KADDISH X
(…)
Kaddish
den Sterbenden in den Sechsbettzimmern,
ihr stolzen Schwertlilien, ihr krausen Basilien,
eingenäßt, gottverlassen, Arme und Beine
so dünn, daß ein Kind sie umfassen könnte, kein
Kind umfaßt sie,
Blase und Darm entleeren sich
nur noch mit Nachtasten, Klopfen,
und aus den Mündern steigt zuweilen Gas.
Ihr zarten Violen, man wird euch bald holen.
Kaddish
den Halbwüchsigen, rissig, korruptfarben,
den Tulipanen, rot und weiß,
den himmelfarben Ehrenpreis,
die hinter Tiefgaragen auf die Jäger warten, im
glitzernden Sinter der Bahnhofstoiletten, im Armageddon
der Zubringer, Unterführungen, Hauseingänge, Kaddish den Gören,
die in Gestrüppen gefunden wurden
mit der zerrissenen Strumpfhose um den Hals.
Kaddish den schön’ Hyazinthen, den türkischen Binden,
den Rißweibern, den Tussis, den Hardcorephoeben
aus Hinterhöfen und Brachen
in ihrer wilden Leidenschaft, nicht zu verrecken.
Kaddish den wahnhaften Gespinsten
aus Erinnerungen, Ängsten und Wünschen, Affekten und Tagträumen,
den Details der Kammern oder Salons, dem Inventar
der Flure, den Gerüchen und Geräuschen der Katakomben,
den täglichen Lieferungen gestorbener Babys,
manche schon grau und verwittert wie alte Puppen, manche
noch rosig, als schliefen sie nur auf ihren
zu großen Bahnen. Im allzu nahen Süß. Im Perm.
Im Alpenvorland glänzen die Provinzen.
Nachts brennen Berge.
Morgens zählt man die Toten auf den Campingliegen
und wie ein Sternschnuppenschwarm blitzen
im Kopf eines Häftlings
Todfeinde mit zerstörten Trommelfellen und feine Fäden,
die zu den Foltergeräten im Körperstamm laufen;
und all das Glück, das furchtbare, das süße Glück.
Und jemand verschießt einen ganzen Film über den Dalai Lama,
doch als er die Kamera öffnet, ist sie leer.
Und jemand legt sich ein Kissen auf den Kopf,
legt eine Waffe an und drückt ab.
Federn sinken.
Still.
Wolken rasen.
(Sie haben Wirbelsäulen,
sehr hell, sehr durchsichtig, menschlich.)
Haubentaucher küssen sich minutenlang.
Der Rest ist Tarnung.
Eine junge Frau führt einen Fisch in ihren Leib.
(Sie weiß nichts von Alkmene.)
Ein Mädchen weint sich leise
in den Schlaf.
Ein kleiner dicker weißer Junge
will nicht mehr leben. Nah eine Gruppe Nackter,
die getrieben werden.
Feindselig jedes Molekül.
Geh, wilder Knochenmann!
(Und rühre mich nicht an, fügen wir jetzt,
der Ordnung halber,
hinzu, schauen dabei
einer blonden Frau zu, die verwirrt ein großes Samtkissen
an sich preßt, als sei es ihr Baby, schauen
auf einen alten Mann ohne Gebiß, der sich soeben
eine perfekte Dauerwelle hat legen lassen,
blicken auf die lasziv entblößte,
halbwüchsige Recha, diese Huldigung an die Triebkräfte
des Blickes und der Haut. Ein Hauch
von jenem Schweiß,
von der ersten und letzten Erregung.
Wie eine Nacktschnecke kriecht
ein kleiner Sohn an uns hoch. Eine Tochter
steht bei uns. Nah. Langsam
überflutet Wasser Venedig und erinnert
an die Geburtsstunde der Musik.
Wenn du jetzt
ein aus dem Nest gestürztes Vogeljunges fändest
und es zurückgeben könntest,
solltest du es tun.)
Kaddish
den alten Friseuren aus der Zeit,
als ich noch die Kleidung des jungen Mannes trug,
ich weiß nicht, wer ihren Sarg trug.
Kaddish dem Zimmer der Sterbenden,
das ich niemals betreten wollte.
