WEITER
Noch hat der Tag
das Scheinen
unter der Hand
zu lesen
für die Hand
immer weiter
Zeit
abzuwinken
− Paul Wühr – seine Entwicklung als Lyriker. −
Es lassen sich wohl mindestens zwei Arten von Gedichten unterscheiden: Die einen lesen sich mühelos, erschließen sich sofort, gehen runter wie Butter, sind ehrenwert und absehbar – doch sie gehen spurlos an uns vorüber. Die andere Sorte liest sich scheinbar mühelos, erschließt sich scheinbar beim ersten Lesen oder Hören, doch ein Moment der Irritation bleibt zurück. Diese Irritation verschwindet auch beim neuerlichen Lesen nicht, und selbst einem Aufgebot erfahrener Leser gelingt es nicht, ihr Rätsel ganz zu lösen.
Grüßen wir uns und reden
wir miteinander in dieser Nacht
bis ganz Schluß und denken
uns ganz aus und wenn du
Hände an deinen Armen hast
dann umarme mich jetzt ob du
Augen hast ist gar nicht so schlimm.
Paul Wührs Gedichte vermitteln diese Spannung in besonderem Maße. Sie bleiben rätselhaft und bieten, ähnlich den Partituren, Raum für verschiedenerlei Rhythmen und Interpretationen, die nebeneinander bestehen können, ohne sich gegenseitig auszuschließen, und die dann Teilmomente einer umfassenderen, alle anderen Deutungen integrierenden Interpretation werden können. Paul Wührs Lyrik ist darauf angelegt, daß sich potentiell jedes einzelne Gedicht in den Kontext aller anderen Gedichte eingliedern (lassen) kann und sich womöglich erst vor dem Hintergrund aller Texte erschließt.
Analog dazu hätte man früher vielleicht von (Teil-)Zyklen gesprochen, die in den großen Zyklus, den Gedichtband, münden. Paul Wühr würde wohl eher von Gruppen oder Phasen sprechen. Alle Gedichte ergänzen und interpretieren die je anderen, jedes Gedicht nimmt mit seinen Worten, seinen Motiven, seinen Figuren und Tropen, seinen grammatischen Strukturen, aber auch seinen Brüchen und Leerstellen Bezug auf die vor und nach ihm stehenden, häufig ähnlichen Texte.
Dies ist bei den Grüß Gott-Gedichten (Erstausgabe 1976) noch nicht so deutlich spürbar wie bei der Rede (Erstausgabe 1979) und schließlich bei der Sage (1988). Wenn man Paul Wührs schrittweise Entwicklung als Lyriker in den vergangenen 25 Jahren ungefähr vermessen wollte, so müßte man folgendes festhalten:
Der erste Gedichtband, So spricht unsereiner (1973), ist noch ganz stark von den Originalton-Hörspielen der siebziger Jahre dominiert. In Grüß Gott haben wir eine Dominanz der dargestellten Sprechsituation, in Rede eine Dominanz der dargestellten Welt und in Sage Ellipsen und Nullpositionen in beiden Bereichen. Anders gesagt: In Grüß Gott wird sehr viel über das „Wie“ der lyrischen Rede gesprochen, die Sprechhaltung ist nicht einheitlich, die Themen sind vielfältig. In Rede haben wir eine sehr viel einheitlichere Sprechhaltung, die einzelnen Gedichte sehen sich zum Verwechseln ähnlich und verwenden (fast alle) dasselbe Wortmaterial, aus minimalem Materialaufwand wird durch virtuose Kombinatorik semantischer Reichtum gewonnen. In Sage schließlich haben wir beides, sowohl formal und inhaltlich völlig heterogene, mehrfach gegliederte Texte, als auch Kleinzyklen, die sich – wie in der Rede – äußerlich und inhaltlich gleichen. Bei zunehmend weniger Darstellung von Realität wird zunehmend mehr Bedeutung, aufgebaut.
Die wertende Literaturkritik hat es mit dieser Art, Lyrikbände zu „komponieren“, jedenfalls sehr einfach: entweder ist alles gelungen oder nichts.
Der schöne Mai ist wieder da
wie sich zum Schlafen legen mit
großen Augen
der schöne Mai der liebliche
ich bin noch dort in dieser
Zeit
mein Bruder schläft schon
die Nächte sehr gemessen schreien
an der Not.
Sehr eindrucksvoll wird hier die Idylle thematisiert und dann sofort ins … Unheimliche gewendet, entfernt an Goethes „Ein gleiches“ („Über …. allen Wipfeln ist Ruh“) oder Baudelaires „Abenddämmerung“ („Der reizende Abend ist hier, der Freund des Verbrechers“) erinnernd. In der Rede spielt der Mai als Frühlings-, Pfingst- und Revolutionsmonat eine große Rolle, er wird mit dem Hör- und Sprechwunder zu Pfingsten (Apostelgeschichte), revolutionärer Aufbruchstimmung und Fruchtbarkeit verknüpft. Immer geht es um Körpersprache und Sexualität, Sexualität und Revolution, Revolution und Freude, Freude und Trauer, Trauer und Tod, Tod und Geburt, Geburt und Sprache, Sprache und Körpersprache. Paul Wühr betreibt Weltschöpfung per Sprache, durch Umstrukturieren des Vorhandenen, zum Beispiel durch Erweiterung der Funktionen der Funktionswörter (der Partikel, Präpositionen und Pronomen), durch die ungewohnte Grammatikalität seiner Sätze, durch Neutralisierung von Modus und Tempus der Sprechakte, durch Ersetzungsoperationen, durch bewegliche, mehrfach beziehbare Wörter, Verse, Versgruppen, Satzglieder und vieles andere mehr. Die Vieldeutigkeit der Wörter wird genutzt, um Realität als immer schon versprachlichte Realität vorzuführen. Realität, so wird hier postuliert, ist überhaupt nur als sprachliche Realität verfügbar, und die „gebrochenen“ Texte bilden die Schwierigkeit ab, über Realität adäquat sprechen zu können.
Diese Gedichte faszinieren uns, bevor wir beginnen, sie zu verstehen. Sie sind den Erfahrungen unserer Kultur und der Komplexität unserer Realitätserfahrung angemessen. Diese Lyrik betreibt keine willkürliche Esoterik, sondern läßt das Bemühen erkennen, poetische Rede zu verdichten und sie bis an die Grenzen des Verstehbaren zu führen, sie ist dafür mit den wichtigsten Lyrikpreisen unserer Tage, dem Petrarca-Preis 1990 und dem Ernst-Meister-Preis 1990 ausgezeichnet worden.
Klaus Peter Harmening: Aufgestottert
Basler Zeitung, 10.2.1989
Anton Thuswaldner: Vieldeutigkeit als dichterisches Prinzip
Neue Zürcher Zeitung, 14.2.1989
Jörg Drews: Mit großem gebrochenen Pathos
Süddeutsche Zeitung, 18./19.2.1989
Arnim Juhre: Mit welcher Zahl bleibt morgen der Würfel liegen?
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 21.7.1989
Sabine Kyora: Literatur und Macht. Die anderen Schreibweise
Kultur und Macht: Deutsche Literatur 1949–1989. Hg. vom Sekretariat für Kulturelle Zusammenarbeit Nichttheatertragender Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen, Aisthesis, 1992
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– Das Interview mit Paul Wühr führte (per Fax) Michael Titzmann (Passau).
Michael Titzmann: 1. Lieber Paul: zunächst einige biographische Fragen:
1.1. Wie wird man eigentlich, gegen alle Wahrscheinlichkeit der Herkunft, aus einer (Verzeihung) eher illiteraten, eher kleinbürgerlichen Familie stammend, in der Nachkriegszeit zum Dichter? Welche (realen oder literarischen) Erlebnisse und Erfahrungen brachten Dich dazu?
Paul Wühr: Indem man sich eine andere Verwandtschaft sucht. Mein Onkel Fritz bestätigte, was ich mit zwölf Jahren mit meinem ersten Gedicht „An die Freiheit“ behauptete. Mein Lehrer Fritz Stippel stellte mich als vierzehnjährigen Dichter seinen Kollegen am Wittelsbacher Gymnasium vor und übernahm bei sich zu Hause meine Erziehung, als ich siebzehn Jahre alt war. Die Bücher, die ich mir mit zehn Jahren im Antiquariat Kitzinger in der Schellingstraße besorgte, brachten mich dazu, selbst Bücher zu schreiben. Herr Kitzinger gab mir eines Tages die Hamburger Dramaturgie. Das war vor 58 Jahren. Heute ist Gotthold Ephraim Lessing die erste Person in meinem Gedicht Salve. Res publica poetica.
Titzmann: 1.2. Wer immer denkt und schreibt, tut dies ja vor dem Hintergrund eines Universums literarischer und theoretischer Texte, die irgendwann in seiner Biographie eine Rolle gespielt haben: was waren, was sind bei Dir solche Leseerfahrungen, von denen Du sagen würdest, sie seien in irgendeiner Weise „animierend“ oder „prägend“ (gewesen)?
Wühr: Eines Tages kam ich mit der Kleist-Briefausgabe aus Schwabing zurück in die Maxvorstadt. Ich baute meine Bibliothek auf. Ein Grieche, noch zwischen Berg am Laim und Milbertshofen lebendig und untergekommen in der Bäckerei meines Vaters, war Bibliothekar: die Bibliothek wurde entsprechend ergänzt. Ich beschäftigte mich in der Hauptsache mit einer Lektüre, die zwar meinem Anspruch, aber nicht meinem Fassungsvermögen entsprach, also Kleist, Schiller, Hölderlin, Lenau. Auch Astrologie gehörte zu meinem Lesestoff. Mit siebzehn las ich Georg Trakl. Das war prägend. Ich fand seine Gedichte in der von Ludwig von Ficker in Innsbruck herausgegebenen Zeitschrift Der Brenner. Aber am meisten beeinflußte mich ein Zeitgenosse Shelleys: Francis Thompson: Jagdhund des Himmels. Dann las ich die Franzosen, voran Mallarmé in der Übersetzung von Remigius Netzer, einem väterlichen Freund.
