwas baufälligen, ebenerdigen Haus, dessen eine Front zur Feldgasse hinsah und das noch keine Wasserleitung, sondern einen Ziehbrunnen im Hof hatte, wohnte der Herrenschneider Chomed. Mit seinem Sohn, Gustl, meinem Spielkameraden aus früher Kindheit, war Paul als Schüler des 4. Staatsgymnasiums eng befreundet. Der Töpferberg war eine wundervolle Rodelbahn, von der aus man, wenn man oben mit Schwung losfuhr und unten nicht bremste, auf der breiteren, ebenen Bräuhausgasse ganz weit gelangen konnte. Die verkehrsreiche Straßenkreuzung, an der morgens rumänische und ruthenische Bäuerinnen ihre Milchprodukte und „Schwabinnen“ aus der Vorstadt Rosch Gemüse und Obst feilboten, war des geschäftigen Markttreibens wegen jedoch nicht ungefährlich. Um mich an den beiden Jungen zu rächen, die mich in ihren sportlichen Leistungen zu übertrumpfen trachteten, den Berg mutiger hinuntersausten und mich „folgsames Kind“, das die Warnungen der Erwachsenen vor den Gefahren des Verkehrs nicht wie sie in den Wind schlug, zu hänseln pflegten, legte ich mir im Herbst auf dem Dachboden einen Vorrat von aus dem Volksgarten heimgebrachten Kastanien an und bombardierte an klaren Wintertagen durch die Dachluke oder vom Balkon aus die vermeintlich Überlegenen mit diesen Wurfgeschossen.
Dies meine erste Kontaktnahme mit Paul.
An Sonn- und Feiertagen pflegte man in Czernowitz Verwandte zu besuchen, eine für uns Kinder recht langweilige Angelegenheit, gegen die wir uns fast immer sträubten. Als ich mich an einem Nachmittag wieder mit einer Ausrede vor einem solchen Pflichtbesuch zu drücken versuchte, eröffnete man mir, wir wären diesmal zu Alexander Ehrlich, einem Cousin zweiten Grades meines Vaters, eingeladen, zu dem auch die Antschels mit ihrem Sohn kämen. Pauls Großmutter war eine Ehrlich vom Hause, und so stellten wir bei der Begrüßung erstaunt fest, dass wir, wenn auch entfernt, miteinander verwandt waren.
Alexander war weitaus assimilierter als die Mehrzahl unserer Verwandten. Er galt als Sonderling und wohnte in einer bereits ländlich wirkenden Gegend der Stadt, in der Flurgasse, durch die uns späterhin oft unsere Spaziergänge führen sollten; seine Schwester Hilde hatte einen Deutschen geheiratet, lebte mit ihm in Paris und wurde für Paul und mich, die wir beide vorhatten, in Frankreich zu studieren, schon damals eine Bezugsperson.
Ihren Tod teilte er mir denn auch im ersten Brief, den er mir im August 1963 schrieb, als ich endlich aus Rumänien auswandern konnte und mich in Wien aufhielt, mit.
… Jetzt kommt eine traurige Nachricht, Edith. Hilde lebt nicht mehr, sie ist vor über einem Jahr gestorben, an Krebs…
Nach jener Begegnung im Hause Ehrlich, bei der uns klar geworden war, wie viele gemeinsame Interessen uns verbanden, luden meine Eltern ihn zu uns ein. Meine Briefmarkensammlung konnte es mit der seinen durchaus aufnehmen, und wir tauschten oft die überzähligen Marken. Ich hatte auf dem Dachboden zwischen Löschpapier und Ziegelsteinen Pflanzen gepresst und ein so reichhaltiges Herbarium angelegt, dass es am Ende des Schuljahres vom Schulmuseum als Ausstellungsobjekt zurückbehalten wurde. Dieses Prachtexemplar von einem Herbarium erregte Pauls Bewunderung und wurde zum Anlass genommen, auf Rundgängen im Botanischen Garten und auf Streifzügen entlang des Bahngleises, jenseits der „Rampe“, der Bahnschranke, die den Weg zum Flughafen versperrte, ehe ein Zug vorbeifuhr, unsere botanischen Kenntnisse zu vertiefen.
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Außer mit dem Herbarium konnte ich Paul bei seinem ersten Besuch auch mit unserer großformatigen Luxusausgabe der deutschen Klassiker imponieren. Bongs Goldene Klassikerbibliothek schmückte natürlich den Bücherschrank nahezu jeder Czernowitzer Bürgerfamilie, die etwas auf sich hielt, aber mit solchen mit Goldschnitt und Stahlstichen versehenen Bänden konnte nicht jedermann aufwarten. Mein Vater, Altphilologe und Germanist, hatte, als er 1920 heiratete, kistenweise Bücher aus Wien mitgebracht und steckte jeden Groschen, den er erübrigen konnte, in Bücher, so dass er in kürzester Zeit die zweitgrößte Privatbibliothek der Stadt besaß, für den bildungshungrigen Schüler Paul eine wahre Fundgrube.
So lautet denn auch die Widmung, die Paul im Oktober 1964 meinem Vater in das ihm zugedachte Exemplar von Mohn und Gedächtnis hineinschrieb:
Für Karl Horowitz, in dankbarer Erinnerung an sein Haus, an seine Bücher, an vieles noch immer Gegenwärtige.
Die Kenntnisse auf dem Gebiet der deutschen Literatur, der Philosophie und Geschichte, die das rumänische Gymnasium Paul vermittelte, konnten ihn nicht befriedigen, weshalb er jeder Anregung, die über das Schulpensum hinausging, aufgeschlossen war und willig folgte. Mein Vater versuchte, uns für Eduard Mörike und Theodor Storm, für Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller, für Jakob Wassermann und Leonhard Frank zu gewinnen, uns auf Hermann Hesse festzulegen, dessen Frau Ninon die Schulbank mit ihm gedrückt hatte und den er sehr verehrte; er machte uns aber im Laufe der Jahre auch mit mittelhochdeutscher und frühexpressionistischer Dichtung bekannt. Gedichte von Klabund, Trakl und Georg Heym lernte Paul bei uns kennen. Ich lieh ihm die Bände von Stefan George, die literaturhistorischen Werke von Fritz Strich, Ricarda Huchs Buch über die Romantik und manches andere, alles allerdings insgeheim, denn mein Vater wachte mit Argusaugen darüber, dass ihm nur ja kein Buch aus dem Haus kam. Wir mussten großes Geschick anwenden, um die Lücke zu verbauen, die durch ein entliehenes Buch entstanden war. Kaum merkte mein Vater, dass die Bücherreihe auch nur ein klein wenig verrückt war, fragte er:
Waren schon wieder die Kadetten da?
