Paul-Henri Campbell: Zu Yael Dean Ben-Ivris Gedicht „Meine Mutter erzählt mir von ihrer Mutter“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Yael Dean Ben-Ivris Gedicht „Meine Mutter erzählt mir von ihrer Mutter“ aus Gundula Schiffer und Adrian Kasnitz (Hrsg.): Was es bedeuten soll. Neue hebräische Dichtung in Deutschland

 

 

 

 

YAEL DEAN BEN-IVRI

Meine Mutter erzählt mir von ihrer Mutter

Der Kopf meiner Großmutter versinkt im Körper, wie ein Knopf im Knopfloch
und ihr Körper streicht sich aufs Bett wie auf Brot.
Ihre Augen blicken schon nicht mehr nach draußen
Jemand hat sie von innen nach außen gestülpt.
Jetzt sieht sie Leute durchs Haus wandern
wo nichts ist, und was da ist sieht sie nicht.
Meine Mutter kauft ihr Bücher, in ihrer Muttersprache, Deutsch
und legt sie neben ihr Bett.
Sie zäunt das Bett mit einem Gitter ein.
Meine Großmutter weint und rüttelt am Gitter
vor und zurück. Wehrt sich gegen das Einsperren.
Sie vergisst die Zusammenhänge, die Verhältnisse.
Meine Mutter ist nicht ihre Tochter,
sie ist nicht ihre Mutter.
Immer wieder geht, in meinen Augen, ihr Haus verloren.
Sie vergisst wie viele Kinder sie hat
Sie macht das tote Kind wieder lebendig.
Alles ist vergessen und vergraben
weil sie wieder zu einem glatten Blatt wurde
auf dem alles was dort steht entgleitet und flieht.

 

Die 1980 in Haifa geborene Dichterin

Yael Dean Ben-Ivri schreibt Gedichte, die die Nahbeziehungen von Menschen in einer universalen Sprache ausdeuten (Gedichtband: A Ghost of What Was Once Home, 2014). Wie beispielsweise in diesem matriarchalischen Dreischritt, darin die Mutter der Tochter über deren Mutter berichtet. Das Gedicht präsentiert sich also als Erzähltes und dramatisiert die Spannung von Erinnern, Hinfälligkeit und zwischenmenschlicher Sorge. Elementare Vergleiche, etwa Kopf/Knopf oder Körper/Brot, führen die Gestalt der Großmutter ein und färben sie, wie durch einen Kommentar, poetisch ein. Der alters- oder krankheitsbedingte Verlust der Erinnerung lässt z.B. die Bindungen zum Nachwuchs verblassen („Meine Mutter ist nicht ihre Tochter / sie ist nicht ihre Mutter“). Die deutschsprachigen Bücher, die die Mutter für die Großmutter einkauft und „neben ihr Bett“ hinlegt, bleiben für die „von innen nach außen“ Gestülpte getrennt, denn diese „zäunt das Bett mit einem Gitter ein“.
Wie Gespenster erheben sich in diesen späten Stunden des Lebens auch die Traumata der Kindheit und Jugend: „Meine Großmutter weint und rüttelt am Gitter vor und zurück. Wehrt sich gegen das Einsperren.“ Oder ist es die vielfach beängstigende Erfahrung von allen durch Gebrechlichkeit ans Bett gebundenen Menschen? Sicherlich, über das Abschiednehmen ist schon viel traurige und berührende Poesie verfasst worden. Doch Yael Dean Ben-Ivri, die (selbst Mutter) mit zwei Kindern in Berlin lebt, schenkt ihren Leser*innen hier ein besonders zartes Requiem, das die in Sprache gegebene Inszenierung von Vergessen an die segensvolle Sprachlosigkeit des „wieder glatten“ Blattes übergibt, von dem alle niedergeschriebenen guten oder schlechten Erinnerungen „entgleiten und entfliehen.“

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 1, 2020

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