Titzmann: 1.3. Du beginnst, im wesentlichen, nach dem 2. Weltkrieg zu dichten, wenngleich Deine erste große Publikation, Gegenmünchen erst 1970, also im Alter von ca. 43 Jahren erscheint: wie würdest Du Deine Beziehung zur Nachkriegsliteratur vor 1970 beschreiben? Und wie kommt es zu diesem langen „Vorlauf“ vor der ersten Publikation (abgesehen von den schon früher einsetzenden Hörspielen)?
Wühr: Die deutschsprachige Nachkriegsliteratur hat mich nie interessiert. Ich dachte nicht daran, etwas zu veröffentlichen. Erst 1963 wurde das erste Hörspiel vom Westdeutschen Rundfunk angenommen. Ich war mit meinen Denkspielen beschäftigt, auch wieder abseits. Überall wurde vom Verlust der Identität gesprochen und gedichtet. In „Wer kann mir sagen, wer Sheila ist?“ feierte ich diesen Verlust. Dann erfand ich poetische Sprengkörper, Institutionen sollten auffliegen, wie die Kirche in „Gott heißt Simon Cumascach“ oder „Die Rechnung“. Mit dem Jahr 1968 kam eine Zeit, in der ich – das muß ich so zurückhaltend formulieren – nicht mehr abseits stehen konnte.
Titzmann: 1.4. Du selbst hast von „einer unerhörten Lust“ beim Schreiben gesprochen (Wühr 1993, S. 19): und jetzt frag’ ich, unverschämt-neugierig, was für Dich, Dichtung und Erotik – die ja sowohl in den „dargestellten Welten“ wie (vermute ich) in den Modi des „Darstellens“ in Deinem Œuvre gut repräsentiert ist – mit einander zu tun haben?
Wühr: Ich muß gestehen, die Entwicklung meiner Rede bei verschiedenen Gelegenheiten zeichnet sich nicht gerade durch Geradlinigkeit und Kürze aus, sondern läßt nur zu gerne Abschweifungen zu. Beim Schreiben (anders als beim Sprechen) geht der Faden weniger leicht verloren: also muß auch die Produktion keine Rücksicht auf Kürze und Geradlinigkeit nehmen. Da der Text vorliegt, also überschaubar bleibt, kann in ihn quasi zurückgeschrieben werden, wobei Abschweifungen untergebracht werden können: alles, was an Bildern auftaucht, verdichtet so das Werk, die Sprache verändert sich in diesem Gedränge, muß gleichsam aus sich selbst heraus Klarheit schaffen und verbindet und trennt und erklärt und verdunkelt. Und was die Erotik betrifft: Die Sprache, also meine dauernde Rückkehr in den Text, das Eindringen in denselben ist selbst Bild des Koitus: die Sprache erklärt nicht nur und verdunkelt, sie entblößt sich auch und verhüllt sich. Jedes Wort reibt sich an einem anderen. Die Verdichtung erzeugt Feuer; ich deutete hier kurz eine germanische Sage an, um nicht in ein erotisches Loch zu fallen und als Schwätzer sitzen zu bleiben.
Titzmann: 2. Dein bisheriges Œuvre umfaßt erstaunlich viele verschiedene Klassen von „Texten“, die wiederum unter einander von erstaunlicher Verschiedenheit sind.
2.1. Deine erste Publikation – Gegenmünchen (1970) – war schon ein „Text“ (Du magst das Wort nicht, aber semiotisch ist es unvermeidbar), der sich jeder Klassifikation in Texttypen, wie sie, unvermeidlich und notgedrungen, jeder Leser, trotz aller Überschreitungen von „Gattungsgrenzen“ seit der „Frühen Moderne“, immer noch vornimmt, radikal entzieht. Dieser Text kombiniert sprachliche und nicht-sprachliche Zeichen, z.B. schematische Ausschnitte aus dem Münchner Stadtplan oder Wohnungsgrundrisse, wobei in diese ikonischen Zeichen Texte (diesmal im wörtlichen Sinne:) „eingeschrieben“ sind; er präsupponiert eine, nur unvollständig rekonstruierbare, narrative Struktur; er inkludiert Textteile, die man als „Lyrik“ identifizieren wird. Alles in allem ein – weiß Gott – radikales Experiment. Den „Herrn“, dem Du Dich – nicht-christlich – doch irgendwie verbunden weißt (?), nun in allen Ehren: aber ein solches Experiment fällt ja nicht vom Himmel – wie kamst Du dazu? Was war das für eine Konzeption von Dichtung, die diesem fulminanten Start zugrunde lag?
Wühr: Das Rollenverständnis wurde sehr früh eingeübt, wie gesagt, noch vor einer wirklichen Aussagekraft, sehr genau aber schon in der Kindheit das Bild des Dichters studiert. Der aber, was vielleicht nicht gerade modern wirkt, mußte in allen Klassen von Texten zu Hause sein. Das ist bei mir freilich nicht der Fall: In der Lyrik fühle ich mich nicht ganz zu Hause. Ich schreibe allerdings Gedichte. Da wird aber inszeniert und dramatisiert, und mit den Jahren immer mehr gedacht. Beschreibungen zähle ich gar nicht zur Poesie. Einen Roman schreiben werde ich also nie. Novalis spricht von Poesien. Ich schreibe solche, die eben poetische Gattungen nicht entschieden besetzen. Da poetische Produktion irrational vor sich geht, ergeben sich immer größere Schwierigkeiten, je entschiedener gedacht wird. Ich will andeuten: da gibt es Einbrüche in philosophische Diskurse, die nur diskursives Denken zulassen, allenfalls von Intuition vorangetriebenes Denken, wenn dieses rational bearbeitet wurde: die Intuition sollte jedenfalls nicht mehr entdeckt werden können. – Wahrscheinlich rede ich davon, um zu zeigen, was mich umtreibt.
Einen ,Herrn‘, das ist richtig, gibt es nun einmal wie einen Kopf. Etwas anderes ist es, ob man ihm dient oder ihn kontrolliert. Wenn man Oben oben sein läßt und Unten unten, arbeitet man mit an der Gestaltung der (natürlichen) Hierarchie. Man behauptet sich in der Wirklichkeit als Richtiger. Wer sagt uns aber (und der Nazaräer tut das; wenn man ihn ungefälscht sprechen läßt), ob es so einem natürlichen Herrn wirklich recht sein kann, unkontrolliert zu herrschen, ob es ihm nicht, weil es ihn anscheinend geben muß, mehr entspricht, wenn ihm widersprochen wird: unnatürlich, was in diesem Fall ,falsch‘ genannt werden kann. Hält man also diesen Herrn in Schranken, ohne ihn wegzudenken (falsch denken heißt in diesem Zusammenhang nicht wegdenken), dann, um hier abzukürzen: ist Richtig und Falsch so beisammen, wie es in aller Vernunft sein sollte. Der Herr herrscht nicht. Despotie ist ausgeschlossen. Auch Monarchie (hier im weitesten Sinn) ist Bestandteil einer vernünftigen Ordnung. Aber Gott ist kein Herr. – Was nun den Fall aus dem Himmel betrifft. Biographisch sieht das so aus, um wieder wie immer zu dichten: Ich fiel aus meiner nicht nur von mir gegründeten Familie und ging 1968 auf die Straße. Ich wollte aber keine Zeit verlieren und nahm mir vor: auf die Straße und auf die Plätze zu schreiben. Aber schon der Kauf der Farbe war zu umständlich und erinnerte verdammt an Arbeit. In Kürze saß ich wieder über meinem Blatt Papier, aber mit Zirkel und Lineal. So entstand Gegenmünchen. Für einen, der nicht beschreiben, schon gar nicht aus seinem Leben in dieser Stadt erzählen wollte, war das die Lösung. Von da an schrieb ich auf die Stadt. Ich trug meine ,Texte‘ dort ein. Das kann lustig werden, aber kaum gemütvoll oder (München!) gemütlich. Da es in München offensichtlich nur wenige Leser ohne Streben nach Gemütlichkeit gibt, wurde diese ,Gegenstadt aus Wörtern‘ bis heute kaum wahrgenommen.
Titzmann: 2.2. Mit so vielen verschiedenen „Formen“ Du auch experimentiert hast und wie sehr sie dabei umstrukturiert wurden: eine der altehrwürdigsten literarischen „Formen“, das „Drama“, wurde von Dir nicht der Ehre seiner Transformation in einen Wühr-Text gewürdigt; Du hast Dich im Gegenteil wiederholt über diesen Typ despektierlich – als in der Gegenwart intellektuell und kulturell nicht mehr adäquat – geäußert, zunächst wohl erstaunlich bei jemandem, der zumindest in der ersten Phase seiner Hörspielproduktion (1963–1968) strukturell dem („modernen“) Drama nicht unähnliche Texte geschrieben hat: wie würdest Du die Aussparung dieses Texttyps, als dem zeitgenössischen Kultursystem inadäquat, begründen?
Wühr: Als Texttyp wird das Drama nicht ausgespart. Ich habe das schon erwähnt. Wahrscheinlich ist Inszenierung, Dramatisierung die Basis meiner Poesien oder Poeme. Wenn ich mich abfällig äußerte über das Schauspiel, dann aus Enttäuschung. August Everding hatte vor vielen Jahren, um ein Schauspiel von mir gebeten. Ich schrieb ein Jahr lange an einem Jesuitendrama Exmartyr nach Bidermann. Nach der Ablieferung des Manuskripts bei den Münchner Kammerspielen wartete ich ein Jahr lang auf eine Antwort. Ein Dramaturg, den ich kannte, sagte dann bei einer zufälligen Begegnung, mein Stück habe nicht ins Konzept gepaßt. Darüber bin ich heute nicht mehr traurig. Teamwork liegt mir nicht. Da läuft zuviel auseinander, auch spielt sich alles zu langsam ab. Ich bin immer wieder zu meinem weißen Blatt zurückgekehrt. Da ich selten nur an einem Stoff arbeite, entstehen keine Stücke. Alles, könnte man sagen, geht von einem Zentrum aus und kehrt vielleicht zurück. Es handelt sich aber nicht immer um ein einziges Zentrum oder das Zentrum ist eben vielfältig. Ich kann das nicht überblicken, ich will das auch nicht. Das Kultursystem bekommt von mir keine ernstgemeinten Vorschläge. Wenn von mir Kritik geäußert wird, ist sie nicht wirklich geübt. Poesie beansprucht mich ganztätig. Solche und ähnliche Behauptungen haben vielleicht mit dem Charakter oder mit seiner Fehlanzeige zu tun, sind aber doch Ausdruck der Überzeugung, daß Poesie nur noch auf schlimmste Art den Anspruch erheben kann: notwendig zu sein; nicht für viele – aber über wenige dann doch: für ihre Zeit.