Womit Paul und sein Freund Immanuel Weißglas gemeint waren. Ganz hinten, im Bücherschrank versteckt, fanden wir auch von der rumänischen Zensur verbotene Bücher über den historischen Materialismus und vertieften uns in diese Lektüre, wenn die Eltern an den hohen Herbstfeiertagen den ganzen Tag im Bethaus verbrachten.
Sehr früh schon, spätestens mit fünfzehn, sechzehn Jahren, begeisterte Paul sich für Hölderlin und machte mich auf Rilke aufmerksam, mit dem wir einen wahren Kult trieben, so dass ich auch, als ich nach dem Krieg in Bukarest Germanistik studierte, mit einer Arbeit über diesen Dichter promovierte. Immer wieder trug Paul den Cornet, die „Geschichten vom lieben Gott“ und Gedichte aus dem Stundenbuch und dem Buch der Bilder vor, später dann auch die Sonette an Orpheus und die Duineser Elegien. Er kannte auch viele Szenen aus Shakespeares Dramen auswendig und rezitierte merkwürdigerweise mit Vorliebe den Part der Frauen, z.B. die Ophelia oder die Julia. Da er auch ein guter Stimmenimitator war, fiel es ihm, nicht zuletzt durch sein gewinnendes Äußeres, nicht schwer, der Mittelpunkt jedes geselligen Beisammenseins zu werden.
Das sollte auch später so bleiben, als er, anstatt sein Medizinstudium in Frankreich fortzusetzen, notgedrungen Student der Romanistik und Anglistik an der zunächst rumänischen, dann ukrainischen Universität unserer Heimatstadt wurde. Er lenkte stets gern die Aufmerksamkeit auf sich, spielte zuweilen den Hanswurst, um die Kommilitonen und Bekannten zu amüsieren oder zu schockieren, gefiel sich in der Rolle des Bürgerschrecks, der die Banausen durch sein Verhalten vor den Kopf stößt. Im Russenjahr, 1940/41, da selbst gläubigeMenschen, Juden wie Christen, ihre Gottesfurcht nicht zur Schau zu tragen wagten und Synagogen wie Kirchen nur selten und scheu betraten, sank Paul eines späten Abends nach einem Konzertbesuch vor der Armenierkirche in die Knie, stimmte irgendwelche Choräle an, schlug sich an die Brust und begann so laut zu beten, dass die Leute aus den angrenzenden Häusern die Fenster aufrissen und die Miliz zu rufen drohten.
Um eine Antwort war Paul nur selten verlegen. Und sie kam oft genug herablassend, spöttisch und spitz. Wir hatten gerade unsere „Hamsun“-Periode, identifizierten uns mit den Gestalten seiner Erzählung Pan und seines Romans Mysterien. Da stellte ein älterer Freund, der mich damals umwarb, auf mich weisend an Paul die Frage: „Sieht sie nicht wie die Dagny aus den Mysterien aus?“ „Entschuldigen Sie, aber ich besitze leider keine illustrierte Ausgabe dieses Buches“, erwiderte Paul schlagfertig.
Französisch hielten wir von Kind auf für die schönste Sprache der Welt, weshalb wir im Institut Français unserer Heimatstadt nicht bloß Sprachkurse besuchten und Bücher aus der Bibliothek liehen, sondern keine Veranstaltung wie Vorträge, Rezitationsabende oder Konzerte versäumten. Wollte der Schüler Paul, dass sein Freund Gustl oder ich aus dem Hause kommen, so pfiff er stets die ersten Takte des Liedes „Au clair de la lune“ vor sich hin; später allerdings gebrauchte er das Leitmotiv aus Schuberts „Unvollendeter“ als Erkennungspfiff. Über Victor Hugo und Alfred de Vigny kam der vorgesehene Schulplan an unseren Gymnasien nicht hinaus, wir aber lasen in den oberen Klassen mit Leidenschaft Verlaine und Baudelaire. Auch mit Mallarmés, Valérys und Apollinaires Gedichten waren Weißglas und Paul bestens vertraut, noch ehe Paul nach Frankreich reiste. Sie wetteiferten miteinander während ihrer Gymnasialzeit wie auch in den beiden Russenjahren und sogar noch später in Bukarest sowohl im Dichten als auch im Übersetzen. So übertrugen sie zum Beispiel gleichzeitig dieselben Shakespeare-Sonette sowie Gedichte von A.E. Housman, Yeats, Rupert Brooke, Jessenin und Apollinaire ins Deutsche.
