– Zu Luljeta Lleshanakus Gedicht „Urbi et orbi #6“ aus Luljeta Lleshanaku: Die Stadt der Äpfel. –
LULJETA LLESHANAKU
Urbi et orbi #6
Angesichts von Todesopfern
werden die Dinge sehr einfach:
eine Geste, eine Grimasse, eindeutige Emotionen:
wie in einem Fresko.
Meine Mutter wäscht und kämmt sich jeden Tag sorgfältig.
Was auch immer kommen mag,
sie ist bereit.
Sie nimmt ihren Platz im Fresko ein –
zersprungen, ausgebleicht, ein Stück Putz
dort, wo etwas fehlt.
Eine Hand streckt sie nach mir aus,
mit der anderen hält sie den Mantel zusammen,
ihre Nacktheit bedeckend,
aber endlich vollendet;
und trotzdem genauso einsam
und keiner ist daran schuld.
auf Autorinnen wie Luljeta Lleshanaku treffen und dabei für ein Publikum, das z.B. kein Albanisch spricht, den Blick in die Herzkammern eines anderen poetischen Organismus freigeben, so ist man zunächst vom neuartigen Lesestoff enorm berührt. Wenn aber eine solche literarische Liaison auch zu packenden Porträts der Autoren und ihrem schriftstellerischen Kontext führt, beispielsweise in Form eines schlichten Nachworts, dann ist dies mehr als eine Beigabe: „Ihr Geburtsort, die Stadt Elbasan, in einer Talebene am Fuß des Mittelgebirges gelegen, und das Geburtsjahr 1968 machten sie zu einer Expertin für kontrolliertes Verhalten. Kindheit und Jugend verbrachte sie in der Kleinstadt Kruja, auf einem Steilhang des Küstenrandgebirges, ,wie in Quarantäne‘. […] Sie gehörten zu jenen, denen vom kommunistischen Regime eine ,schlechte Biographie‘ zugeschrieben wurde, und waren permanenten Repressionen ausgesetzt.“ Angesichts teilweise seltsam metaphysisch angehauchter Übersetzungstheorien, in denen sich meist Menschen ergehen, die wenig übersetzen, merkt man sofort, wenn eine Übersetzerin die Entscheidungsmächtigkeit der Verse im Leben „ihrer“ Autorin erlebt, sich in sie einfühlt und plötzlich eine sehr konkrete, sehr detailreiche Nachwörtlichkeit die Übersetzungsarbeit abschließt. So weiß man beim Lesen des oben zitierten Gedichts aus einem mehrteiligen Zyklus, dass die Mutter, die zusammen mit der Autorin in Tirana lebt und gepflegt wird, durch das frühere Regime mit Elektroschocks gefoltert worden war. Im Lockdown, der die Familie von Lieben in New York trennt, scheint die stoische Sorgfalt der Mutter umso rebellischer „Was auch immer kommen mag, / sie ist bereit.“ Auch die Metapher des Freskos, gepaart mit dem Topos der „Nacktheit“, gewinnt durch eine solche Information an antiker Tiefe und steigert die poetische Imagination der Leserschaft. Dass ein schlichter „Mantel“ Schutz dieser Nacktheit sei, schafft dabei eine kraftvolle poetische Reflexion auf die menschliche Fragilität.
Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 4, 2021
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