Titzmann: 2.3. O-Ton Wühr: „ich gehör’ eigentlich nirgendwo dazu“ (Wühr 1993, S. 39) und das scheint mir zweifellos richtig in dem Sinne, daß weder Du als Person noch Deine Texte, gleich welchen Texttyp sie jeweils transformieren und sich unterwerfen, sich bisher nie zu literarhistorischer Gruppenbildung angeboten haben. Ebenso richtig scheint mir aber, daß kein Autor außerhalb seines kulturellen Systems zu stehen vermag und daß literarische Qualität nicht zuletzt sich darin manifestiert, daß der Autor auf mentalitätsgeschichtliche Wandlungen seines Kultursystems reagiert. So Du z.B. in den Hörspielen: nach der ersten Phase der quasi dramenanalogen, dominant aus Figurenrede bestehenden Texte 1963–1968, die Phase der (scheinbaren) O-Ton-Hörspiele 1971–1976 (mit dem – der Zensur des Bayerischen Rundfunks verdankten – Nachzügler 1992), schließlich die Phase der gewissermaßen multimedialen, sich systematisch verschiedenster Zeichensysteme bedienenden „Gesamtkunstwerke“, der „Kompositionen“ aus Sprache, Gesang, Musik und (kodierten) Geräuschen 1986–1989. Transformationen einer Äußerungsform also, die mir mit Wandlungen unseres Denk- und Sozialsystems zusammenzuhängen scheinen. Wie also würdest Du die Relation Deines Dichtens zum jeweiligen Zustand des soziokulturellen Systems bzw. zu dessen Transformationen beschreiben? Wo ist da, bei aller abweichenden Individualität und Besonderheit Deiner Texte, der zeitgenössische „Bezug“, ohne den sie nicht lebensfähig wären?
Wühr: Ab Gegenmünchen und schon zehn Jahre vorher gibt es diesen zeitgenössischen Bezug, jedenfalls sehe ich das so. Weil – ich komme noch darauf zu sprechen – dieser Bezug im Gedicht eine ungewöhnliche Gestalt, eine andere, eine erweiterte, deshalb nur scheinbar dunkle, annimmt, werden ausgesprochen politische Gedichte in meinen Büchern als unpolitisch eingeordnet. Daß sie lebensfähiger sind als die expliziten und direkten Texte der Studentenunruhen, das wird sich noch herausstellen.
Titzmann: 2.4. Für das Werk selbst der bedeutendsten Literaten (oder, wenn Du lieber willst: Dichter) gilt doch, daß, wie sehr sie im Laufe der Zeit auch einen Strukturwandel vollzogen haben, sich Phasen unterscheiden lassen, innerhalb derer die Einzelwerke gewissermaßen Variationen innerhalb einer (abstrahierbaren) für diesen Teilzeitraum quasi-konstanten Struktur sind. Zu den ungewöhnlichen Merkmalen Deines Werks gehört nun, daß tendenziell jeder Text gegenüber jedem früheren auch strukturell innovativ ist. Als Beispiel vielleicht die 70er und 80er Jahre: neben/nach Gegenmünchen nicht nur Texte, die einen Typ, auf den sie intertextuell Bezug nehmen („Roman“, „Tagebuch“) bis an die Grenze der Unkenntlichkeit transformieren (1983, 1987), sondern dazu drei Lyrik-Bände (1976, 1979, 1988), deren jeder erstaunlich anders ist. Kaum zwei Texte funktionieren nach demselben Modell: jeder Text schafft ein neues. Falls Du meiner Behauptung zustimmen kannst: wie interpretierst Du diese radikal-innovative „Originalität“ jedes Deiner Texte?
Wühr: Warum soll nicht nur das, worum es in einem Werk geht, anders sein als im vorausgegangenen? Sollte es aber nicht auch neu sein? Und wenn es in seiner Gestalt nicht auch neu ist, was für ein Wesen ist es dann? Ist es ein Einzelwesen? So eines wie ein Mensch, aber nur zum Beispiel? Oder eines wie eines meiner Gedichte in der Solidarität der übrigen Gedichte im Buch? Warum sollte ich ein Gedicht in mein Buch aufnehmen, wenn es nicht in sich neu ist? „Kreativität ist das Prinzip des Neuen“, sagt Alfred North Whitehead. Wie kommt sich denn ein Dichter, der doch vor allem kreativ sein sollte, vor, der sich wiederholt? Das hat nichts mit seinem Thema, seinem Grundgefühl zu tun. Das hat damit zu tun, daß auch ein Buch erst zu einem wirklichen Einzelwesen wird, wenn es im Schaffen eines Autors und in dieser Welt einzigartig ist. Als Wiederholung existiert es gar nicht. „Ein wirkliches Ereignis ist ein neues Einzelwesen“, sagt Whitehead. Das Neue ist höchste Bedingung, Originalität Voraussetzung für ein Dasein, auch in der Literatur. Ob das alles nicht unbescheiden ist? Es ist der Maßstab.
Titzmann: 2.5. Natürlich gibt es in Deinem Werk auch – wenngleich sehr abstrakte – Invarianten, die es als Werk einer Person kenntlich machen. Dazu gehört wohl jene rekurrente – auf Adorno anspielende? – Fragestellung nach dem „Richtigen“ und dem „Falschen“ (und ihrer Relation), die doch, zumindest für einen längeren Zeitraum, so etwas wie ein „poetisches Generierungsprinzip“ zu sein scheint: was meinen diese Begriffe? Worum geht es bei dieser Klassifikation (die ja auch eine von Sprachformen/Formen des Sprechens zu sein scheint)?
Wühr: In Gegenmünchen taucht zum ersten Mal der Falsche auf. Das wurde von der Spieltheorie angeregt. Der Falsche war als Feind, weil nicht ausmachbar, nicht zu treffen. Wenn ich im Spaß von einer ,Lehre des Falschen‘ spreche, ist diese zwar ausmachbar im Werk, was viele schon als störend empfanden, aber nur schwer zusammenzufassen. Rede ich selber davon, beginnt das Spiel mit der Lehre sofort von neuem. – Zwar spricht Adorno vom falschen Schein, und darüber habe ich in den 60er Jahren nachgedacht, aber er denkt an die Überwindung dieses Falschen, und davon kann bei mir nicht die Rede sein. Das Falsche ist für mich so etwas wie ein Denkelixier. Wir sind ohne das Falsche verloren, könnte ich lustig formulieren. Schon das Wort irritiert. Da ist Rabulistik im Spiel: also handelt es sich um ein poetisches. Verunsicherung findet statt, wenn für ,richtig‘ ,falsch‘ steht. Es handelt sich bei dieser ,Lehre‘ vor allem um die Erschütterung der Positionen im binären System. Dieses System behauptet, unsauber formuliert: seine eigene Richtigkeit. Also muß es vor allem anderen erschüttert, verunsichert werden, keinesfalls aber beseitigt: Zerstörung ist gar nicht möglich. Ich denke in meinen Gedanken über das Falsche an eine Strategie, die vor Ort immer neu ansetzt: Alles, was seine Richtigkeit behauptet, wird angegriffen. Besonders lustig – heutzutage – ist eine Behauptung von Georg Lukács, der von einem Problem spricht, „das bereits Hegel aufgeworfen hat und der Marxismus mit der Theorie des ,falschen Bewußtseins‘ gelöst hat“. Der Marxismus ist also richtig. So einfach ist das. Wenn Nietzsche die ,Falschheit unserer Welt‘ behauptet, dekuvriert er sich als Richtiger. Auch das Falsche muß sich in meinem Spiel gefallen lassen, verunsichert zu werden. Wenn ich vom Falschen spreche, dann meine ich nicht das richtige Falsche – also eines, das seiner Richtigkeit sicher ist. Die ,Lehre vom Falschen‘ ist also keine richtige Lehre. Wenn mir das Wort Friede nicht so wenig gefiele, würde ich von einer Friedenslehre sprechen. Sie führt gegen alle Frieden, könnte man in aller Falschheit sagen.
Hier einige erotische Notizen zu dieser Lehre: Nur wenn das Falsche das Richtige penetriert, könnte man es wagen, von seiner Richtigkeit zu sprechen, weil sie sich nicht mehr behaupten kann. Prekär wird es aber, um im Binären zu bleiben, wenn eine Frau in einen Mann eindringt – hier zeigt sich die Vorliebe für Fehler, die solche gar nicht eindeutig sind – dann könnte man von einem richtigen Mann sprechen: er wird die Richtigkeit seiner Männlichkeit nicht mehr behaupten. Schaut man von hier aus das Androgyne an und somit eine interessante Formulierung von Versöhnung, dann bekommt man einen Begriff von einem Frieden, der sich als Stillegung vorführt. Die Poesie spielt, ohne sich in Gedanken festzulegen. Wie eine schlimme Feministin ist sie gegen Punkt und Komma, wahrscheinlich gegen den Satz. Ich kann in diesem Sinne damit poetologisch abschließen. Das Falsche ist gar nicht die richtige Opposition von Richtig. Also doch Versöhnung? Wenn nur das richtige Falsche (etwa bei Nietzsche) der Gegensatz von Richtig ist, dann muß das Falsche, wie es von mir gemeint ist, sowohl das Falsche – Erotik macht auch hier vieles einfacher – als auch das Richtige penetrieren: und schon – und Gott sei Dank als selbständige Gegensätze – findet gegenseitige Verunsicherung statt. Das ist so verwirrend, daß ich unbedingt noch ein genaues Verwirrspiel vorführen muß: Die Oppositionen Falsch-Richtig werden aufgelöst, nicht aber beseitigt. Das Richtige behauptet sich in der Opposition wie das Falsche, welches sich zu seiner Behauptung durchaus richtig verhält. Dringt das Falsche nun in das Richtige ein, gibt es also das Falsche im Richtigen, so kann es seine Richtigkeit nicht mehr behaupten. Dringt umgekehrt das Richtige in das Falsche ein, ist es dem Falschen nicht mehr möglich: richtig falsch zu sein. Wer jetzt das Falsche definiert, bekommt einen Begriff, der keine Opposition benennt. Dabei kommt keine Versöhnung heraus. Auch kein Friede: es gibt keinen Krieg.