Durch seine Übersetzung von Mihai Eminescus Luceafǎrul („Der Abendstern“) hatte der damals etwa sechzehnjährige Weißglas einiges Aufsehen erregt. Sein Onkel, der Setzer im angesehenen Bukarester Druckereibetrieb Cartea Românească war, hatte ihn Tudor Arghezi, dem bedeutendsten rumänischen Dichter unserer Zeit, empfohlen, und dieser nahm sich des begabten Jungen aus der Bukowina sehr an. Paul, der als Gymnasiast den Spracherneuerer Arghezi ebenso bewunderte wie wir alle, beneidete seinen damaligen Mitschüler und Freund Weißglas, weil es diesem gelungen war, den „Meister“ persönlich kennenzulernen und durch dessen Fürsprache nicht bloß die Übersetzung des rumänischen Poems ins Deutsche, sondern auch Übertragungen von Rilke-Gedichten ins Rumänische in der renommierten Literaturzeitschrift Viaţa Românească zu veröffentlichen. […]
Gespräche über Dichtung führte Paul in Czernowitz hauptsächlich mit Weißglas, mit dem er fast täglich zusammenkam. Eine von Professor Gerhart Baumann in dessen in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichten Nachruf auf Immanuel Weißglas wiedergegebene Briefstelle scheint mir nicht ungeeignet, ein bezeichnendes Licht auf die Art der Freundschaftsbeziehung zwischen meinen beiden verstorbenen Freunden zu werfen. In diesem an Gerhart Baumann gerichteten Brief von Weißglas heißt es u.a.:
Ein kameradschaftlicher ,Kontrapunkt‘ verband oft ,zwei wortbesessene Freunde‘ in gemeinsamer Bemühung um das Gedicht… Wir sprachen Verse vor uns hin, die zu Gedichten gerannen. In einer solchen geistigen Nacht suchten uns die Bilder heim…
Weißglas pflegte, wie aus den Erinnerungen seines älteren Dichterfreundes Alfred Kittner eindeutig hervorgeht, Themen, die ihn beschäftigten, gewissermaßen zum Gegenstand eines poetischen Wettstreites zu machen. So erklärt sich möglicherweise die parallele Behandlung des Holocaustgeschehens in Weißglas’ Gedicht „Er“ und Celans „Todesfuge“, die eine so lebhafte wie überflüssige Diskussion herbeigeführt hat. […]
Im Freundeskreis las Paul eigene Gedichte kaum jemals vor. Viel Erfolg erntete er aber mit dem Vortrag von Fabeln des jiddischen Dichters Elieser Stejnbarg, den er sehr verehrte. Obwohl er selber nicht jiddisch sprach, bereiteten ihm gelegentliche Gastspiele jiddischer Rezitatoren großes Vergnügen.
Während Weißglas, der ein vielversprechender Pianist war, sich in seiner Jugend außer für Musik nahezu ausschließlich für Dichtung interessierte, waren Pauls Interessen viel breiter gefächert. Er hatte viel mehr Selbstdisziplin und Ausdauer als sein ebenfalls dichterisch hochbegabter Freund, war deshalb auch ein besserer Schüler als jener. Auch politisch war Weißglas weniger engagiert. Pauls Interesse für Politik und soziale Fragen war indes sehr früh wach. Wer es geweckt hat, kann ich schwer sagen.
Meine Kindheitsfreundin Ruth Kissmann war die Tochter eines führenden Sozialdemokraten. Sie wuchs in einem „rotgefärbten“ Milieu auf, doch waren wir Kinder, wie es auch heutzutage so oft vorkommt, viel radikaler, das heißt in unseren Anschauungen stärker links orientiert als Ruths Eltern, und schlossen uns mit dreizehn, vierzehn Jahren, natürlich ohne Wissen und Einverständnis unserer Eltern, der illegalen kommunistischen Jugendorganisation an. Zu unserer Gruppe gehörte auch Paul, und wir schickten uns an, eine illegale Schülerzeitschrift in rumänischer Sprache herauszugeben, den Roten Schüler (Elevul Roşu). Das Blatt, das in Format und Farbe der Fackel von Karl Kraus und Ossietzkys Weltbühne glich, von diesen vielfach auch inspiriert war, wurde auf einem Schapirographen, einem Vervielfältigungsapparat, hergestellt, den Paul zeitweilig unter seinem Bett versteckt hielt, bis sein Vater das Gerät entdeckte, Krach schlug und darauf bestand, es aus dem Haus zu schaffen. Außer selbstgeschriebenen Artikeln, die jeder von uns beitragen musste, brachten wir in dieser Zeitschrift Übersetzungen marxistischer Texte aus dem Deutschen ins Rumänische, die wir an Samstagnachmittagen studierten und kommentierten. So begann also unsere literarische Tätigkeit. Sie nahm mit der Verhaftung unseres Zellenführers, eines um etwa fünf, sechs Jahre älteren Jungen aus Bessarabien, ein jähes Ende und war somit von kurzer Dauer. Ich kann mir den Augenblick, da jemand uns die schreckliche Nachricht brachte, M. sei festgenommen worden, noch ganz genau vergegenwärtigen: Wir blieben wie versteinert sitzen, berieten, wie wir alles, was uns kompromittieren könnte, vernichten sollten, versprachen einander, dichtzuhalten, falls M. „gesungen“ haben und auch wir verhaftet werden sollten, dann gingen wir in äußerst bedrückter Stimmung auseinander. Die rumänische Polizei war für die Misshandlung kommunistischer Häftlinge berüchtigt; die Verhaftungen fanden gewöhnlich vor Tag statt, deshalb fuhr ich wochenlang mit Herzklopfen aus dem Schlaf, wenn morgens die Milchfrau an der Tür schellte, weil ich jedesmal überzeugt war, man käme mich holen. Zu unserem Glück gelang es einem Anwalt, M. gegen ein Lösegeld freizubekommen. Er flüchtete in die Sowjetunion, wo er, was ich allerdings erst lange nach dem Krieg erfahren sollte, sofort verhaftet wurde.