Dafür erinnere ich mich heute an Dinge,
die niemals stattgefunden haben, und ich würge daran
wie der Kerl im Sitz neben mir.
(Was sind dagegen die ausgedrückten
Zigaretten auf deiner Haut? Was
alle Süße des Fleisches?)
Kaddish
den Lauten der Liebe: es sind
Sammlungen von Mordballaden, plebejische Hymnen
und Schmachtfetzen aus dem Fundus des Unbewußten
über Irre, Verlorene und Verlierer,
über den Schimmel auf Fleisch und Tomate.
Keine andere Sprache als die der Körper.
Als ich Jehuda das letzte Mal sah,
hatte der Tod sein Gesicht schon beschlagnahmt.
Er lächelte hämisch. Wir
würden uns wiedersehen. Bald.
Ich dachte an Menschen, die mit Kerosin überschüttet
und verbrannt worden waren. Ich begriff,
daß das Universum nicht war,
nicht sein wird, nur ist.
Es wurde Nacht,
die ersten Fenster erleuchteten sich,
ich bin nicht mehr ich, sagte Jehuda.
Ich ging.
Neben mir auf der Straße fuhren Lastwagen vorbei,
hielten an, zogen an, unter den Planen
schauten wächserne Füße hervor. Alle Träume
werden von Wesen beschrieben, die des Wortes beraubt sind.
Kaddish
für Jehuda Amichai.
Ihr Brüder, ach, ihr Schwestern:
Heute ist schon gestern,
Morgen geht schon aus.
Gestern ist noch heute.
Und die großen und die kleinen Leute
gehen darin ein.
Und aus.
the „German poet with the largest vocabulary by far“ (Christoph Meckel), presents his opus magnum in KADDISH I–X, a cycle of long poems, over a decade in the making, a lyrical major work, the like of which has long since not been seen in the German language – a literary event, a poetic inventory of the world no less.
KADDISH I–X is a universal song, a torrent of words that joins the never-uttered to the everyday, philosophical abstraction to erotic obsession, the conscious to the unconscious.
Schöffling & Co., Ankündigung
– Paulus Böhmers universale Gedichte. –
Ende der Sechziger gab Walter Höllerer in den Akzenten die Parole aus, das zukünftige Gedicht habe vor allem lang zu sein, um seinen Aufgaben gerecht zu werden. Die Reaktionen damals waren gemischt – so etwa Jandl:
zum
höll
mit dem kurzen
gedichte
zum
höllerer
mit dem
l
a
n
g
e
n
und noch immer kann man sich beim Aufschlagen eines Gedichtbandes weitgehend darauf verlassen, kurze Texte geboten zu bekommen. Paulus Böhmer ist ein Autor langer Gedichte, der seit 1963 über ein Dutzend Gedichtbände in kleinen und kleinsten Verlagen veröffentlicht hat, zuletzt 2001 Lama Lama Sabachthani im Ein-Mann-Verlag von Peter Engstler in Ostheim in der Rhön. Nachdem er durch einen Auswahlband bei dtv (ebenfalls 2001) gewissermaßen die offiziellen Weihen erhalten hat, liegt nun bei Schöffling & Co. ein kapitaler, 350 Seiten starker Band mit zehn Langgedichten aus mehreren Jahrzehnten vor.
Kaddish I–X ist, auch wenn die Teilstücke über einen großen Zeitraum hinweg entstanden sind und teilweise bereits einzeln veröffentlicht wurden, ein einziger gewaltiger Wortstrom, so einheitlich wie amorph. Der Anspruch geht aufs Ganze, auf eine enzyklopädische Inventarisierung des Universums vom Zellplasma zu den Quasaren, vom Intimen zum Virtuellen. Das Buch inszeniert eine Inversion des Urknalls: Alles Denkbare stürzt aus jeder Richtung ins Ballungszentrum eines Stapels Druckseiten. Dabei fliegen dem Leser gehörig die Fetzen um die Ohren. Das Grundprinzip ist die Reihung des möglichst Verschiedenen, die alte Surrealistennummer der Begegnung des Regenschirms mit der Nähmaschine bzw. bei Böhmer der Begegnung von Winnetou, Mikrobenmatte, Wasserstoffwolke, Grönland, zwölf Tonnen Roastbeef, einem starren Kokongespinst und dem Milchstraßenzentrum bereits auf der ersten Seite.