Titzmann: 3. Als Leitidee Deiner Produktion hast Du mal die Ambition, „das unerhörteste Werk der Welt“ zu schreiben, formuliert (Wühr 1993, S. 15). Wer wirklich etwas will, muß, denk’ ich, tatsächlich einen solchen unbedingten Anspruch an sich haben.
3.1. Von Deinen z.T. wahrlich umfänglichen Texten (vgl. 1970, 1983, 1987, 1988 und dem auf „Folgetexte“ angelegten Werk 1994) hast Du – im selben Kontext – sowohl von „Monumentalismus“ gesprochen, als auch behauptet, alles sei „als Fragment angelegt“ (Wühr 1993, S. 111 und 114). Auch Deine Lyrikbände sind ja nicht nur „Sammlungen“ oder „Zyklen“ addierter Gedichte (also von „fragmentarischen“ Texten), sondern zugleich Gesamtkompositionen: ein Text (vgl. Rede. Ein Gedicht 1979; Sage. Ein Gedicht 1988). Natürlich schließt sich beides nicht aus: aber ich bäte um eine Erläuterung, was beides bedeutet und wie es sich zu einander verhält.
Wühr: Wenn es kein zweitrangiges Poem gibt, dann kann man auch nicht vorhaben, etwas nicht Erstrangiges zu schreiben. Das ist der Grund, warum ein Poet nicht mit Übungen anfangen kann: er muß mit seinem Hauptwerk beginnen, und zwar so lange bis er es dann auch geschrieben hat. Dazu reicht gerade ein Leben. Ich spreche hier von Poesie. Was im weitesten Sinn Literatur ist, geht mich nichts an. Ich verstehe auch wenig davon, woher es kommt, daß ohne diesen verrückten Anspruch innerhalb der Literatur, aber außerhalb der Poesie doch Poesie entstehen kann. Das verunsichert mich. Trotzdem werde ich keinem Anfänger beistehen, der nach einem Rigorosum meinerseits erklärt: er wolle gar nichts Erstrangiges schreiben. Da sei er bescheiden und noch mit dem vierten Rang zufrieden. – Daß ich keine einzelnen Gedichte schreibe, sondern Gedichtbücher, zeigt, wie grundlegend ich mich von einem Lyriker unterscheide. Hier muß ich auf meine (im Leben, nicht in der Poesie streng beurteilte) Unart hinweisen, alles zu übertreiben. Aber so schlimm will ich mich gar nicht unterscheiden. Wieder im Ernst: ein Gedicht gibt es für mich erst in der Gesellschaft von anderen Gedichten. Es verhält sich zur Nachbarschaft, es ist in dieser Nachbarschaft entstanden. Ich habe es in diese Nachbarschaft hineingeschrieben und in den ganzen Zusammenhang des Buches. Biologisch ausgedrückt: es kommt zur Welt, zur Gesellschaft, in ihr wächst es auf, es wächst sich aus. Daher die Monumentalität. Angelegt ist dieser Monumentalismus als Fragment, weil die Unbescheidenheit nicht beim Stück bleiben wollte. Das kann aber nur ein Stückwerk ergeben, was wiederum einer Poesie, die aus dem Falschen lebt, nur recht sein muß.
Titzmann: 3.2. Wenn Du über (vor allem eigene) „Literatur“ sprichst, dann sprichst Du vorzugsweise eben nicht von „Literatur“, sondern – mit einem scheinbar anachronistischen (historisch wohl auf die Goethezeit referierenden?) – Terminus von „Poesie“, offenkundig gemeint als Oberbegriff nicht nur für „Lyrik“ (auf deren Benennung der Begriff im Verlaufe des 19. Jhdt.’s reduziert wurde), sondern für alle Deine literarischen Produktionen; Du setzt Dich damit bewußt in Opposition zum „zeitgenössischen“ Sprachgebrauch. Zwei Fragen also:
3.2.1. Was meinst Du semantisch, wenn Du eine Form des Redens als „Poesie“ von anderen Redeformen abgrenzt, und offenkundig nicht nur von nicht-literarischen, sondern auch von solchen, die kulturell als „Literatur“ akzeptiert sind?
Wühr: Während Großkritiker für kleine Leser über Produkte entscheiden und diese unterschiedslos nach hausbackenen Regeln beurteilen, treffe ich mit Poesie eine Vorentscheidung, mit welcher ich mir verbitte – was nur für mich Folgen hat – von Handlangern poesiefremder Buchhändler beurteilt, also doch verworfen zu werden, weil Poesie auf Realitätsnähe, auf Unterhaltung, auf Spannung im konventionellen Sinn keinen Wert legt. Ich habe nichts gegen diese Vorzüge, respektive Techniken, die ich bestimmt nicht beherrsche, aber will auch nichts mit ihnen zu tun haben, jedenfalls nicht in meiner Poesie. Dieser Begriff schützt auch vor Vergleichen. Ihm haftet Rigorosität an. Das ist gut so. Das trennt Poesie auch von einer hervorragenden Literatur, die sich weniger streng abgrenzt. Im übrigen kommen auch solche Werke bei unseren Großkritikern selten gut an. Die Zufriedenheit mit dem Niveau ihrer Maßstäbe macht sie mißtrauisch, wenn etwas hervorragt. Das ist durchaus verständlich, wie Franz Josef Czernin vor kurzem barmherzig bemerkte. Ich folge in aller Unchristlichkeit dieser Tugend nach. Es hat ja auch wenig Sinn, sich auf diese Geschäftsleute einzulassen.
Titzmann: 3.2.2. „Dichtung“/„Literatur“: eine Form des Redens, die, da sie so viele Epochen und Kulturen überlebt hat, offenkundig, selbst da, wo sie allmählich elitär und minoritär wird, d.h. einsetzend mit der Goethezeit und drastisch verstärkt ab dem späten 19. Jhdt. bzw. der Frühen Moderne, relevante soziokulturelle Funktionen erfüllen muß. In der Frühen Neuzeit (16.–18.Jhdt.) offenbar „Applikation“ theoretischer Diskurse und deren Einübung, ab dem „Sturm und Drang“ (ab ca. 1770) eher komplementär zu den theoretischen Diskursen, das thematisierend, was diese nicht mehr oder noch nicht behandeln: was kann heute die soziokulturelle Funktion dessen sein, was Du „Poesie“ nennst und schreibst? Wozu also, provokant zugespitzt, z.B. „Lyrik“, die, wenn sie ist wie Deine, strukturbedingt nur ein begrenztes Publikum haben wird?
Wühr: War Poesie nicht immer elitär und minoritär? Ich sehe da keine Veränderungen, jedenfalls nicht aus meinem Blickwinkel heraus. Und da ich weder Fortschritt noch Rückschritte wahrnehmen kann, habe ich auch an keiner zu meiner Lebenszeit stattgefundenen Beerdigung der Literatur/Poesie teilgenommen. Es gibt massenhaft Technikinteressierte, aber wohl nur wenige Menschen, die Mathematik lieben. Das wird so bleiben. Wer liebt es schon, über seine Gedanken hinaus zu denken? Wie wenige können es dann doch sein, die über ihre Sprache hinaus sprechen wollen – und dann auch noch und erst recht, um auf neue Gedanken zu kommen. Wer liebt überhaupt gern? Wer geht also gern in eine Schule der Liebe, in welcher Liebe zu einem Subjekt derart objektiv eingeübt wird: und das Gedicht ist ein solches Subjekt. Ich sollte aber die wenigen Liebhaber nicht auch noch verunsichern – am Ende gar mich. Jetzt aber wieder objektiver: Von einer soziokulturellen Funktion kann nur gesprochen werden, wenn Poesie, wie sie hier vorgestellt wird, von den theoretischen Diskursen der zuständigen Wissenschaft angenommen wird und erfüllt, d.h. in ihrer jeweiligen Gestalt erst gedacht, ausgesprochen – im wörtlichen Sinn – oder vom Theater her gesprochen und nur bildlich gemeint: inszeniert und aufgeführt wird. Poesie ist ohne diese Theorie gar nicht da, jedenfalls nicht lebensfähig. Der Unsinn vom sinnvollen Liedchen, das in aller Einfachheit da ist, würde in diesem Zusammenhang nicht gut gemeint sein, abgesehen davon, daß diese Einfachheit Trug ist. Ich habe oft hören müssen, daß wir Poeten nur für andere Poeten schreiben. Zu selten höre ich, aber da muß ein anachronistischer Stolz abgebaut werden, daß wir für unsere wissenschaftlichen Leser schreiben. Da diese sich in der Vergangenheit wenig mit lebenden Autoren abgaben, kam es – nehme ich mal an – zu einem Fehlverhalten der Leser: große Texte aus früheren Jahrhunderten habe ich nur selten außerhalb eines wissenschaftlichen Rahmens gelesen. Was macht das schon? Warum traut man sich das nicht zu, wenn es um zeitgenössische Poesie geht? Das ist vermessen. Ich spreche hier nicht von Hilfe, von Unterstützung oder gar von Dienstleistung. Die Linguisten, die Literaturwissenschaftler haben ihren Anteil an der nie endenden Verdichtung eines Gedichtes – und wenn sie jemandem dienen, dann dem Leser und auch nur deshalb, damit er teilnehmen kann an dem Sprachwerk. Der Poet versagt sich da. Muß er wohl. Jeder wie er muß. Große Freiheit. Soviel zur soziokulturellen Funktion.
Titzmann: 4. Wie sehr auch immer Du und Deine Texte sich dem jeweiligen literarischen „mainstream“ verweigert haben und auch wenn Du bezüglich Deiner Relation zu dem, was wir jeweils für „Realität“ halten, formulieren konntest „Ich will es nicht sehen. Ich will es selber schaffen“ (Wühr 1993, S. 72), haben Deine Texte dennoch – oder vielleicht oder auch vielmehr: deshalb? – einen intensiven Bezug zu eben dieser „Realität“, die sie im wörtlichsten Sinne in Frage stellen. Was diese Gesellschaft aber für ihre „Realität“ hält und als solche erfährt, erscheint in Wühr-Texten niemals unmittelbar und unvermittelt als solche, sondern – im intertextuellen Bezug – als zitierte und angespielte Rede dieser Kultur über ihre Realität. Jeder Deiner Texte ist zugleich Metatext über kulturelle Redeformen. Fragmente authentischer Rede jeder Sprecher(innen) über sich werden in radikaler Transformation scheinbarer O-Ton-Hörspiele (1973) zu sie und ihre Struktur thematisierenden poetischen Metatexten; theoretische Diskurse der Literaturtheorie, Philosophie, Wissenschaft werden „Bausteine“ nicht-lyrischer wie lyrischer Rede (1970, 1979, 1983, 1987, 1988, 1994, 1995 usw.), die sie nicht nur zitiert, sondern transformiert.