In den Jahren 1937–38 kam unter dem Zweigespann Goga-Cuza eine faschistische Regierung in Rumänien an die Macht. Der Druck gegen linksgerichtete Elemente wurde immer härter. Nicht nur Kommunisten, sondern auch Sozialdemokraten wie Ruth Kissmanns Eltern fühlten sich in ihrer Haut nicht mehr sicher und ergriffen die erste Gelegenheit, die sich ihnen bot, zu einer Auswanderung in die USA. Der stetig zunehmende Antisemitismus legte auch politisch nicht engagierten Juden den Gedanken an eine Auswanderung nahe. Abgesehen von Zionisten, die als einziges Ziel Palästina sahen, versuchten alle, die zum Beispiel Verwandte in Südamerika hatten, ein Visum dorthin zu erlangen. Doch glückte die Ausreise nur ganz wenigen. Vielleicht nahmen die meisten die heraufziehende Gefahr auch nicht allzu ernst. Wir, die vom kommunistischen Ideal beflügelten Schüler, glaubten damals jedenfalls, ihr die Stirn bieten zu können. In der vierten Klasse war eine Mitschülerin hinzugekommen, die aus Krankheitsgründen ein Schuljahr versäumt hatte, also etwas älter war als Ruth und ich. Für ihr Alter ungewöhnlich belesen, besonders beschlagen in Geschichte, Soziologie und Nationalökonomie, war Ilse Goldmann auf diesen Gebieten auch Paul weit überlegen, so dass sie sehr bald das Ruder an sich riss und unsere neue Zellenführerin wurde. Jeden Samstagnachmittag trafen wir uns in ihrem Elternhaus in der Schulgasse, ackerten ein Kapitel aus Marx’ Kapital oder aus dem Kommunistischen Manifest durch, lasen die Schriften der Rosa Luxemburg, Bücher über Nationalökonomie von Karl Kautsky oder Werner Sombart. Paul plädierte für Bakunins ABC, ereiferte sich für Gustav Landauer und Kropotkin, und die Rededuelle nahmen kein Ende. Getarnt waren diese Zusammenkünfte als Kaffeekränzchen, doch blieb die Bonbonniere, die stets den Tisch schmückte, unberührt liegen. Manchmal trafen wir uns in größerer Zahl auch in anderen Wohnungen. Außer den intimsten Freunden kannte man einander aus konspirativen Gründen nur unter Decknamen, bestenfalls unter dem wirklichen Vornamen. Gelegentlich wurde nicht nur diskutiert, sondern auch gesungen: Revolutionslieder wie „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ oder Landknechtslieder wie „Vom Barette weht die Feder“ und „Flandern in Not, durch Flandern reitet der Tod“. Zuweilen tanzten wir auch übermütig einen Gopak. Paul konnte sehr lustig und ausgelassen sein, aber seine Stimmung schlug oft jäh um, und dann wurde er entweder grüblerisch, in sich gekehrt oder ironisch, sarkastisch. Er war ein leicht verstimmbares Instrument, von mimosenhafter Empfindsamkeit, narzisstischer Eitelkeit, unduldsam, wenn ihm etwas wider den Strich ging oder jemand ihm nicht passte, zu keinerlei Konzession bereit. Das trug ihm oft den Ruf ein, hochmütig zu sein.
Einmal hatten wir eine Zusammenkunft bei einem unserer Genossen, dessen Haus in einem Garten lag. Wir hatten wie üblich gelesen und diskutiert, da kam jemand und sagte, er wäre beschattet worden und hätte den Eindruck, man beobachte das Haus, woraufhin wir zu johlen anfingen, als feierten wir eine Orgie, und zwei, drei der Anwesenden, die sich für besonders gefährdet hielten, aus dem Fenster sprangen und über die angrenzenden Gärten das Weite suchten. Im Sommer, wenn es sehr heiß war, trafen wir uns auch im Freien unter einer Zugbrücke oder wanderten über die von „Schwaben“ bewohnte Vorstadt Rosch auf den Tzetzina-Berg und hielten dort im Wald unsere Geheimsitzungen ab. Auch unter Ilse Goldmanns Leitung beschränkte sich unsere politische Tätigkeit auf Geldspenden für die Rote Hilfe, für die wir unser spärliches Taschengeld opferten, aufs Erlernen des Morsealphabets für den Fall, dass wir verhaftet werden sollten, aufs Lesen und Kommentieren marxistischer Texte, aufs Übersetzen von Auszügen aus dem Gelesenen oder ihrer Zusammenfassung in rumänischer Sprache, um sie auch den wenigen christlichen Genossen, meist rumänischen Pfarrerssöhnen oder ruthenischen Arbeitern, zugänglich zu machen.
Es wäre völlig falsch anzunehmen, dass Pauls Interesse zwischen seinem vierzehnten und achtzehnten Lebensjahr vorwiegend der Politik, der revolutionären Bewegung galt. Wohl las er damals auch, wie wir alle, Bücher von Silone, Upton Sinclair und Traven, die Städtetrilogie von Schalom Asch, die Werke von Maxim Gorki und anderes in diese Richtung Weisende, doch sein Augenmerk richtete sich vor allem und in zunehmendem Maße auf Lyrik.
Während Ilse Goldmann, zu jener Zeit noch sture Dogmatikerin, unbeirrt an ihrem Glauben festhielt – erst die unmittelbare Tuchfühlung mit der Sowjetwirklichkeit und die furchtbaren Kriegserlebnisse sollten sie gründlich heilen –, fielen Paul bereits die Schuppen von den Augen, als er Näheres über die Moskauer Schauprozesse erfuhr und besonders nachdem er Gidés Retouches à mon „Retour del’U.R.S.S.“ gelesen hatte. Als die Russen im Juni 1940 in Czernowitz einmarschierten, war Paul daher längst kein Anhänger der kommunistischen Ideologie mehr und war auch als Student der nunmehr ukrainischen Czernowitzer Universität nicht politisch aktiv, sondern konzentrierte sich auf das Erlernen einer neµen Sprache, des Russischen, das er auch in erstaunlich kurzer Zeit beherrschte. Während die meisten von uns noch mit den Schwierigkeiten der Alltagssprache kämpften, ging er schon daran, Jessenin zu übersetzen, und machte mich mit diesen mir bis dahin wenig bekannten Gedichten vertraut. Pauls Zweifel an den Idealen seiner frühen Jugendjahre oder besser gesagt an ihren Verwirklichkeitsmöglichkeiten erklären auch die Tatsache, dass er, im Gegensatz zu Ilse Goldmann und vielen seiner Kommilitonen, beim Vormarsch der Hitlertruppen nicht ins Landesinnere der Sowjetunion flüchtete, sondern ebenso wie seine damalige intime Freundin Ruth Kraft und ich in dem von den Rumänen zurückeroberten und anfangs von deutschen SS-Truppen besetzten Czernowitz blieb. Dass eine Gefahr auf uns zukam, war uns natürlich klar, wie groß ihr Ausmaß sein sollte, konnten wir zu jenem Zeitpunkt allerdings nicht ermessen. Dabei hatte Paul äußerst feine Antennen, mit denen er geradezu hellseherisch künftige Ereignisse registrierte. Als Beispiel für diese Behauptung möchte ich die Stelle aus einem Brief anführen, den er mir von unterwegs nach Frankreich schrieb und den ich leider nicht mehr besitze, so dass ich nur aus dem Gedächtnis den ungefähren, Wortlaut wiedergeben kann.Wir hatten gerade Manfred Hausmann für uns entdeckt. Ich war in sein Zimmer in der Masarykgasse hinaufgekommen, um ihm zu seinem bevorstehenden Geburtstag, den er nicht mehr zu Hause verbringen sollte, und als Gegengeschenk für den Band Lampioon küsst Mädchen und kleine Birken, den ich von ihm erhalten hatte – wir sind beide Novemberkinder –, einen Gedichtband von Hausmann zu überreichen.