Alles wird dabei offensichtlich gleich wichtig genommen, nichts wird über- oder unter- oder eingeordnet, nichts strukturiert, geformt, gedeutet, alles reiht sich in die endlose Verkettung der Worte:
die endlosen Ver=
kettungen der Worte mit ihren unvermittelten Brüchen, die
den Sinn vor dem Verstehen behüten, umstehen
die undeutliche Behauptung eines zu schützenden Innen,
in weißem Rauschen, das nur sich selbst meint, im
Zischen, das nur sich selbst beweist, in den
Pendelbewegungen des Labyrinths, in Hinein und Zurück
und Hinein und Kehre ins Zentrum…
Dieses Spiel der Differenzen, es ist hier angedeutet, zielt dialektisch auf Totalität: die Einheit von Ich und Welt, Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod. Weil „die Welt da draußen alles ist“, gibt es das Innen nur als Negativabdruck des Außen, ist das Subjekt in die Objekte zerstreut. Das kosmische Epos offenbart sich als „Song of Myself“ ganz in der Tradition Walt Whitmans, auf den auch angespielt wird („Ist all das Gras da in mir?“).
Das Kaddisch als Totengebet ist die Vergegenwärtigung von etwas Vergangenem, in ihm wird das Tote noch einmal lebendig. Gleichzeitig wird dem in den Gedichttext Eingehenden das Leben genommen, es erstarrt zu ewiger Schrift. „Für die lange letzte Sekunde, / in der wir uns zusehen können“, beginnt das erste Gedicht: Die Zeitdimension soll aufgehoben sein zu einem ewigen Augenblick. So wie jede vor dem Leser promenierende Partikel „ich“ ist, ist sie auch „jetzt“. Daher gibt es in dem Zyklus keine Ordnung, keine Struktur, da jeder einzelne Moment nicht Teil eines größeren Ganzen sein soll, sondern Aufscheinen von Totalität, unmittelbare Präsenz: In den „winzigen Augenblicken im Ozean des Unbegreiflichen“ will das Gedicht „das Geringe des Lebens / einen Lidschlag lang aufleuchten“ lassen.
So ambitioniert das Programm sein mag, am Leser wälzt sich der endlose Strom von Dies und Das ziemlich zäh vorbei, und er hat eigentlich nur die Chance hineinzuspringen, sich mittreiben zu lassen und selbst etwas aus dem Treibgut zu machen, das ihm an den Kopf knallt. Gelegentlich gibt es luzide Passagen, semantische Reibungen, aus denen sich Funken schlagen lassen, aber leider stößt man sich auch immer wieder an Plattitüden („Es gibt keine Worte für Gefühle“), an Klischees (wie den Feindbildern „Massentierhaltung“, „Kapitalströme“) und der ach so mutigen und abgeklärten Illustration der vermeintlichen Tabubereiche Sex und Gewalt.
Böhmer gelingt mit Assonanzen, parallelen Strukturen und Leitmotiven ein musikalischer und durchaus auch mitreißender Duktus, dem aber die inhaltliche Zersplitterung entgegensteht, so dass sich nicht der hymnische Ton eines Whitman oder Ginsberg entwickeln kann (durch die Anknüpfung an Ginsberg und dessen Gedicht „Kaddish“ von 1959 könnte sich Böhmers Schreibung des Titels ohne „c“ erklären).
Ein anderer Vergleich, der sich aufdrängt, ist der mit Paul Wühr, da Böhmers postuliertes Programm weitreichende Parallelen zu diesem aufweist:
Jede
Ordnung ist eine Ordnung des Todes
Wührs Gedichtzyklen sind ebenfalls monumental, die letzten zwei Bände haben sogar jeweils mehr als den doppelten Umfang von Kaddish, und sie bestehen ebenfalls aus heterogenen Partikeln der verschiedensten Wirklichkeitsbereiche und Diskurse. Beiden Autoren gemeinsam ist das Anschreiben gegen den Begriff und dessen doppelten Anspruch, das Differente auf den gleichen Nenner einzuebnen und das Ganze in Teile zu zerstückeln. Da der Begriff also niemals das Einzelne oder das Ganze „haben“ kann, ist das Einzelne und Ganze – das Ich, die Welt – höchstens gegen den Begriff zu haben. Die Masse und Heterogenität der Dichtung von Wühr und Böhmer resultieren so letztlich aus der Revolte gegen den Absolutismus des Begriffs. Aber während Wühr sich Strategien erarbeitet hat, die Überlistung der Sprache in der Sprache zu inszenieren, durch syntaktische Brüche und komplexe Kompositionsstrukturen etwa, bietet Böhmer lediglich eine Aufzählung, die ihre Sprengkraft ausschließlich aus ihrer chaotischen Fülle schöpfen muss (dies aber nicht so radikal schafft wie etwa Inger Christensens Alphabet).