4.1. Erste Frage also: daß „Realität“ nur durch – sozial konsensfähige, sie konstruierende – Rede/Diskurse gegeben ist, zählt zu den Trivialannahmen der Gegenwart. Was Deine Praxis transformierender Intertextualität betrifft: bedeutet sie, daß „Poesie“ – und falls ja: in welcher Weise? – bei Dir gewissermaßen die integrative, alle Redeformen und Diskurse in sich korrelierende Redeform ist? Und, falls es so etwas wie „Postmoderne“ gibt, der man ja nachsagt, sie sei nicht zuletzt intertextuell zitierend und kommentierend, worin unterscheidet sich Deine Dichtung von solcher „Postmoderne“?
Wühr: Meine Praxis widerspricht jedenfalls dem Glauben (und um nichts anderes handelt es sich) an die Authentizität der Realität, wie immer sie vermittelt wird. Diese ,feste Burg‘ muß die Poesie einnehmen. Er macht verführbar, dieser Glaube, besonders politisch. Die Medien, herrschend wie Monarchien, schlimmstenfalls wie Despotien, bedienen sich dieses Hungers nach Echtem, das immer weniger unterscheidungsfähig werden läßt. Poesie, indem sie ihre Manipulation offenbart, dekuvriert die Manipulationen der Medien. Das bedeutet: Poesie nimmt direkt teil an der Kontrolle des Staates. Das kann nichts mit ,Postmoderne‘ zu tun haben, die nach Belieben zitiert und mit Zitaten spielt. So elitär sich mein Begriff von Poesie gibt, so schmutzig macht diese Poesie sich jederzeit und besonders gern.
Titzmann: 4.2. Intertextuelle und transformierende Bezugnahme gibt es bei Dir ja nicht nur als Relation Deines Textes zu anderen Texten außerhalb seiner, sondern auch textintern kann ein zitierter/angespielter Text immer neuen Transformationen unterworfen werden. So gibt es in der Rede (1979) mehrere auf Hölderlin- bzw. Hegel-Texte rekurrierende Texte, die den Bezugstext einer Serie sukzessiver Transformationen unterwerfen. So wird im Falschen Buch (1983) Sophokles’ „Antigone, in Luftstreiche (1994) das Märchen von „Hans Dumm“ in immer neue Varianten transformiert; ganz zu schweigen von den Bezugnahmen auf eigene Texte und deren metatextuelle Umwandlungen. Zweite Frage: was bedeuten, welche Funktion haben solche Transformationsserien?
Wühr: Poesie oder das Falsche, das nichts in seiner Richtigkeit bestehen läßt, weil diese glaubt, im Recht zu sein und deshalb Gewalt ausübt, verunsichert: Das Richtige mit Transformation. Es wird nicht zerstört. Es wird verdreht. Poesie dreht an ihm. Es handelt sich jeweils nur um einen Dreh, immer den nächsten. Was herauskommt, wird sich sofort behaupten wollen. Es gab eine Zeit, da sprach man vom Establishment. Wie wenig Poesie mit Parteiung zu tun hat, kommt hier deutlich heraus. Ich erschrak vor dem Ergebnis der umgedrehten Antigone. Da hatte sich etwas Konterrevolutionäres ergeben. Aber die Revolte hatte sich etabliert. Es mußte weitergedreht werden. Weder Reaktionären noch Revolutionären kann das gefallen. Sie sichern immer ab. Sie richten sich immer ein. Vor Immobilien zeigt Poesie keinen Respekt. Das macht sie in der Politik unbeliebt. Das ist aber ihre Politik. In Serien von solchen Drehs wird vorgeführt, was alles herauskommen kann, immer wieder anders und meist wenig passend: kein Spiel der Affirmation. Ganz im Gegenteil durchaus auch unvernünftig, unzeitgemäß, gar nicht klug, unvorsichtig bis zur Selbstaufgabe. Hier kann man entdecken, wie wenig ein solches Spiel mit der Vorstellung von einem Spiel, von einem Kinderspiel, einem Unterhaltungsspiel noch zu tun hat, religiös artet ein solches aus: wird Frevel, inszeniert wieder: wie Titanen die Götter anbeten. Die Buchseiten werden Schauplätze für Auftritte, die in der Realität aus Rücksichtnahme, geschmackshalber, wegen Schonung der Mitmenschen, niemals genehmigt würden. Das Ungenehmigte wird zur Szene: ganz besonders das Unverschämte. Poesie kennt keine Berührungsängste, was die Pornographie angeht, flüchtet nur aus idealistischen Gründen in die Pornologie (de Sade, Sacher-Masoch), ist derart schamlos, daß Liebhaber solch spannender Lesestoffe sich hier zurückhalten. Was zuviel ist, ist gar nichts. Hier wurde eben alles zu sehr verdreht.
Titzmann: 4.3. Die Texte/Diskurse, auf die Deine Texte rekurrieren, sind wahrlich weitgestreut, was ihre Inhalte betrifft und dementsprechend kombiniert jeder Deiner Texte ja auch Aussagen über (scheinbar) heterogene Realitätsbereiche, z.B. Erotik, Politik, Geschichte, Literatur, Soziologie, Naturwissenschaften, das „Privateste“ wie das „Öffentlichste“ umfassend, – insofern korrelierend, was im kulturellen Wissen zur Nicht-Korrelierbarkeit tendiert. Eine Bezugnahme, sehr rekurrent und individuell, scheint mir besonders auffällig: die – durch Volke; Hoffmann vermittelte? – auf Hamanns scheinbar doch etwas abgelegene Texte (Wühr 1994 und 1995). Warum Hamann? Was bedeutet dieser Autor für Deine Textproduktion?
Wühr: Das Heterogene, die Vorliebe für es – Untugend aller Ungelernten – dürfte deren Totalitätsansprüche demonstrieren. Hier geht Poesie voran: kombinierend, was ihr unterkommt, korrelierend, was sich vor ihr auf die Flucht machen will. Ja. Da gibt es den Magus in Norden. Der wurde mir von Volker Hoffmann nahegebracht. Mich hat zuerst die Dunkelheit des Magus fasziniert, also wie schwer er es dem Leser macht. Das mußte mir ja gefallen. Poesie kommt nicht entgegen. Hamanns Vorliebe für das Heterogene sagte mir zu, seine Hemmungslosigkeit, vor allem aber, wie er in seinen Texten die idealistischen und materialistischen Schreiber, besonders die Saubermänner der Philosophie, nicht mit seinen Abfallen (aus der Geschichte) verschonte, wenn ihr Trachten – und da trifft er noch heute – nach einer schmutzfreien Sprache schreitet: jedem hat er den Fuß gelegt. Der Christ Hamann stört mich nicht. Ohne seinen Glauben wäre es nicht zu so vielen Unbotsmäßigkeiten gekommen. Die Orthodoxie schonte er so wenig wie Lessing. Der wurde von ihm geachtet. Man muß schon auf einer Seite stehen, um ihn von der anderen her zu beschimpfen. Einer muß sich schon sozialistisch als richtig rationalistisch vorkommen, dann wird er Hamann Irrationalismus vorwerfen. Wir haben wenige Autoren, die solche Schwierigkeiten machen wie Hamann. Schlegel liebte diese, machte sie aber doch nicht. Ulrich Sonnemann macht sich ähnlich wie Hamann und schwierig wie dieser, breit in einfachen, engen und sauberen Texten, die Schlimmes ausrichten.
Titzmann: 5. Was immer die „unscharfe Menge“ „Literatur“ alles schon im Laufe ihrer historischen Transformationen gewesen sein mag: mir scheint, daß die „Lyrik“ benannte literarische Redeform so etwas wie ein „Konzentrat“ literaturspezifischen Redens, gewissermaßen „Paradigma“ des der Textklassenbildung „Literatur“ Eigentümlichen ist, und daß, ob man ein Verhältnis zu „Lyrik“ hat, denn auch dezisiv für die Beurteilung „literarischer Kompetenz“ von Lesern ist. Im übrigen tendieren ja alle Deine Texte, selbst die umfänglichsten, zu jener Sprachform und Sprachdichte, die man für der Lyrik vorbehalten hält. Nach meiner privaten Meinung bist Du nun der bedeutendste lebende „Lyriker“ deutscher Sprache – und also einige Fragen teils zu diesen Texten, teils nur anhand ihrer, eben als paradigmatischer.
5.1. Du hast gesagt: „Es kommt auf die Formulierung an“ (Wühr 1993, S. 12). Vielleicht hab’ ich das ja mißverstanden, aber mir scheint, daß in jedem Falle zutrifft, daß „Sprache“ (und ihr Gebrauch) nicht nur eine Praxis, sondern auch ein Thema bei Dir sind (was in Deinem Falle ganz das Gegenteil eines „l’art pour l’art“ ist). Was also bedeutet „Sprache“, was bedeuten die unterschiedlichen möglichen Gebrauchsformen von „Sprache“ für Dich, d.h. Deine Dichtung? Was heißt das, daß sie eben nicht nur verwendetes, sondern zugleich thematisiertes Zeichensystem ist?
