Paul-Henri Campbell: Zu Polina Barskovas Gedicht „Aus dem Tagebuch des verrückten Vaclav“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Polina Barskovas Gedicht „Aus dem Tagebuch des verrückten Vaclav“ aus Polina Barskova: Mutabor. –

 

 

 

 

POLINA BARSKOVA

Ich war Bergmann. Und das Wasser floss,
Befüllte meine ergrauten Augen.
Meine Schwester, lustig und lebhaft,
Hütete vortreffliche Herden.

Ich war Soldat. Ich hatte Angst, zu leben.
Umzukommen gelang mir einfach nicht.
An meine Hütte klopfte eine Königstochter
Und schenkte mir einen Zauberfaden.

Wenn die Trompetenmelodie zu Ende ging,
Versuchte die Klinge, sie zu wiederholen.
Ich war Sklave. Die Herrin brannt vor
Schändlicher Begierde nach den Slawen aus der Dämmerung

Des Himmels Abendgrüne schien mir seltsam.
Vor Gram tanzte ich auf einer Holzbühne,
Schwankte und zitterte.

 

Homer Simpson ist auf der Suche

nach einem neuen Auto, nachdem die Familienkutsche in einem Schneesturm zu Bruch gegangen ist: Er landet bei einem Gebrauchtwagenhändler, über dessen Geschäft ein großes Transparent hängt: „Crazy Vaclav. Place of Automobiles.“ Die Episode heißt Mr. Plow. Vielleicht ist Polina Barskovas Vaclav-Variation nicht sehr weit entfernt von den kleinen Spielfiguren aus der polnischen, tschechischen und ostdeutschen Volkskunst, die kleine uniformierte Bergmänner mit Trompeten in bukolischen Szenen platziert. Und so sehr in diesem Gedicht persönliche Mythologie und märchenhafte Stoffe ineinandergreifen, so sehr hier etwa Motive aus der russischen Volksmärchensammlung von Alexander Nikolajewitsch Afanassjew (1826–1871) an die Geschichte des 20. Jahrhunderts angelehnt sind, so sehr scheint diese kleine Ansammlung an Versen unverkennbar ein Kaleidoskop an Themen und Symbolen aus einer idealisiert bürgerlichen Sensibilität und Weltsicht zu entwerfen (oder zu ironisieren): Da ist der schwermütige Soldat, zu ängstlich zum Leben, zu feige zum Sterben; dort ist zwiespältige Trompetenmelodie, die trötender Sirenengesang und gramvolles Holzbühnentanznarkotikum zugleich ist. Doch die 1976 in Leningrad (Sowjetunion) geborene Dichterin und Literaturwissenschaftlerin, die fast ihr gesamtes Arbeitsleben in den USA verbracht hat und heute an der UC Berkeley lehrt, mischt die Karten auf eine raffinierte Weise, sodass ihre Poeme zu faszinierenden Amalgamen werden, in denen der Raum für Imagination, Stoffgeschichte und Biografie weit bleibt. Ihr Übersetzer Daniel Jurjew ordnet in seinem informativen Nachwort die Arbeit der Dichterin in den räumlichen und geografischen Kontext ein: Polina Barskova sei geprägt von der Perestrojka und dem Kollaps der Sowjetunion, auf intimer Tuchfühlung mit der Petersburger klassischen Moderne und zugleich von ihrer Auseinandersetzung mit kollektiven Traumata (etwa der Blockade Leningrads) beeinflusst, die sie – gleich einem Befreiungsschlag – zur absurdistischen Poetik eines Daniil Charms und dem Surrealismus geführt hätte. Auch den erzählerischen Zug vieler ihrer Poeme hält er fest. „Das Ergebnis“, schreibt Daniel Jurjew, „lässt sich als surrealer Selbstfindungstrip auffassen, an dessen Ende man versteht, dass die Schuld an allem, der Grund fürs Märchen bei einem selber liegt, den die Letter beschworen hat aus Dunkel und Gewoge.“

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 1, 2023

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