Er saß auf seinem Bett, über dem eine Reproduktion von Van Goghs „Pietà“ nach Delacroix hing, ich ihm gegenüber vor der Bücheretagere auf einem Stuhl. Es herrschte Abschiedsstimmung. Er war aufgeräumt und erwartungsvoll, ich eher traurig und deprimiert. Wir sprachen über die Birke, unseren liebsten Baum. Und daran anknüpfend, schrieb Paul mir von unterwegs – es war der 9. November 1938, an dem er seine Reise antrat, der Tag, welcher der berüchtigten „Reichskristallnacht“ vorausging, was er damals aber noch nicht wissen konnte –, er schrieb also ungefähr die Sätze: Ich fahre nun durch einen deutschen Birkenwald. Wie sehr ich mich nach dem Anblick dieser Landschaft gesehnt habe, weißt Du, Edith; doch wenn ich über den Wipfeln der Bäume die dichten Rauchschleier hängen sehe, graut es mir, denn ich frage mich, ob dort wohl Synagogen brennen oder gar Menschen…
Diese Eindrücke sollten sich viel später in dem Gedicht „La Contrescarpe“ aus dem Band Die Niemandsrose niederschlagen, in dem es heißt:
[…] Verjährtes
geht jung über Bord:
Über Krakau
bist du gekommen, am Anhalter
Bahnhof
floß deinen Blicken ein Rauch zu,
der war schon von morgen […]
Im Sommer 1939 aus Tours heimgekehrt, schwärmte Paul für Aragon und Éluard, Camus und Breton, Autoren, die uns bis dahin unbekannt gewesen waren, und plädierte für den Surrealismus, der uns Daheimgebliebenen zunächst nur befremdete.
Während Paul nach dem Einmarsch der Russen sein Philologiestudium fortsetzte, besuchte ich das Konservatorium und hatte zugleich eine Stelle als Musikpädagogin in Kindergärten. Ich musste den Kindern russische und ukrainische Lieder vorsingen und sie mit ihnen einüben. Da ein Großteil der Kinder jedoch nicht aus dem Innern der Sowjetunion, sondern aus Czernowitz stammte und zu Hause deutsch sprach, bestand Paul darauf, dass ich für die Weihnachtsfeier mit allen Kindern auch ein Lied in deutscher Sprache einstudierte, das er mir mitbrachte und von dem ich bis heute leider nicht weiß, ob es von ihm selber verfasst wurde oder wer sonst den Text, den ich bislang in keiner Sammlung von Weihnachtsliedern gefunden habe, geschrieben haben mag. Dies habe ich angeführt, um darauf hinzuweisen, wie sehr Paul angesichts der Russifizierungsbestrebungen der Sowjets die Pflege der deutschen Sprache am Herzen lag.
Aus den bösen Kriegsjahren der Verfolgung durch die Nazis sind mir die wenigen Urlaubstage, die er in unserem Haus verbrachte, besonders gegenwärtig. Nach der Deportation seiner Eltern, die ihn zutiefst verstört hatte, wurde er in ein Arbeitslager in der südlichen Moldau zwangsverpflichtet. […]
Als der Straßenbau bei Einbruch des Winters der schlechten Witterung wegen zeitweilig unmöglich geworden war, durfte Paul für kurze Zeit heim. Doch er hatte ja in Czernowitz kein Heim mehr, klagte über die Wohnverhältnisse beim Großvater, der wie durch ein Wunder nicht nach Transnistrien „umgesiedelt“ worden war, und so nahm meine Mutter ihn bei uns auf.
Ich sehe ihn noch in der für ihn so typischen Gangart schlendernden Schrittes den Veteranenberg herunterkommen, den fast knöchellangen grauen Mantel trotz beißender Kälte aufgeknöpft, die Zigarette in der Linken, den rechten Arm weit ausgestreckt wie eine Schwinge, den Kopf leicht seitwärts geneigt, das blasse Gesicht schmal und ernst, eine El-Greco-Gestalt. Einmal nur gelang es uns damals, ihn zum Lachen zu bringen, als er das an Kragen und Ausschnitt bunt bestickte lange Nachthemd meines Vaters übergestreift hatte und in die allgemeine Heiterkeit einstimmte, die dieser Aufzug in unserer Familie auslöste. Sonst aber blieb er verdüstert und wortkarg, bis er wieder fortmusste. Aus dem nahegelegenen Knabeninternat, in dem russische Soldaten gehaust und bei ihrem Abzug alles, was sie nicht mitnehmen konnten, vernichtet hatten, war es meiner Mutter gelungen, einen kleinen Sack Perlgraupen zu ergattern, in den leider aus einem umgeworfenen Kanister Petroleum eingedrungen war. Mit der aus diesen Graupen zubereiteten Grütze, die wochenlang unsere Grundnahrung war, musste nun auch unser Gast vorliebnehmen. Zum Glück gab es auch noch andere Vorräte im Haus, mit denen wir ihn ein wenig aufpäppeln konnten. Meine Mutter brachte es sogar zustande, eine „Schmettentorte“, sein Lieblingsgebäck, für ihn zu backen, woran er sich noch nach Jahren voller Dankbarkeit erinnern sollte. Als wir bereits längst im Westen lebten und er uns einmal in Düsseldorf anrief, um uns seinen Besuch anzukündigen, sagte er im Scherz:
Ich komme nur, wenn deine Mama mir wieder Schmettentorte macht.
Diesmal fiel es uns natürlich leichter, ihm diesen kulinarischen Genuss zu bieten.