Wühr: Zur Formulierung, auf die es ankommt: Ich kann das nur so gemeint haben, daß eine solche das genau ausdrückt, was ich nicht gemeint haben kann: im Wortumdrehen – das geschieht am radikalsten beim Gedicht: da hat sich etwas eingestellt, formuliert, das gleichsam ausschweifend in einen Nebenhalt geriet und dort wie von selber etwas wurde. Das mache ich dann nur zur Hauptsache. Wer sich selber will, hat in der Poesie nichts zu suchen. Er bekommt sich. Das war es dann schon. Dazu muß sie oder er nichts dichten. Was sich da wie von selber daherredet, ist ein Vorwurf. Dem muß ich nachkommen, nicht als einer: viele Ichs mit jeweils einem solchen Vorwurf kommen nach und treffen sich im Gedicht: es setzt sich aus vielen traumgenau nachgedachten Vorwürfen zusammen, ist also genau so oft anders als Vorgedachtes und sagt zuerst einmal dem Vordenker, der etwas anderes sagen wollte: etwas anderes; dem muß er nachdenken, allein oder mit andern. Für mich bedeutet Sprache die Möglichkeit, mir selbst verschlüsselte Nachrichten zu schreiben. Das ergibt die Möglichkeit, mich unter meinen Lesern auszumachen und mit vielen ins Gespräch zu kommen in allen Ausdrucksformen einer Sprache, veralteten und noch gar nicht gesprochenen. Das hat sich erweitert, seit ich O-Ton-Hörspiele produzierte. Wenn Sprache bei mir Thema wurde und Poesie zur Person, hängt das vielleicht mit einer merkwürdigen Abschiedsstimmung zusammen, die freilich nichts mit Resignation zu tun hat. Am Ende dieses Jahrhunderts, dieses Jahrtausends, wollte ich Poesie selber auftreten lassen. Es kann ja gar nichts schaden, wenn sie mit ihrem Abschied rührt. Ich glaube freilich nicht, daß sie die Bühne verläßt. Wahrscheinlich ist das Gegenteil der Fall: es handelt sich um eine entschiedene Ankunft. Da wird manifestiert. Es muß vorgestellt werden. Man soll sie kennenlernen. In jedem Wortsinn. In einem Zeitalter der Bilder, einem entsprechend flachen also, drohe ich – um hier einmal wieder in meinem Namen von der Poesie zu sprechen, nachdem ich so oft arrogant in ihrem Namen gesprochen habe – mit der Sprache einer Poesie, die genuin aus der Sprache kommt und in dieser bleibt: also keine Bilder malt, es sei denn grammatische, nämlich unsichtbare, meinetwegen ,geistige‘, obwohl dieses Wort nur in einem ganz bestimmten Kontext unmißverständlich bleibt.
Titzmann: 5.2. Was bei Dir als „Gedicht“ erscheint, ist fern aller konventionellen Erwartungen an diese Redeform. Diese Texte verstoßen gegen syntaktische, semantische, pragmatische Regeln der „natürlichen Sprache“. Drei Jahre lang haben wir in jeweils einwöchigen Kolloquien in Deiner Präsenz (und mit Deiner Mitwirkung) in Passignano Texte der Sage interpretiert. Und wie sich zeigte – und was mir ein Qualitätskriterium solcher „abweichender“, zunächst „unverstehbarer“, „dunkler“ Lyrik scheint –, erwies sich, daß diesen Texten, entgegen dem Anschein, eine intersubjektive, interpretatorisch rekonstruierbare Bedeutung zugeordnet werden kann. Diese Gedichte sind eben nicht „ungefähres“ Gerede, das von Leser-Assoziationen lebt (das gibt es bekanntlich: jüngst hat für so was jemand den Büchner-Preis erhalten – armer Georg!): sie sind „präzise“. Wenn sie nun aber eine rekonstruierbare Menge korrelierter und hierarchisierter Bedeutungen transportieren: welche Funktion hat es dann, daß diese Bedeutungsmenge durch eine – scheinbar Kommunikation verweigernde – „abweichende“ sprachliche Struktur ausgedrückt wird? Um’s zuzuspitzen: warum in extrem komplexen Zeichenstrukturen und nur als Implikation „sagen“, was explizit und direkt auch sagbar wäre?
Wühr: Poesie ist selbst das unerwartete, das Gegenteil von Konvention. Wie gut, daß sie so selten als die Poesie auftritt. Wo kämen wir hin, wenn es nur solche Poesie gäbe. Ich habe mir in den Kopf gesetzt: sie auftreten zu lassen, und zwar in dieser extrem komplexen Struktur. Das hängt, nehme ich an, doch mit der Assoziation zusammen. Im wahren Sinn des Wortes leichtfertige Gebilde, die sich vergeblich als Gedichte ausgeben, was ihren Ruhm bei sogenannten Akademikern der Sprache begründen muß, leben, wie gesagt, von Leser-Assoziationen. Sie werden gleichsam hergestellt als Auslöser – und haben sie ausgelöst, sind sie so wenig wert wie zuvor, nämlich nichts. Kreativ waren die Leser und wie und weiß der Himmel, wohin. So ein Nichts oder so ein Bißchen ist im tagtäglichen Assoziieren ganz nett und macht auch in den höchsten Sprachkreisen Spaß. Dort wird lustig oder traurig kommuniziert. Das ist eine nur etwas über der alltäglichen Kommunikation angesiedelte Verständigung, mehr zum Vergnügen. Weicht Poesie einer solchen Kommunikation aus, wird sie schwierig. Sie zwingt zur Genauigkeit. Alles Ungefähre bleibt ausgeschlossen. Der gewöhnliche Leser assoziiert da nicht gern. Er kann sich hier nur selten mit Vergnügen davonmachen mit seinen Assoziationen. Es kommt ihm zu wenig, das geht auch schlecht weg. Das Gedicht will nämlich die Assoziationen behalten. Es hat Hunger nach mehr. Der ungewöhnliche Leser assoziiert, damit das Gedicht zu sich selbst kommen kann, und das tut es, wenn es mit sich über sich hinausstrebt: mit dem Leser. Das Ungewöhnliche weist alle Assoziationen ab, die sich nicht in aller Strenge in jedem einzelnen Wort – das ja genau an seiner Stelle steht, wenn es im Gedicht steht – frei macht für das Wagnis der Assoziation. Zugelassen ist nur, was dasteht: das nur kann herausgelesen werden. Man kann ein Gedicht nicht auch explizit und direkt sagen: was man allerdings bei einem Gedicht, das keines ist und deshalb, schon kann, aber gar nicht muß, weil dieses Gebilde sowieso und direkt als Text so simpel ist, daß selbst höchste deutsche Sprachinstitutionen kapieren.
Titzmann: 5.3. Der jeweilige Lyrik-Band – „Ein Gedicht“ – besteht gleichwohl aus Einzeltexten. Wenn die geordnete Menge der Einzelgedichte aber ein Gedicht bildet: welche Funktion hat es dann, daß es überhaupt in diesem Text begrenzte Einheiten, eben Einzel-„Gedichte“ gibt?
Wühr: Das hat mit Politik zu tun. Jede Einheit ist mir zuwider. Eine vielstrophige Hymne ist so eine Einheit. Nur ungern zeigt sie wahrscheinlich ihre Teile, die sind dann eben nur solche und selbst nichts Ganzes. Das Einzelne kommt eben nicht vor. So gibt es auch keine Solidarität im Widerspruch und über diesen hinweg im Konsens. Wie könnte ich in einem geschlossenen Großgedicht jedes Einzelgedicht in Freiheit auftreten lassen? Wie wäre es möglich, den poetischen Konsens zu schaffen, der es mit lauter abweichenden, unverstehbaren, dunklen, unangepaßten (Hamann), ja abseitigen, im Verbrechen entarteten Einzelgedichten zu tun hat. Ich kann dabei gar nicht zu weit gehen.
Titzmann: 5.4. Als „Lyrik“ geben sich diese Texte aufgrund ihrer graphischen Anordnung im Druck zu erkennen: die Zeilen beanspruchen „Verse“ zu sein (obwohl sie weder Reimschema noch rekurrente metrische Schemata aufweisen). Wenn also diese Abweichungen von traditionellen Lyrik-Vorstellungen stattfinden: welche (semantische) Funktion hat es überhaupt, daß die Zeilen sich als Verse präsentieren? Wozu „dient“ die Rhythmisierung? Was wäre anders, wenn „derselbe“ Text, wie Prosa, fortlaufend innerhalb des Satzspiegels angeordnet wäre? Nochmals zugespitzt: wo doch alle Deine Texte zu Struktur und Semantik der „Lyrik“ genannten Redeform tendieren, warum unterscheidest Du überhaupt, durch Untertitel oder Drucktechnik markiert, zwischen Lyrik und Nicht-Lyrik?
Wühr: Was Poesie in der Prosa zu suchen hat, darauf komme ich gleich. Im Gedicht ist Poesie am radikalsten geöffnet. Kein Satz schließt sich hier selbst und das Gedicht ab. Die Zeile wird Vers, endet dort, wo die Offenheit in einem erneuten Stoß abschwingt, also dort zum Anfang wird, wo es nach Ende aussieht: kein Punkt: Flügelschlag, das angeordnete Abschnellen, das bis dahin jederzeit stattfinden kann, wie oft das bleibt offen, jeweils die letzte Zeile eines Abschnitts hängt aber, kann aber noch oft nicht so bleiben, holt sich zu einer neuen Zeile herauf, wird zur ganzen, ist also mit dieser mehr als ganz, stößt, schlägt, fliegt wieder ab und so weiter. Wenn das Gedicht derart mit Sprung, mit Flug, mit Koitus zu tun hat, danach sich auch anhört, jenseits von Malerei danach aussieht, dann war es so frei, eines zu werden. Sein Leser wird so frei werden müssen, diese Partitur ohne Noten, innerhalb der Stöße oder Abschwünge oder Abflüge am Ende der Verse zu erfüllen mit seiner eigenen Melodie, die sich ungewöhnlich unterscheiden wird, je nachdem sich in strengen Grenzen des Außerordentlichen die eigene Sage ereignet. Eine Übung, die von der Freiheit eines Lesers weiß. In seiner Rede erfüllt sich erst und immer anders das Gedicht. Freiheit geht hier vor Schönheit, diese reglementiert mit dem Reim. Das ist meine Entscheidung. Sie kann jeden Tag dementiert werden. In der Poesie wird nicht petrifiziert. Aber so wie es hier, in solchen republikanischen Gedichten zugeht, gibt es – vorläufig – so wenig Sicherheit, wie es nötig ist, damit nichts verleiern kann: die Art von Versteinerung, die in der Rede den Tod mimt. Mich hat es immer sehr verwundert, wie sich solche Gedichte ins Offene stoßen, was schon einen Unterschied anmeldet, und dann doch weiblicher fließen, als es aus einem Mann heraus möglich sein kann. Die Struktur ist so gestaltet, daß sie der Frau mehr zusagen müßte – durch ihre fehlenden Feststellungen, – als den Männern. Aber nun sind wie die Gedichte die Männer auch oft mehr Frau als ihre liebste Opposition. – Sehr viel wäre anders, würde sich derselbe Text fortlaufend innerhalb des Satzspiegels präsentieren: etwas altmodisch, aber doch genau ließe sich sagen: der Gesang entfällt. Es gibt in der Prosa auch die Melodie, selbstverständlich. Gesungen wird in ihr nicht. Im Gedicht wird heutzutage auch nicht gesungen. Es handelt sich um Prosa, wobei beliebige Zeilenbrüche gemacht werden: damit die Prosa nach Gedicht aussieht. Das merkt man, wenn beim Vortrag wieder Prosa herauskommt. Die Gedichte werden gesagt, nicht gesungen. Jetzt versteht man vielleicht, warum ich von Gesang sprechen muß, sonst kommt der Unterschied nicht heraus. Wie sich der Gesang nach Richard Wagner dem Sprechen annähern soll, so nähert sich die Rede dem Gesang, bis sie als gesungene Rede ein Gedicht wird. Jedenfalls gibt sich das Gedicht eine entsprechende Partitur, die den Leser zur wirklichen Freiheit erst kommen läßt, ihm diese ins Bewußtsein bringt. Dabei sollte die Melodie eine so wenig auffallende Rolle spielen wie in der Prosa oder in der gewöhnlichen Rede. Das merke ich hier nur noch an, um Mißverständnisse auszuschließen. Ich singe meine Gedichte nicht vor. Es geht mir vor allem um den Rhythmus. Jetzt fällt mir zur Prosa nicht mehr viel ein. Nur noch das und sehr persönlich: Poesie will nicht zur Freiheit einüben, sie will selbst so frei sein, alles sagen zu können und auf jede Weise, ganz ungebunden. Im Gedicht gelingt das nicht. Es ist wirklich nur hie und da zuständig, nicht in allem.
