Paul-Henri Campbell: Zu Rafael Cadenas’ Gedicht „Wie du mich zwingst,…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rafael Cadenas’ Gedicht „Wie du mich zwingst,…“ aus Rafael Cadenas: Klagelieder im Gepäck

 

 

 

 

RAFAEL CADENAS

Wie du mich zwingst,
mir das
Anwesende
zu zeigen,
das jetzt Reglose,
das niemals zum
Stillstand kommende. Prompt
fürchte ich, abzuirren.
Ich will Fragen stellen,
aber die Erde
ist leer
wie wir,
die nichts mehr erwarten
die das Nichts bewässern
denen die Diskurse ausgegangen sind,
die sich eine widerwärtige Geduld antrainiert haben,
die die neuen Gebäude bauen mussten
über dem Schutt und der Asche des 20. Jahrhunderts

 

Obwohl das Leben von Rafael Cadenas

mehr als zwei Drittel des 20. Jahrhunderts durchmisst, ist dieses Gedicht eines heute 89-Jährigen (geb. 1930) getragen von einer fast anmaßenden Hoffnung gegenüber den Bewohnern des 21. Jahrhunderts. Gleichwohl spuckt der Mund des venezolanischen Dichters das verflossene 20. Säkulum aus wie eine verdorbene Frucht: nichts als „Schutt“ und „Asche,“ nichts als Menschen mit einer sich wohl mit allen Übeln akkommodierenden „widerwärtige Geduld“, nichts als verbrauchte „Diskurse“. Doch seine deutschen Übersetzer wollen dieses Kind des 20. Jahrhunderts nicht so einfach davonkommen lassen: zuerst sollte sich der im Südosten Venezuelas geborene Großdichter der hispanophonen Literatur einer kritischen Rezeption unterwerfen, wollen seine „Diskurse“ tatsächlich auf ihre Erschöpfung hin geprüft sein. Denn obwohl der Dichter kurzzeitig nach Trinidad und Tobago ins Exil gegangen war, trat er als Kommunist der Militärdiktatur von Marcos Pérez Jiménez (1952–1958) entgegen. Doch anders als etwa bei dem junge Muammar al-Gaddafi ist das Denken von Rafael Cadenas nicht durchzogen von sowjetischem Propagandamarxismus, sondern ist – ähnlich wie bei Steve Biko in Südafrika – geboren aus einer intensiven philosophischen Reflexion auf die individuelle Autonomie und Würde. Zusammen mit Figuren wie dem Historiker Manuel Caballero oder dem Künstler Jacobo Borges gründete Cadenas eine Gruppe politisch aktiver Intellektueller namens Tabla Redonda und übersetzte Autoren wie D.H. Lawrence, Walt Whitman, Konstantin Kavafis, Tadeusz Rózewicz ins Spanische. Vielleicht sind aus diesem Grund seine ethisch-politisch gefärbten Gedichte, die jetzt in Übersetzung vorliegen, so zukunftsoffen und gespickt mit Kraft und Zuversicht und zugleich selbstkritisch und bescheiden.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 4, 2019

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