Ebenfalls aus der Zeit der Verfolgung ist mir noch folgende Begebenheit im Gedächtnis: Nach Einbruch der Dunkelheit durfte bekanntlich kein Jude auf die Straße. Paul hatte, bei einer Freundin weilend, die Sperrstunde überschritten und seinen gelben Stern daher auf dem Heimweg abgenommen. Er wurde von zwei Rowdys als Jude erkannt und zusammengeschlagen. […]
Ende April 1945 gelang es uns beiden, in kurzer Aufeinanderfolge Czernowitz zu verlassen und uns nach Bukarest durchzuschlagen. Der 9. Mai, an dem Glockengeläut den langersehnten Frieden verkündete, war für uns von persönlichen Enttäuschungen überschattet. Paul sollte diese jedoch sehr bald überwinden. Er lernte neue Menschen kennen, freundete sich mit ihnen an, verkehrte im Kreise der rumänischen Surrealisten, übersetzte Bücher aus dem Russischen, begann zuweilen in rumänischer Sprache zu dichten, trug sich jedoch wie wir alle aus Czernowitz in der Hauptstadt Gelandeten von Anfang an mit dem Gedanken, auf legalem oder illegalem Weg in den Westen, nach Wien, zu kommen. Gewiss hängte er diese Absicht nicht an die große Glocke, doch seine engsten Freunde wussten, welche Pläne er schmiedete. Sie hofften, er würde sie zusammen mit ihnen verwirklichen, hielten zu diesem Zweck Geld bereit, leiteten in dieser Richtung Maßnahmen in die Wege; sein Freund Weißglas wartete mit gepacktem Rucksack, um geholt zu werden, doch Paul hatte eine Möglichkeit ausfindig gemacht, ohne ihn schwarz über die Grenze zu gehen, und nutzte sie; ohne Anhang war die Flucht leichter, Paul mußte nicht wie manche von uns familiären Verpflichtungen Rechnung tragen. Als wir von seinem Verschwinden erfuhren, fühlten wir uns im ersten Augenblick freilich wie hintergangen, waren aber dann doch froh, dass wenigstens er das ersehnte Ziel erreicht hatte.
Mir sollte dies erst siebzehn Jahre später vergönnt sein. Ich hatte inzwischen den Rechtsanwalt Dr. Silbermann geheiratet, den Paul noch aus Czernowitz bestens kannte und überaus schätzte. Er und nicht mein Vater hatte ihn auf Kafka und Hofmannsthals „Lord-Chandos-Brief“ hingewiesen und ihn darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Brief sich auf Hofmannsthals persönliche Krise bezöge und keineswegs besagen wolle, dass die Lyrik im allgemeinen an der Grenze des Schweigens angelangt und zum Verstummen verdammt sei. Als Beispiel Gundolf anführend, legte Dr. Silbermann Paul auch eine Namensänderung nahe. Gundelfinger wäre nie berühmt geworden, hätte er den Finger aus seinem Namen nicht weggelassen, gab Dr. Silbermann Paul zu bedenken. Als Paul wenige Jahre später in Bukarest seine Übersetzungen mit Ancel statt mit der bisherigen deutschen Schreibweise Antschel zeichnete und Alfred Margul-Sperbers Gattin Jessika ihn zum Anagramm Celan anregte, nahm er diesen Vorschlag daher dankend an.
Dr. Silbermanns Fürsprache verdankte Paul während des zweiten Russenjahres (1944/45) den Posten als Feldscher im Irrenhaus, der ihn vor der Einberufung zum Militär bewahrte; er stellte ihm die materiellen Mittel für die Ausreise aus Czernowitz zur Verfügung und griff ihm auch in Bukarest mehrmals hilfreich unter die Arme. […]
Der äußere Anlass des Wiedersehens war die Verleihung eines Preises, mit dem das Land Nordrhein-Westfalen ihn zusammen mit dem Komponisten Křenek und dem bildenden Künstler Arp für seine Verdienste um die deutsche Kultur ehrte. Kurz bevor die Laudatio gehalten werden sollte, sprang Paul, hochrot im Gesicht, auf, rannte aus dem Saal und erklärte, er nehme den Preis nicht entgegen. Als Grund für sein befremdendes Verhalten gab er an, er habe auf dem Podium einen Mann erblickt, der sich an der von Claire Goll inszenierten Hetzkampagne gegen ihn beteiligt und abfällig über ihn geäußert hatte. Mit großer Mühe gelang es meinem Mann zusammen mit Baron Janko von Musulin, dem damaligen Geschäftsführer des S. Fischer Verlages, Paul zu beschwichtigen und von seinem Vorhaben abzubringen. Die Plagiatsaffaire Goll hatte ihn buchstäblich traumatisiert. Nachdem Gisèle, mit der er gekommen war und die wir bei dieser Gelegenheit kennenlernten, sich zurückgezogen und schlafen gelegt hatte, blieb er fast die ganze Nacht bei uns, um uns in alle Einzelheiten einzuweihen und uns sein Leid zu klagen. Mein Mann schlug ihm vor, die Sache wieder aufzurollen, Claire Goll wegen Verleumdung vor Gericht zu zitieren, damit der Spuk ein für allemal ein Ende nehme. Er bot sich an, ihn zu verteidigen, doch Paul, der eine panische Angst vor der alten Hexe hatte, wiederholte immer wieder:
Gegen die kommen Sie nicht an. Sie wird sich Thorez als Anwalt nehmen, nein, Sie kommen gegen sie nicht an.
Die Veränderung in Pauls Äußerem hatte mir einen Schock versetzt; die Zeit war an uns allen nicht spurlos vorübergegangen, aber ihm hatte sie offenbar trotz seiner großen Erfolge doch besonders übel mitgespielt. Seine Bewegungen waren schwerfällig geworden, daß Gesicht wirkte aufgedunsen, die Stirn war gelichtet, die Zähn waren schadhaft, und was mir vor allem auffiel, waren die Stoßseufzer, mit denen er alle paar Minuten seine Sätze unterbrach, und der elegische Tonfall seiner Stimme. Er besuchte uns dann noch mehrmals in den kommenden Jahren, und auch wir waren bei ihm in Paris zu Gast. Wir wussten, dass er in psychotherapeutischer Behandlung stand und äußerst gefährdet war, dennoch waren wir wie vom Blitz getroffen, als im Fernsehen die Nachricht von seinem Freitod durchgegeben wurde. Er hatte zwei, drei Wochen vorher angerufen, um uns in sonderbar mysteriösem oder vielleicht verlegenem Ton seine neue Anschrift mitzuteilen; dass es ein Hilferuf gewesen war, ahnten wir natürlich nicht. Als wir ihn in der Tagesschau plötzlich auf dem Bildschirm erblickten, war unser erster Gedanke, er hätte wieder einen Preis erhalten.