Titzmann: 6. Und nun die letzte Frage: Zwar hat sich gezeigt, daß in der Folge Deiner Werke neben der Komponente der vorausschauenden Planung die der unerwartet-diskontinuierlichen Unterbrechung (unvorhersehbar und ungeplant entstand plötzlich ein Gedicht-Band) ebenso relevant ist; trotzdem: was wird, voraussichtlich, Deine nächste Publikation sein, und was planst Du längerfristig?
Wühr: Etwa zwei Jahre lang dachte ich in Gedichten staatlichen Einrichtungen nach, und heraus kam Salve. Res publica poetica, ein umfangreiches ,Gedicht-Buch‘. Diese Bezeichnung stimmt gar nicht mehr. Ich konnte auch gar nicht – wie in einer Prosa – sprechen über die Sache: das Gedicht drängte mich gleichsam von Anfang an ab von einer expliziten und direkten Rede über Politik: und so mußte ich von der Poesie her (in ihrer strengen Form) Verhältnisse, Ordnungen, Verhaltensweisen untersuchen, die mir in einer Prosa gar nicht in den Sinn gekommen wären. Da war also wieder ein Abenteuer zu bestehen. Jetzt bin ich fertig. Es liegt aber seit Jahren ein unfertiges Buch vor, Der wirre Zopf, in dem ich kalendarisch Realität und Fiktion so mischen möchte, daß ein riesiges Spielwerk regelmäßig abläuft (achteinhalb Jahre in einem Jahr). Meine Zeilen sind wieder die Straßen von München. Dort steht auf dem Schuttberg Le Pierle, in dem ich in Italien wohne: von Le Pierle aus, also den Berg hinunter, komme ich allerdings in jede europäische Stadt.
Deutsche Bücher, Heft 2, 1996
− Aus einer Rede auf Paul Wühr. −
[…]
Fragte einer – ein Versprengter, ein Fremder womöglich, des Deutschen nicht sicher – wie die Gedichte von Paul Wühr zu charakterisieren seien, wie würde man antworten? Ein Kampf mit Worten gegen die Worte und ihre wechselnden Bedeutungen? Eine verschlungene Korrespondenz mit sich selber, zur Selbsterkenntnis, Selbstschöpfung und Auslöschung? Eine empörte Anklage gegen die Tyrannei des richtigen Sprechens, das wider Willen oder willentlich einer Verdunkelung gleichkommt? Die Suche nach einer poetischen Ordnung jenseits der gesellschaftlichen? Alles wahr und alles ungenau; jedenfalls könnte es passieren, daß der Frager, nach Hause zurückgekehrt, die Lektüre Paul Wührs endgültig mit einem seiner Gedichte beendet:
Jetzt weiß ich nicht mehr
hat sie mir Fisch geschrieben
oder einen Brief in dem
er schwamm oder habe ich
das Wasser im Kuvert geschaukelt
oder sprang er selber heraus
Früher, in der guten alten Zeit der funktionierenden Unterscheidungen, wäre die Antwort leichtgefallen: ein Experimenteller; oder ein bayerischer Experimenteller; oder ein anarchistisch-experimenteller bayerischer Dichter mit Verbindungen zu Stuttgart, Graz, Saarbrücken, Bielefeld; Form als Widerstand, linguistische Theorie, Sprachspiel – die Worte wären einem beigesprungen, der fremde Frager wäre geflüchtet, der Befragte wäre da gestanden, wo er – der reinen Theorie der puristischen Experimentellen nach – nie hätte stehen wollen und dürfen: bei sich selber. Und heute? Heute wird das Experimentelle verwaltet von einer Gruppe von Professoren, die, wenn sie an Literatur denken, martialisch vom Bruch sämtlicher gesellschaftlicher Diskurse träumen und abends Kriminalromane lesen, um mit dem wirklichen Leben in Berührung zu kommen. Vorbei, vorbei: Spinnen haben ihre Netze über Experiment und Theorie des Experiments gesponnen und diese exklusive „Produktionstheorie für eine Rezeptions-Industrie“ (Hans Blumenberg) ein für alle Male zur Geschichte gemacht. Nur die Entlaufenen, die von der reinen Lehre Abtrünnigen, die – mit anderen Worten – wirklichen Dichter, bei denen das Dogma seine Kraft verloren hat, haben unsere Sympathie behalten: Ernst Jandl und seine „fremde“ Sprache, Oskar Pastior und seine „erfundene“ Sprache und Paul Wühr und seine „falsche“ Sprache. Drei Gedichtbände hat Paul Wühr veröffentlicht, ein schmales, auf den ersten Blick abweisendes, zorniges poetisches Werk, das kein Wissen vermittelt, keine vernichtenden Urteile fällt, sich nicht anbiedert, die Welt nicht erklären will: und doch eine große Rede über die Welt. Grüß Gott ihr Väter ihr Mütter ihr Töchter ihr Söhne heißt sein erster grimmiger Zuruf in der Landessprache, wie sie so nie gehört wurde: lakonisch, suchend, trocken, mit der immer wiederkehrenden, leitmotivischen Zeile: Jetzt weiß ich nicht mehr. Ja, diese Wiederholung von 1976 – schmerzender als jeder Kommentar – ist sehr ernst zu nehmen, denn tatsächlich ist die fundamentale Unsicherheit gegenüber der Sprache, die eben noch pathetisch die Welt aus den Angeln heben wollte, der Motor dieses Buches, eines, dem die Sprache nicht mehr zur Verfügung stand, die sich entzog und Wort für Wort zurückgelockt werden mußte. Eine Spannung ohnegleichen kann man den Gedichten ablesen, eine Anstrengung, sich vom Redefluß, der die Wirklichkeit umgibt und unnahbar macht, abzusetzen und eine Poetik zu finden, die nicht in der Schere zwischen Schönschreiberei und aggressiver Regelverletzung zerrissen wird: die aber trotz allem, mit allem Trotz darauf besteht, in einer bestimmten Tradition weiterzuschreiben, neue Glieder einer Kette zu bilden, die mit Namen benannt wird: Hölderlin, Novalis, Mörike, Kleist. Und unter den Augen dieser Kronzeugen, in der bewußten Nachbarschaft der alles andere als romantischen Romantiker, heißt das Schreiben von Gedichten auch, daß mit den Gedichten die Frage gestellt und zu beantworten versucht wird: wer ist dieses un-heimische „Ich“, das sich hier auf Umwegen ausspricht?
„Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen wurden; es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür – aber wir werden es einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen?“ – heißt es bei Georg Büchner im „Danton“. Und das erste Gedicht in Grüß Gott heißt:
Ich habe den Fehler nicht
machen müssen weil
der sagt
ich bin der Fehler
der ich bin
lasset uns den Fehler machen
ein Bild
das uns gleich sei
Jetzt weiß ich nicht mehr. – Es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür. – Ich bin der Fehler / der ich bin: drei Hinweise auf eine Theologie, die auf dem Fehler besteht, um der optimistischen Lösung auszuweichen, die sich nicht mehr aufdrängen kann als Beruhigung: auch das Gedicht bleibt von solcher Fragestellung nicht verschont, und nicht nur deshalb, weil es seine theologischen Wurzeln nie wird verleugnen können – so weit es sich auch von seinen Ursprüngen entfernt hat, bleibt ihm immer ein Rest von Anrufung eingeschrieben, der nun auf die Suche geschickt wird nach einem Adressaten.