Wenn man böswillig wäre, könnte man dem ehemaligen Werbetexter Böhmer, der für Slogans wie „Pepsi ist Musik“ und „Der Miracoli-Tag“ verantwortlich zeichnet, vorwerfen, er habe eine trübe Brühe gebraut, oder: das Hackfleisch müsse erst noch dazugegeben werden. Doch es gibt auch Momente, in denen etwas aufscheint vom Mirakel des Lebens, das er so beharrlich umkreist.
Alexander Frank, neue deutsche literatur, Heft 548, März/April 2003
– Entgegnung auf Alexander Franks Rezension von Paulus Böhmers Kaddish in ndl 12/2003. –
Man hätte dem Rezensenten ein weitaus leichtgewichtigeres Buch zur Besprechung gewünscht als gerade Paulus Böhmers Kaddish, denn, wie immer man zu dem im letzten Herbst bei Schöffling erschienenen Langgedichte-Zyklus stehen mag, einen dermaßen halbherzigen, über die Oberfläche des Textes lavierenden Verriß wie diesen hat der Band auf keinen Fall verdient.
Um gleich der ersten Anmaßung des Rezensenten zu widersprechen: Kaddish ist keineswegs der Text eines Autors, der ein dtv-Taschenbuch nötig gehabt hätte, um mit den „offiziellen Weihen“ des Literaturbetriebs ausgestattet zu werden. Namhafte Verlage mögen höhere Publizität garantieren, echten literarischen Progress kann aber erst ein dauerhafter Nährboden oder Untergrund kleiner, ambitionierter Verlage gewährleisten, wie er sich etwa mit der Eremitenpresse (wo Autoren von Christoph Meckel bis Thomas Kling veröffentlichten) oder dem legendären MÄRZ-Verlag (wo seinerzeit Brinkmanns/Rygullas Acid erschien) im Westdeutschland der Nachkriegszeit herausbildete: beides Verlage, deren Geschichte ohne den Namen Paulus Böhmer kaum denkbar wäre. Und daß die Bedeutung eines Dichters nicht an seine Dauerpräsenz in großen Verlagshäusern gebunden ist, dürfte eine Binsenweisheit sein – erinnert sei hier nur an die Künstlerbücher der Pariser Kubisten oder die little mags der amerikanischen Lyrikszene. Schließt ein Rezensent dennoch indirekt vom Publikationsstatus eines Dichters auf dessen literarischen Wert, so zeigt das nur, wie unreflektiert er gesellschaftliches Karrieredenken und Aufsteigerideologien in die Sphäre literarischer Kritik übernimmt – dorthin, wo einfach ganz andere Maßstäbe gelten.