Selbstmordversuche hatte er ja auch schon früher unternommen; dass der Sprung in die Seine ihm schließlich fatal werden sollte, wiewohl er recht gut schwimmen konnte, war bestimmt kein unglücklicher Zufall. Von der Totenmaske der „Unbekannten aus der Seine“, auf die unter anderen auch sein Mentor Alfred Margul-Sperber ein Gedicht verfasst hatte, war Paul bereits in früher Jugend zutiefst beeindruckt. Das Wasser scheint eine besondere Anziehung auf ihn ausgeübt und der Tod durch Ertrinken ihn in Gedanken immer wieder beschäftigt zu haben. Dies beweisen Gedichte von ihm aus den verschiedensten Schaffensperioden wie z.B. „Schuttkahn“ (Sprachgitter 1959), „Muschelhaufen“ und „Unter der Flut“ (Lichtzwang 1970), vor allem aber die Verszeilen aus „Kenotaph“ (Von Schwelle zu Schwelle 1959), einer Grabschrift, die er bereits in den fünfziger Jahren für sich selber erdacht hat.
Edith Silbermann, in Argumentum e Silentio, International Paul Celan Symposium / Internationales Paul Celan-Symposium, ed. by Amy D. Colin, Berlin und New York: de Gruyter 1987, S. 427–443
Hans Mayer: Erinnerung an Paul Celan, Merkur, Heft 272, Dezember 1970
ZWEI CHORALVORSPIELE
NACH MELODIEN VON PAUL CELAN
1 Ave Regina Coelorum
Es ist ein Land Verloren…
Es ist ein Land Verloren
in unserem Kopf daheim.
Mondschein auf dem Gefrorenen
belebt die Köpfe von Stein.
Modi des Verbums ,starren‘,
Ichspaltung, konjugiert
aus Lüften Eiskristalle,
von Licht wird Licht glasiert.
Schau, Königin des Himmels,
verlassen treiben wir,
verlassen du mit sieben
toten Sternen über dir.
2 Te lucis ante terminum
Wir gehen dir, Heimat, ins Garn…
Du Güldenkraut mit fester Blüte
du da Erle Buche du Farn,
meine ferne Heimat Mittsommer-Nähe,
verlornen Ursprungs frische Form.
Silbrig die Schwarzkirschen im Gehäng,
aus jedem Riß trieft der Pflaumenbaum
und Bremsen saugen am grünen Dung,
die angezapfte Süße ihr Leim:
unsterbliche Flüchtigkeit, ,Weise
von Anderssein‘, selbst-erinnert,
SEI GETREU so wächst es im Geiste
wie auf Holz eine Flechte schimmert.
Geoffrey Hill
Übersetzung Werner von Koppenfels
Paul Celan: Dichter ist, wer menschlich spricht. Ein Film von Ulrich H. Kasten und Hans-Dieter Schütt mit Eric Celan und Bertrand Badiou.
Gerhart Baumann hielt seinen Vortrag Paul Celan: Um-Wege zu sich und die offene Frage des Gedichts auf der Tagung Vom Sinn moderner Lyrik am 23. Januar 1971 im Haus der Katholischen Akademie in Freiburg.
Niemand zeugt für den Zeugen. 100 Jahre Paul Celan. Literarische Soirée am 30.9.2020 im Haus am Dom Limburg.
„wir wissen ja nicht, was gilt“ – Paul Celan zum 100. Geburtstag
Ein Abend zu Paul Celan am 18.5.2020 im Literaturhaus Berlin mit Hans-Peter Kunisch und Thomas Sparr. Es moderiert Eveline Goodman-Thau.
Paul Celan, Czernowitz & die „Todesfuge“. Helmut Böttiger berichtet.
Erreichbar, nah und unverloren. Reisen zu Paul Celan. Teil 1. Gespräch mit Helmut Böttiger.
Todesfuge – Biographie eines Gedichts. Alexander Suckel im Gespräch mit Thomas Sparr am 17.4.2020 im Literaturhaus Halle.
„Ästhetik und politische Dimension der Dichtung Paul Celans“. Mit Helmut Böttiger, Thomas Sparr und Monika Rinck; Moderation: Dieter Stolz am 23.11.2020 im Literaturforum im Brecht Haus.
Paul Celan in Europa – Videogespräch am 22.9.2020 im Rahmen der trilateralen Forschungskonferenzen 2020–2023 in der Villa Vigoni.
Paul Celan übersetzen – Gabriel Horatiu Decuble im Gespräch mit Ton Naaijkens und Alexandru Bulucz, Moderation Ernest Wichner am 6.11.2021 im Literaturhaus Halle im Rahmen der Tagung „Was setzt über, wenn Gedichte übersetzt werden“.
Clément Fradin, Julia Maas und Michael Woll stellen Paul Celans Bibliothek im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor.
„Die Todesfuge. Zur Biographie eines Gedichts im Archiv“ – Thomas Sparr im Gespräch mit Jan Bürger, Kai Uwe Peter und Michael Woll
Michael Woll stellt Paul Celans Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor. Im Mittelpunkt stehen dabei die Hölderlin-Bezüge in Celans Texten.
Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kehraus mit Celan
Zwischen „Grabschändern“ und „Linksnibelungen“. Wolfgang Emmerich im Gespräch mit Michael Braun über Paul Celans Verhältnis zu Deutschland und seinen deutschen Kritikern.
Carolin Callies, Ann Cotten, Daniela Danz, Aris Fioretos, Norbert Hummelt und Rainer René Mueller kommentieren Paul Celans Gedicht „Was es an Sternen bedarf“.