Nein, beruhigt oder versöhnt ist der im Tiefsten enttäuschte Dichter Paul Wühr nie, das unterscheidet ihn von allen Utopisten; er hätte sich ja agnostisch abwenden, Gott einen guten Mann sein lassen und pittoreske Untröstlichkeiten verfassen können wie so viele Dichter neben ihm, denen damals das Prädikat „Neue Subjektivität“ dazu verhalf, den tieferen Ursachen für ihr Tun nicht mehr nachhorchen zu müssen. Aber so einfach konnte es sich der bayrisch-katholische Bäckerssohn aus der Amalienstraße nicht mehr machen, zu energisch hatte ihn, der dem Krieg entkommen war, der Glaube an eine Totalität gebeutelt und durchgerüttelt. An Kompensationen war nicht mehr zu denken. In den fünfziger Jahren hatte Paul Wühr an weiträumigen Gesängen gearbeitet, die sich „Mysterium trinitatis“ nannten, später an dem nie erschienenen Roman Embryonen, in dem eine irenische Sekte im Mittelpunkt steht. Wührs Theologie – wie seine daran zu messende politische Haltung – beharrt dickköpfig auf dem Nicht-Verwirklichten, auf dem Fehler, das verleiht seiner anklägerischen Dichtung die Kraft, den Mangel an Anpassung auszuhalten: es ist zwar schwer, nicht der sein zu dürfen, der ich sein möchte, und es ist furchtbar, nicht der zu sein, der ich bin, aber ich muß diesen Mangel hinnehmen, um überhaupt die Möglichkeit zu haben, mein Maß zu erkennen. Die feste Klammer, die alle widerstreitenden Energien harmonisch faßte – und mit harmonischen Gedichten zu beschreiben war −, ist längst vom historischen Rost zerfressen, aber die Halterung ist noch erkennbar, ein Umriß, Reste, Fragmente, einzelne Wörter, manchmal hell aufscheinend in einem piranesischen Düster, dann wieder versunken im grauen Meer der Bedeutungen. Er schreibt löchrige, lückenhafte Gedichte, die den festen Boden der Interpretation erschüttern:
Jetzt weiß ich nicht mehr bin ich
wörtlich unterwegs gewesen oder
tatsächlich wirklich habe ich geschrieben
oder ist einer wie ich zu mir aufgebrochen
obwohl er unterwegs oder vorher schon
wußte daß er auf mich hereinfallen wird
oder ist mir das nur eingefallen
bestimmt daß einer aufbricht der
nicht weiß wie er gehen muß oder
was er am Ende sein wird um
den treffen zu müssen der er ist
entweder wörtlich oder tatsächlich ich
1979, mit 52 Jahren, erscheint der zweite Gedichtband, Rede, eine Litanei in vier Teilen, die mit einem programmatischen Vortext eröffnet wird:
Eine falsche Sprache, wie ich sie verstehe, setzt sich nicht in Widerspruch zu Richtigem. Sie eröffnet keine Diskussion. Sie ist nicht diskursiv. Sie will nicht überzeugen, sie belehrt nicht, sie teilt nichts mit. Ihr Stoff ist zwar der allgemeine, aber sie versetzt sich mit ihm nur in den Schwebezustand, der endgültige Aussagen über und unter sich läßt. Ich spreche von einer poetischen Sprache, die weder surrealistisch mit der Norm bricht noch praktischen Aktionen das Konzept liefert für Sprengungen einer negierten Realität, sondern Sprache ist, in der unter anderm, aber insbesondere, ein Sprechen jenseits kruder Gegensätze und Entscheidungen geübt werden kann.
Was heißt das: eine Rede, die nicht überzeugen will? Eine Rede, die nicht belehrt? Eine Rede, die nichts mitteilt?
Eine Rede, die zwischen den Aussagen, zwischen den Meinungen, jenseits kruder Gegensätze und jenseits der Entscheidungen einen Schwebezustand herbeiführen will? Eine Rede jenseits der Dialektik, müssen wir mitlesen, die also nichts aufheben will. Eine Rede, die hindurchgeht, die wie Wasser sich einen Weg bahnt, alles berührend, sich aber nicht aufhalten läßt. Eine Rede, die den Umweg nicht scheut, um das letzte Ende nicht zu versäumen. Und doch eine Rede mit einem didaktischen Kern: es soll mit ihr etwas geübt werden, das allen anderen Reden entgeht, ein anderes Sprechen. Nun teilt aber ein poetisches, ein freies absichtsloses Sprechen fast alles mit anderen Sprachformen, wenn es nicht – um den Preis, unverständlich zu sein – neue Wörter, eine neue Syntax erfindet. Unverständlich aber ist diese Rede nicht, im Gegenteil, sie folgt einer seltsamen Partitur, die sich schon bald beim Lesen enthüllt, deren Rhythmus sich festkrallt und zu schwingen beginnt, wodurch eben der Schwebezustand entsteht, von dem Paul Wühr gesprochen hat. Wer sich einlesend / einhörend einläßt – und nur wer sich einläßt, wird diese Rede, die das andere will, verstehen −, kann eine Vorstellung kriegen von der verlorenen Totalität, die durch das dichte Gewebe des sprachlichen Materials zu ahnen ist.
Nein, in dieser Rede wird das Nebeneinander der Wahrnehmung nicht eingeschmolzen zu einer harmonischen Zentralperspektive, hier wird keine pseudomystische Sprache gesprochen zur Feier und keine häretische Phantasie entwickelt zum Zwecke der Denunziation, Aufgaben, die im Übrigen andere Reden – zielgerichtet, wenn auch nicht unbedingt treffend – besser erfüllen. In dieser Rede, die selbst Ausdruck ist der Not, wird mit hoher Empfänglichkeit für das Abgewiesene und Ausgeschiedene noch einmal ein Rundblick gewagt, eine gebrochene Schau vom Anfang bis zum Ende, voller Schreckensszenen und erotischer Obsessionen, wo Tiefe und Oberfläche unvermittelt aufeinanderprallen:
WAHRLICH ALSO DER Stein ist ihr Haus
von Blumen verschüttet
als das Wasser steht und wie reicht es
über den Mund
wer dieser Trauer gebaut hat als sie
nicht weint
wo ist die Zeit daß ich sie bitten
kann zu vergehen
Die Rede von Paul Wühr ist ein Buch der Trauer, der Angst und des Traums, das in seinen oft gewaltsamen, erschreckenden Verwerfungen und Trennungen die Fülle und Unendlichkeit ahnen läßt, welche seine Entstehung herausforderten und zugleich ihre Schön- und Reinschrift verhinderten. Wer die Lücken ergänzt, erhält ein Abbild vom Paradies. In diesen Lücken und Brüchen und Schründen verbirgt sich der ungesagte Teil dieser Rede, die schönen, die reinen Wörter und ihre festen Bedeutungen. Die gehaltene und die nicht gehaltene, zu ergänzende Rede ergeben zusammen erst das mächtige Preislied, von dem nur die Melodie übrig blieb, die in Träumen sich so leicht singen läßt und beim Erwachen im Mißton endet.
[…]
Zehn Jahre nach diesem monumentalen Pendant zur gängigen Rhetorik erscheint der umfangreichste und bislang letzte Gedichtband von Paul Wühr: SAGE. Sage, was zu sagen bleibt, aber auch das Sagenhafte, nicht ganz Geheure, und die Sage, die uralte Geschichte der Selbstvergewisserung: eine Summe, die sich aus den tiefsten Widersprüchen zusammenrechnet. Alles ist noch ungewisser geworden, noch unmöglicher, das Stolpern zur Gangart: „Der wahre Weg – so heißt es bei Kafka – geht über ein Seil, das nicht in die Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt, stolpern zu machen als begangen zu werden.“ Nicht umsonst ist der Fuß, ist das Gehen und Über-Springen das Wiederholungsmotiv dieser Gedichte, die selber aus sich herausgehen wollen, sich zurücklassen wollen, um gleichsam verwundert und enttäuscht, besser: verlegen zu sich zurückzukommen.
[…]
Michael Krüger, Rede zur Verleihung des Petrarca-Preises 1990 in: Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 6, Dezember 1990
Jörg Drews: Laudatio auf Paul Wühr. Zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Bielefeld 2003
Jörg Drews: Laudatio auf Paul Wühr. Zur Verleihung des Ernst-Jandl-Preises 2007
Paul Wühr: Sprache und Poesie. Rede anlässlich der Verleihung des F.-C.-Weiskopf-Preises.
DIE WAHRHEIT DES ABC
Für Paul Wühr I
Er sitzt an seinem Tisch und schreibt das falsche Buch.
Er schreibt das falsche Buch, und das allein ist richtig.
Nur wer es ignoriert, ist dumm und uneinsichtig.
Die Wörter schlafen nicht, bedeckt vom Leichentuch.
Das Rechte ist verkehrt, das Falsche ist kein Fluch.
Das Falsche ist kein Fluch, ist dick und ist gewichtig.
Des Dichters Honorar ist rechtens steuerpflichtig.
Ist das Verkehrte Recht? Es lohnt sich der Versuch.
Kurzum, zum guten Schluß wirds jedem offenbar:
das Wahre ist nicht falsch. Das falsche Buch ist wahr.
Es kann, der Logik nach, so falsch nicht wahrer sein.
Die reziproke Welt bewirkt das ABC.
Der brave Dichter sitzt am Trasimener See
und trinkt zum falschen Buch die Wahrheit aus dem Wein.
Ludwig Harig
PAUL WÜHR
und in den Mägen knurren Hunde
und durch die Mäuler geht das Rot
und durch den Nebel zieht die Wolke
und durch den Lauf tönt der Krach
und durch die Brust kommt der Tod
den dir der Jäger macht wenn er nicht
schläft sondern in der Jägerwache wacht
Peter Wawerzinek
Bernhard Setzwein: „Poesie ist das Unerwartete“
Passauer Neue Presse, 27.6.1997
Angelika Overath: Kehraus der Poesie
Neue Zürcher Zeitung, 10.7.1997
Herbert Wiesner: Wider die Gewalt des Richtigen
Der Tagesspiegel, 10.7.1997
Sabine Kyora: falsches lesen. Zu Poesie und Poetik Paul Wührs. Festschrift zum 70. Geburtstag
Aisthesis, 1997
die horen, Heft 186, 2. Quartal 1997
Lutz Hagestedt: Große Gesänge auf München
Frankfurter Rundschau, 10. 7. 2002
Lutz Hagestedt: „Lesen heißt erleben, konkret mitmachen!“
Tages-Anzeiger, 10.7.2002
Peter von Becker: Der falsche Feminist
Der Tagesspiegel, 10.7.2007
Herbert Wiesner: Im Falschen wird die Angst enden
die horen, Heft 228, 4. Quartal 2007
Simone Dattenberger: Gegenmünchner Wühr
Münchner Merkur, 10.7.2007
Jörg Drews: Alle Horizonte offen
Süddeutsche Zeitung, 10.7.2007
Thomas Poiss: Der Gegenmünchner
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.2007
Bernhard Setzwein: Ein besessener Bayer in Italien
Passauer Neue Presse, 10.7.2007
Sabine Kyora (Hg.): Im Fleisch der Poesie. Festschrift zum 80. Geburtstag von Paul Wühr
Aisthesis, 2007
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