Noch schwerwiegender allerdings ist ein weiterer Vorwurf, den der Rezensent gegen Böhmer erhebt – den nämlich, seine Art zu schreiben sei ja gar nicht so neu und spektakulär, alles sei bereits schon einmal dagewesen. Man fragt sich unwillkürlich, ob er tatsächlich weiß, wovon er schreibt, wenn bei ihm beispielsweise Walter Höllerer „Ende der Sechziger die Parole vom Langen Gedicht ausgab“: In seinen 1965 veröffentlichten „Thesen zum langen Gedicht“ dürfte es Höllerer nämlich (im Gegensatz zu hiesigem Rezensenten) um alles andere als um „Parolen“ gegangen sein – war er doch einer der ersten, die, neben Hans Magnus Enzensberger oder Rainer Maria Gerhardt, dem Anschlußbedarf der deutschen Nachkriegslyrik an die internationale Avantgarde durch extensive Herausgeber- und Übersetzertätigkeit nachzukommen versuchten. Höllerers Reflexionen speisten sich aus der Lektüre von und Gesprächen mit Charles Olson, Robert Creeley, Allen Ginsberg, Gregory Corso, Lawrence Ferlinghetti u.a.; das Langgedicht – eine amerikanische Tradition, die keiner, der etwa die jüngsten Langgedichte John Ashberys („Flow Charr“, „Girls on the Run“) gelesen hat, als abgestanden oder veraltet empfinden wird – sollte seinerzeit einfach auch im deutschen Sprachraum heimisch gemacht werden. Keinesfalls darf davon ausgegangen werden, daß Höllerers damalige theoretische Implikationen auf alle Langgedichte, die heute geschrieben werden, zuträfen, oder daß sich gar, mit der Fragwürdigkeit mancher Postulate Höllerers, das Langgedicht als solches erübrigt hätte. Dem Rezensenten scheint nämlich entgangen zu sein, daß Böhmers Langgedichte – im Gegensatz zu den in der Höllerer-Nachfolge gepflegten, in der Tat weniger strukturierten, dafür umso zeitgebundeneren Langgedichten – ja gerade äußerst diszipliniert durchgearbeitet, fein strukturiert und alles andere als chaotische Anything-goes-Konglomerate sind. „Nichts wird über- oder unter- oder eingeordnet, nichts strukturiert, geformt, gedeutet“, schreibt Frank – ich frage mich, was für ein Buch er damit meint. Wie kann man allen Ernstes von mangelnder Strukturierung sprechen, wenn doch in Böhmers Kaddish allein schon durch den fortlaufenden Mittelachsendruck – dazu hätte ein einziger aufmerksamer Blick ins Buch genügt – ein völlig neues, nichtlineares, horizontale abendländische Denkstrukturen verweigerndes Ordnungsmuster von Lyrik angekündigt wird. Einer intensiven, sich auf den Gegenstand einlassenden Lektüre, wie man sie von einem Kritiker erwarten sollte, dürften dabei die verschiedenen thematischen Ein-, Über- und Unterordnungen, die Leitlinien und roten Fäden dieses Langgedichts, die es an Komplexität und Differenziertheit mit den Verschachtelungen einer Bachschen Fuge aufnehmen, nicht entgangen sein – kein Hinweis darauf findet sich beim Rezensenten. Kein Wort über die im Kaddish wiederkehrende Trauerarbeit am das jegliche Kategorien des Einordnenwollens sprengende Phänomen Auschwitz: kein Wort über die Allgegenwart des Todes; kein Wort über die alles andere als zufällige Präsenz eines Rolf Dieter Brinkmann. Jean-Luc Godard, Federico Fellini, Hans Henny Jahnn oder Henri Rousseau in Böhmers Gedichten. Kein Wort darüber, was ein Derrida, Foucault oder Deleuze zur Interpretation von Kaddish beizusteuern hätten. Wenn in vorliegender Besprechung der antidiskursive Stil Böhmers auf eine „Reihung des möglichst Verschiedenen“ hin versimpelt und seine Art zu schreiben als „alte Surrealistennummer“ verunglimpft wird, so kommt dies einer Negierung der wichtigsten und folgenreichsten künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts gleich. Äußerungen wie diese zeugen nicht nur von Arroganz gegenüber den ästhetischen Ansprüchen unserer Epoche, sie sind eine Bankrotterklärung des Kritikers vor einem seine intellektuellen Potenzen bei weitem übersteigenden literarischen Werk, das überdies im deutschsprachigen Raum seinesgleichen sucht (und selbst Ginsbergs private Totenklage reicht lange nicht an Böhmers fulminante Elegie heran). Mokiert sich der Rezensent einerseits jedoch über die angeblich bedenkenlose Reihung des allzu Verschiedenen, so scheint es wiederum inkonsequent, wenn er selbst die Poetik Paul Wührs ins Spiel bringt, um sie mit derjenigen Böhmers zu vergleichen – als wären die literarischen Ansätze bei der Autoren nicht ebenso diametral voneinander verschieden und unvergleichbar wie es Lautréamonts Regenschirm und Nähmaschine sind.
