– Zu Pier Paolo Pasolinis Gedicht aus „Die Glyzinie“ aus Pier Paolo Pasolini: Nach meinem Tod zu veröffentlichen. –
PIER PAOLO PASOLINI
aus: Die Glyzinie
Doch noch einmal: Sie sind nicht unberührt
vom Leben, sie sind Grabes-Wiedergänger,
die die Barbarei des Sagens nachbeten,
noch ohne über das Wort
zu verfügen, reines Violett über dem Grün…
Ich war tot, inzwischen wurde es April,
und die Glyzinie war da, blühte auf.
Wie zart ist dieser Leichenfarbton,
der das Gemäuer der Villa Sciarra überzieht,
auserwählt, vorausdeutend auf das
Ende der Zeit, die immer gefräßiger wird…
Verflucht seien meine Sinne,
die so geübt sind und immer waren,
doch nicht genug, um von den alten, neu
erwachten Blüten nicht versucht zu werden!
ganz ähnlich wie der mutige Serhij Zhadan in seinem Band Antenne (2020), der in Ghana geborene Dichter Kwame Dawes die Stimmen von schwarzen, verstorbenen Frauen der Jim-Crow-Ära in South Carolina aus den Gräbern wiederkehren. Dieser Gedichtband, darin Zorn und Schrecken, aber auch Individualität und Stolz der verstorbenen Frauen wieder auferstehen, um es kurz zu machen, trägt den Titel: Wisteria, Swamp Country. Schnitt. Der Poesie aus der zweiten Lebenshälfte Pasolinis (ab 1955) schenkt nun die Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin Theresia Prammer eine tonlagenreiche Nachdichtung, worin sich auch dieser Ausschnitt des sich mehrseitig essayistisch, in wütenden Tiraden und Anrufungen entspinnenden Poems „Il glicine“ findet. In das Sinnbild der Glyzinie presst der Dichter eine gesamte Genealogie des Aufblühens angesichts von Ruinen, die zyklische Erneuerung des Begehrens angesichts einer abgestumpften Welt, in der alte Festungen, alte Konventionen, alte Institutionen, Regeln, Mythen, aber auch Moden, Gier und Hass jeglichem Blühen entgegenschlagen. An einer späteren Stelle schreibt Pasolini:
Du, der du rücksichtslos wiederkehrst,
nicht verjüngt, sondern nachgerade neugeboren,
Furor der Natur, der allersüßesten,
du drückst mich nieder […].
Theresia Prammer notiert in ihrem Nachwort:
Trotz ihres unverhohlen autobiographischen Charakters erschöpfen sich die Stücke […] nicht im Selbstporträt, verblüffen vielmehr durch die Konsequenz, mit der sie das persönliche Pathos in jedes andere Anliegen hineintragen.
So klettert der violette Traubenflor, „dieser Leichenfarbton“ der hinblühenden Glyzinie aufgespannt im Paradox von „spaurita, desiderio di morte“, von „Erbarmen, Todessehnsucht.“ Sodass hier das Florilegium eines einzigen Poems stimmhaft macht, performativ behauptet, zum Textkörper gestaltet, was bei aller Unterdrückung und Widrigkeit dasteht, selbst wenn „[…] die Welt / nur Grausamkeit enthält, und Zorn hegt meine Seele“.
Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 2, 2022
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