– Zu Mary Jo Bangs Gedicht „Utopische Sehnsucht wird noch absurder“ aus Mary Jo Bang: Elegie. –
MARY JO BANG
Utopische Sehnsucht wird noch absurder
Nach dem Tod des geliebten Menschen.
Nach dem Ende persönlicher Geschichte
im glasigen Blick von vorbei; gewesen,
sagt eine arktische Gegenwart. Kälte
schneidet die schwindende Wärme
des Menschen. Kälte und ihr polares
Gegenteil. Es war einmal
eine frühere Epoche
vierrädriger Rollschuhe, ein Philadelphia mit
Bürgersteig, als das Äquivalent zur Einbildungskraft
Zukunft war. Hier haben wir die Qual der
Arithmetik von eins minus eins. Die Null
im Ohne heißt eins im Sinn. So
sieht das aus. Eine Domino-Folge
nichts wird zum Schauspiel
und eine Zeitlang verfolgt,
(der Torriegel klemmt, dann klickt er)
den Stab mit der Zuckerwatte in der Hand.
mit dem Musiker, Kabarettisten und Dichter Josef Brustmann in der Kellerbar des Bayerischen Hofs in München. Es war, nachdem er die sterbelieder fürs leben zusammen mit Marianne Sägebrecht aufgenommen hatte. Plötzlich sagt er:
Du, Paul, wenn’s nach mir ging, könnte ich den ganzen Tag lang traurige Lieder singen.
Warum lesen wir Elegien? Welcher Forderung der Empathie kommen wir nach, wenn wir uns in den literarischen Lamenti, Requien, Nänien, den Elegien oder dem Blues fremder Menschen winden? Sicher, das Glück schreibt mit weißer Tinte. Die amerikanische Dichterin Mary Jo Bang (geboren 1946) offeriert das, was ihr in der Trauer um ihren früh verstorbenen Sohn greifbar wird, in Gestalt von elegisch gestimmten Texten. Aber sind Leser*innen ewig hin wie Menschen, die sich mit Rasierklingen ritzen, nur um mit offenen Wunden festzustellen, wie der Übersetzer Matthias Göritz im Nachwort notiert:
Scheitert das Gedicht in der Darstellung, tut es genau das, was wir erleben, wenn wir trauern.
Wer sind diese Athleten der Trauer? Ist Mary Jo Bangs veröffentlichendes Schreiben, ihr exponiertes Ringen mit dem Verlust, eher eine Anmaßung oder ein Wachrufen, ein Berühren des genuin Humanen in uns? In einem anderen Gedicht rückt die Dichterin, die heute in St. Louis lehrt, die Elegie zurück ins Theater, in die Nähe der Threnodie:
Die Rolle der Elegie ist
es, der Tragödie eine Totenmaske anzulegen,
den Spiegel zu verhängen.
Sich zu verneigen vor der kulturellen
Debatte über die Ästhetisierung der Trauer.
Das Harte an diesen Elegien für einen verstorbenen Sohn ist vielleicht, dass sie – ähnlich wie die Pietà – gegen die kathartische Lösung, an die sich Aristoteles noch klammerte, revoltieren und aufbegehren: Sie verglühen schamlos in aller Zuversicht ledig gewordenem Schmerz.
Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 1, 2019
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