– Zu Milena Markovićs Gedicht „schwere flügel“ aus Milena Marković: bevor sich alles zu drehen anfängt. –
MILENA MARKOVIĆ
schwere flügel
nebel fiel auf die leuchtreklame
vögel schwimmen und setzen sich auf mein dach
und erzählen
schlagen mit den flügeln
wenn diese vögel hereinkämen
wenn sie hereinkämen
wenn er hereinkäme
würde mich der nebel dann bedecken
und der vogel mir die augen austrinken
oder würde sich der vogel verirren
und der nebel sich lichten
vor meinen vögeln aus den ohren
und meinem nebel aus dem mund
daneben mehrere Gedichtbände: Es drücken sich in vielen Gedichten Milena Markovićs nicht nur unterschiedliche Stimmen, sondern auch zahlreiche Figuren in kurzen Rollentexten aus – ein betrunkener Rentner, ein Landstreicher, eine Märchengestalt und andere robuste Persönlichkeiten, die viele Flüche und Schimpfworte in die Verse setzen. Die 1974 im Belgrader Stadtteil Zemun geborene Schriftstellerin jedoch versteht – neben einem eher soziologisch geschulten Blick auf in der Gesellschaft marginalisierte Figuren – auch den inneren und innersten Bezirk der Seele zum Fundort poetischer Sujets zu machen. Was sich in den vier Eingangsversen in fast filmischer Ikonizität darbietet, verwandelt sich sogleich konjunktivisch und konditional zur Reflexion, zur Reverie – zur surrealistischen Introspektion. Die schauerliche Szene an Dach und Fassade des Wohnhauses wird zum inneren Seelenbild, in dem sich Angst, Wahnvorstellung und Erlösungswunsch vermischen. Schließlich vollzieht das Gedicht eine Inversion: Nebel und Vogel, die „hereinkämen“, treten aus Ohr und Mund des hier verhandelten Subjekts heraus. Doch schon im Zentrum dieser Verse – „wenn sie hereinkämen / wenn er hereinkäme“ – ereignet sich eine Morphose zwischen Einzahl und Mehrzahl bzw. zwischen dem Signifikat des grammatischen Pronomens (Vogel oder Nebel). Die obige Variante des Gedichts entspricht im Übrigen einer posthum veröffentlichten Übersetzung von Peter Urban (1941–2013), der ja bekanntlich zahlreiche Stimmen aus dem slawischen Sprachraum dem westlichen Publikum näherbrachte.
Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 3, 2017
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