Ich weiß nicht, was den Rezensenten dazu veranlaßte, Böhmers frühere Brot-Tätigkeit als Werbetexter mit dem Kaddish in Verbindung zu bringen (ich frage ja auch nicht, womit der Rezensent seine Brötchen verdient – mit Kritiken von dieser Art müßte ihm das eigentlich schwer gelingen); ich weiß auch nicht, wie es möglich ist, eine derart diffizile, ausgereifte Lyrik wie diejenige Paulus Böhmers – der als Leiter des Frankfurter Literaturbüros selbst lange Jahre aktiv an der Förderung von Lyrik beteiligt war – ohne rot zu werden mit dem Stempel einer bloßen „Aufzählung“ herabzuwürdigen; was ich jedoch sicher weiß, ist, daß dem Rezensenten das seltene Kunststück gelungen ist, über ein Werk zu schreiben, ohne dabei auch nur eine einzige wesentliche Bemerkung über dieses gemacht zu haben. Es ist nicht das Kunstwerk, das hier gescheitert ist, es ist der Kritiker, der die Inkommensurabilität des Kunstwerks, um nicht seine Kapitulation davor einzuräumen, mit ein paar oberflächlichen, sich weltläufig gerierenden Parolen überdeckt. Vielleicht würde ihn ja folgendes Zitat Theodor W. Adornos zu einem Verständnis dessen verhelfen, worum es Paulus Böhmer in seinem Kaddish, jedenfalls nach meinem Dafürhalten, tatsächlich geht. Auf Seite 455 seiner Ästhetischen Theorie schreibt der Frankfurter Philosoph, in Bezug auf Mozart, daß der veritable Künstler nämlich den landläufigen Normen „entragt“ gerade durch „seine Fähigkeit, Unvereinbares zu vereinen… ohne in ein anbefohlenes Kontinuum sich zu verflüssigen… Dies Moment ist es… es mag Authentizität heißen… wofür kein besserer Terminus zur Verfügung steht als der anrüchige von der Tiefe.“
Jan Volker Röhnert, neue deutsche literatur, Heft 550, Juli/August 2003
– Zu Paulus Böhmers großem Zyklus Kaddish. –
Davon träumt so mancher Lyriker: Vom großen Gedicht und einem Verleger, der sich auf das vielleicht noch größere Wagnis einlässt, dergleichen zu drucken. So träumt der Dichter wie seinerzeit Franz Schubert, der einmal zur wirklich großen Symphonie vorstoßen wollte und dem dies zuletzt doch noch gelang.
Im großen Gedicht nun glaubt der Dichter, die Welt – seine Welt umfassen und durchdringen zu können. Nicht selten in Form von Klagen. Meist in zehn Teilen. Rilke hat das so vorgegeben in seinen Duineser Elegien. So wie Beethoven die Zahl neun für die künftige große Symphonie vorschrieb, während Komponisten vor ihm Sinfonien dutzendweise geschaffen hatten. Was dann wiederum die sogenannten Skizzenvervollständiger dazu verleitete, auch im Falle Beethovens und Schuberts, Mahlers ohnehin, eine große Zehnte aus den nachgelassenen Skizzen zu rekonstruieren.
Das große Gedicht hat inzwischen wieder Konjunktur. Das bislang größte der großen deutschsprachigen Gedichte jüngeren Datums hatte Jürgen Becker unter dem Titel Das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft vorgelegt. Auch Nach der Natur von W.G. Sebald war ein sehr großes unter den großen Gedichten. Nun aber das auf absehbare Zeit allergrößte unter den großen Gedichten, verfasst von Paulus Böhmer unter dem Titel Kaddish, in zehn Teilen und auf insgesamt dreihundertfünfundvierzig Seiten ausgebreitet, eine Weltklage, ein Hymnus auf ein skeptisches Sich-dem-Leben-Hingeben – trotz aller Widrigkeiten und Scheußlichkeiten. Das Motto von Douglas Dunn ist gut gewählt:
Sieh auf die Lebenden, liebe sie, und halte durch
Ein Gedicht der Superlative. Ein Dichter der weit ausgreifenden Ausmaße. Allein seine Tätigkeitsspanne. Wir lesen:
Er studierte Jura, Architektur und Germanistik, wurde Industriekaufmann und arbeitete u.a. als Stauden- und Ziergraszüchter, Reizwarenliferant, Lektor und Werbetexter.