Paul Celan liest Gedichte in Jerusalem am 9.10.1969
Daniel Jurjew / Klaus Reichert: Paul Celan: Ich sehe seine Hellsichtigkeit, bei anderem denke ich einfach: er übertreibt
Frankfurter Rundschau, 19.4.2020
Gregor Dotzauer: Das Eigene und das Andere
Der Tagesspiegel, 19.4.2020
Susanne Ayoub: Es ist Zeit, dass es Zeit ist
Der Standart, 19.4.2020
Sandro Zanetti: Akute Dichtung: Celans Zumutungen
Geschichte der Gegenwart, 19.4.2020
Friederike Invernizzi: Sprechen zwischen Wunde und Narbe
Forschung & Lehre, 19.4.2020
Frank Trende: Die bewegende Geschichte der Todesfuge
shz.de, 19.4.2020
Dunja Welke: Paul Celan – Ein zerrissener Dichter
RBB, 18.4.2020
Stefan Lüddemann: Paul Celan, Dichter des Holocaust, starb vor 50 Jahren
Neue Osnabrücker Zeitung, 19.4.2020
Shmuel Thomas Huppert: Erinnerungen an Paul Celan
SR 2, 26.2.2020
Christoph Bartmann: Ein Riss, der nicht zu heilen war
Süddeutsche Zeitung, 20.4.2020
Christine Richard: Ein Leben, immer nahe am Untergang
Tages-Anzeiger, 20.4.2020
Anton Thuswaldner: „Die Welt ist gegen mich losgezogen“
Salzburger Nachrichten, 19.4.2020
Klaus Reichert im Gespräch mit Niels Beintker: Erinnerungen an Begegnungen und Gespräche mit Paul Celan
BR24, 20.4.2020
Rüdiger Görner: Asche atmen: Zu Paul Celan
Die Presse, 23.4.2020
Marko Martin: Paul Celan und die „Linksnibelungen“
Welt, 27.4.2020
Evelyne Polt-Heinzl: Paul Celan Ein Migrant in Wien
Die Furche, 8.4.2020
Andreas Wirthensohn: Todesklage für die Überlebenden
Wiener Zeitung, 21.11.2020
Klaus Demus: „Eine sehr große Freundschaft“
literaturoutdoors.com, 22.11.2020
Claus Löser: Fünf Filme für Paul Celan
Berliner Zeitung, 21.11.2020
Krisha Kops: Paul Celan: Dichter, Überlebender, Heimatloser
Deutsche Welle, 22.11.2020
Ulf Heise: Lyrik als Flaschenpost
Freie Presse, 22.11.2020
Susanne Ayoub: Paul Celan: Verlust der Heimat, Trauer um die Eltern
Der Standart, 22.11.2020
Wolf Scheller: Was nicht gesagt, nur angedeutet werden kann
Der Standart, 23.11.2020
Andreas Montag: Dichter Paul Celan – Der Schleier des Herbstes
Mitteldeutsche Zeitung, 23.11.2020
Andreas Müller: Paul Celan – zum 100. Geburtstag
Wiesbadener Kurier, 23.11.2020
Stefan Kister: Unter die Deutschen gefallen
Stuttgarter Zeitung, 22.11.2020
Paul Jandl: Vielleicht war Paul Celan einmal ganz er selbst. Da spielte er die Dürrenmatts beim Tischtennis in Grund und Boden
Neue Zürcher Zeitung, 23.11.2020
Sabine Glaubitz: Er schrieb das Unsagbare auf: Nachkriegsdichter Paul Celan wäre heute 100 Jahre alt geworden
stern, 23.11.2020
Volker Weidermann: Ein Grab in den Lüften
Der Spiegel, 20.11.2020
Jochen Hieber: Im Höhenrausch mit Ingeborg Bachmann
Der Spiegel, 23.11.2020
Stefan Brams: Interview mit Thomas Sparr – Paul Celan stiftet zur Erinnerung an
Neue Westfälische, 23.11.2020
Helmut Böttiger: Die graue Sprache
Süddeutsche Zeitung, 22.11.2020
Helmut Böttiger: Auf der Suche nach einer graueren Sprache
Jüdische Allgemeine, 21.11.2020
Albrecht Dümling: Die Todesfuge in Tönen
Deutschlandfunk Kultur, 20.11.2020
Nikolaus Halmer im Gespräch mit Barbara Wiedemann: Paul Celan: „Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen“
Die Furche, 11.11.2020
Harald Seubert: Lieder jenseits der Menschen und kodierte Zeit: Paul Celan (1920–1970). Zum Gedenken
youtube.com, 15.6.2020
Celebrating Paul Celan: An Evening with Pierre Joris and Paul Auster
youtube.com, 21.11.2020
Stadtführung „Auf den Spuren von Paul Celan“
youtube.com, 10.9.2020
Paul-Celan-Literaturtage 2020. Videopräsentation vom Paul Celan Literaturzentrum Czernowitz
Ausstellung Paul Celan 100 – Unter den Wörtern
Online-Begleitprogramm zur Ausstellung Paul Celan – Meine Gedichte sind meine Vita
West-östliche Konstellationen. Internationale Tagung als hybride Veranstaltung im Lyrik Kabinett, München, sowie online.
Tagungskonzeption und -organisation: Prof. Markus May und PD Dr. Erik Schilling (Institut für deutsche Philologie der LMU München)
8.–9.10.2020
Eröffnung
Ambivalente Topographien. Rilkes Dritte Duineser Elegie und Celans „Walliser Elegie“
„West-östliche“ Lesarten im Jahrhundert nach Celan
Das Schweigen über Brücken. Orte Celans bei Robert Schindel
Abendvortrag: Todesfuge. Biographie eines Gedichts
„Wortaufschüttung“. Materialität als Indexikalität bei Paul Celan
Betreten. Zum Anfang von Engführung
Celans Draußen. Über reale und sprachliche Räume in seiner Dichtung
„Stimmen vom Galgenbaum“. Celans west-östliches Rotwelsch
Paul Celans Todesfuge interpretiert von Diamanda Galas im Teatro Albeniz, Madrid, 15.10.2008.
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