– Zu Cvetka Lipuš’ Gedicht „Die Geschichte vom Tattoo“ aus Cvetka Lipuš: Komm, schnüren wir die Knochen. –
CVETKA LIPUŠ
Die Geschichte vom Tattoo
das ein klein wenig durchschossene Herz
auf dem bewachsenen Arm
krampft den Muskel zusammen
wenn der Zeigefinger den Hahn spannt
die Tusche der anfänglichen Liebe bleicht
das eingekratzte Zeichen
dass man einmal ungeniert
auf Wunder wartete
auf eine Wolke die Schritt hält
dann der Absturz Sturz
des Sehnsuchtsengels
mit Bürstenhaarschnitt unausgeschlafen
starrt er durch das Zielfernrohr
und zielt auf die Zukunft
österreichische Dichterin Cvetka Lipuš (geboren 1966) versammelt in ihrem von Klaus Detlef Olof übersetzten Band Komm, schnüren wir die Knochen, aus dem dieses Gedicht entnommen ist, eine bemerkenswerte Bandbreite von stilistisch unterschiedlich gelagerten Texten. Vielleicht ist sogar dieses mit subkutaner Tinte arbeitende Poem etwas untypisch unter den sonst regelmäßigen zwölf- bis vierzehnzeiligen, wohl auf Hexameter hinauslaufenden, seriellen Gedicht-Zyklen. Die im Kärntner-Grenzland geborene Lipuš operiert in ihrem sechsten ins Deutsche übertragenen Gedichtband mit einem breiten lexikalischen Spektrum: Sie verwendet (von der Übersetzung abgebildete) archaisierende Raritäten wie „Häher“ oder „Schründe“, bildungsvergnügte Hochkaräter wie „Herbarium“, abenteuerliche Komposita wie „Knochenporzellan“ oder „Kratergrau“ (substantiviert) neben sonst panisch vermiedenen Anglizismen wie „Gigabytes“ oder „Konterbande“.
Dieses Lexikon ist in anderen Texten zu ansprechenden rhetorischen Figuren komponiert, wie dieser prolongierten Anadiplose aus dem Gedicht „Die Rinde der Bitte (4)“: „dem Tee folgt das Gebäck, dem Gebäck ein Käffchen, dem Kaffee der Wein, dem Wein ein Schnäpschen“ (in dem Gedicht geht es um eine Spinne, die Worte spinnt). Rhetorisch weniger durchgearbeitete Texte, wie die „Geschichte vom Tattoo“, bringen Vokabeln wie „Bürstenhaarschnitt“ rhythmisch problemlos unter, verstehen aber darüber hinaus komplexe Bilder zu erzeugen. Mehr noch: Das Tattoo vom „durchschossenen Herzen“ wird durch die sukzessive Schilderung dynamisiert, dessen Bewegung auf der Haut wird dramatisiert und dadurch auch die Bewegung des Körpers des Scharfschützen, der durchs Zielfernrohr guckt und den Zeigefinger zum Schuss spannt, sodass die Leserschaft hier mehr eine Filmszene nachverfolgt, als ein dermatographisches Stillleben anzustarren (daher auch im Titel „Geschichte“). Noch ein paar Beispiele, wie Lipuš dieses Gedicht zu einem facetten- und anspielungsreichen Drama macht: Opposition von Gewalt und Schwäche (der muskulöse Arm und das „klein wenig durchschossene Herz“), das Zögern oder Unbehagen des Schützen („krampft den Muskel“), die zeitliche Verortung der Szene im Frühlicht („unausgeschlafen“). Oder: Was ist mit dem „Sehnsuchtsengel“; wohin zielt ein Schütze, der zum Töten auf „Zukunft“ zielt usf.?
Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 2, 2020
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