– Zu Gonca Özmens Gedicht „Halluzination“ aus Gonca Özmen: Vielleicht lautlos. –
GONCA ÖZMEN
Halluzination
Mein Geliebter wird die Vögel betrachten,
wenn er keine Angst hat zu fallen,
ein östlicher Wind wird auf meinem Fleisch wehen,
unendlich.
Wenn es nach mir ginge,
würde ich von einem Baum klettern
und kommen, so grün, so grün von Kopf bis Fuß,
von Kopf bis Fuß Groll und Zweifel
ist im Besitz einer raren Sprache, die ihre Übersetzerin Monika Carbe offenbar in ein herrlich verwünschtes Deutsch zu übertragen wusste. Ohne dass die Dichterin daran gedacht hätte, gewinnt man den Eindruck, das Subjekt im alttestamentlichen Gesang der Gesänge sei weiblich „komm … / wehe durch meinen Garten / dass seine Balsame rieseln!“ Doch dieses Gedicht der in Burdur geborenen promovierten Anglistin ist keineswegs eine schlichte Liebelei. Die Gedichte Özmens sind voller Korrespondenzen, wie zum Beispiel das Titelgedicht „Vielleicht lautlos“ zeigt: „Der Wald bereitet sich auf die Nacht vor, / gemächlich entkleidet er sein Grün. // In seinem Traum ein Vogel, / der in die Wolken fliegt.“ In den letzten Jahren sind zahlreiche Gedichtbände sowohl von deutschtürkischen Autoren, die auf Deutsch schreiben, als auch in Übersetzungen aus dem Türkischen auf den Markt gekommen, die (längst überfällig) einen Resonanz- und Erfahrungsraum lesbar machen, auf den viele andere europäische Literaturen neidisch sein könnten. Vielleicht könnte man die Rezeption dieser vielgestaltigen Autoren und Autorinnen, ihre jeweils unterschiedlichen Schreibsituationen, mit der Italian-American-Literatur (besonders bis ins frühe 20. Jahrhundert) vergleichen. Man denke, hätte vielleicht ein Edmund White gesagt, an die Geschichte des ersten Professors für italienische Literatur am damaligen New Yorker King’s College: Mozarts Librettist, der Poet Lorenzo da Ponte. Es sind die vielfältigen Beziehungen, Wechselwirkungen und Neuentwürfe, die Autoren wie Carlo Tresca (1879–1943), Emanuel Carnevali (1897–1942) in die amerikanische, aber auch italienische Literatur brachten. Verlage wie der Elif Verlag in Nettetal oder der Berliner Binooki Verlag sind unerlässliche Infrastrukturen und Instanzen für solche literaturhistorische Chancen.
Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 3, 2018
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