Sechzehn Jahre lang leitete er, es sei gesagt, auf selten niveauvolle Weise, zudem das Hessische Literaturbüro zu Frankfurt am Main. Vielleicht sollten Lyriker heute wirklich über einen solchen Erfahrungshintergrund verfügen. Vor allem wenn sie ein Weltgedicht schreiben wollen – dem Ansatz nach eine Verbindung aus Hiob, Dante, Octavio Paz und T.S. Eliot. Letzterer verfügte freilich nicht über einschlägige Erfahrung im Ziergrasbereich und Reizwarenmilieu, aber über etwas vielleicht noch Wertvolleres: Über einen in allen Dichtungssparten versierten Berater nämlich, er hieß Ezra Pound, der Eliot zu drastischen Kürzungen in seinem Manuskript The Waste Land riet. So konnte aus einem großen Manuskript ein bedeutendes Gedicht werden.
Nun erfordert dieser größte auf Deutsch geschriebene Kaddish unweigerlich eine umfangreiche Besprechung, nein, die umfangreichste Rezension, die je einem großen Gedicht zuteil geworden ist. Beim Lesen von Böhmers Kaddish stellte ich mir vor, mindestens alle Seiten des Spectrum zur Verfügung zu haben, um über diese zehnteilige Klage angemessen zu schreiben. Dem größten Gedicht die größte jemals geschriebene Besprechung. Oder der unbedingte Kontrast: Eine Rezension dieses unstreitig ambitiösesten Gedichts der letzten Jahrzehnte im deutschsprachigen (Kultur-)Raum in Form von einer Zeile. Sie könnte lauten:
Dieses Buch rezensiert sich selbst
Der frühe Friedrich Schlegel hatte dies ohnehin als Ideal der Kritik angesehen, das Buch, das sich selbst zur Rezension wird.
Im Falle von Böhmers unfassbar großem Gedicht Kaddish wäre ein Bezug auf dieses frühromantische Ideal keineswegs verfehlt; denn der wohl immens rührige Schöffling & Co. Verlag in der Mainmetropole lieferte tatsächlich in einem Loseblatt-Begleitheft drei Kritiken mit: von Eva Demski, Thomas Hettche und Alban Nikolai Herbst, schöne Texte allesamt. Demski findet zu einem reizenden Vergleich: Poeten seien „formvollendete Lippizaner“ im Gegensatz zu den bloßen Prosaschreibern, die sie „holsteinische Brauereigäule“ nennt. Hettche freut sich über sieben besondere Aspekte dieses Großgedichts, deren erster der Umstand ist, dass man es mit erfreulich „langen Gedichten“ zu tun habe; Herbst stellt fest, Böhmers Gedicht verfüge über kein lyrisches Ich, und der Verlag legt noch eins drauf und zitiert Christoph Meckel, der Böhmer als „deutschen Dichter mit dem weitaus größten Wortschatz“ beschreibt. Dieser Befund reibt sich etwas mit Hettches Bemerkung, dass Böhmer „Wiederkehr der immerselben Motive und Topoi“ ausgesprochen hege und pflege.
Versuchen wir zu ermitteln, was es über Böhmers aufreizend großes Gedicht noch zu sagen gibt. Beispielsweise dass jeder Kaddish vielen und vielem gewidmet ist:
Für Tina vom Strich. Für Goll (gemeint ist wohl Yvan!). Für den Fänger im Roggen. Für das Salz in den Augen Homers. Für die Haarberge, die Ihr kennt. Für Jehuda Amichai.
Und noch für so manchen und manches andere. Eigentlich ist jeder Vers eine Widmung. Für dieses und jenes. Für ist die vorherrschende Vokabel des zwanghaft großen Gedichts.
Was an diesem bestürzend großen Gedicht ist gelungen? Das Litaneihafte, der gelegentliche wirklich poetische Augenblick („Für das Weiße Rauschen der Sprache“), die Kühnheit alles mit allem zu verbinden (der ,Salat‘ gehört ja auch zu den glücklich Bewidmeten), die konsequente Trauerhaltung, sie beeindruckt tatsächlich; der Versuch, poetisch Inventur zu machen von dem, was sich noch ,Kultur‘ in unserer Zeit nennt; nein, diesen Ernst, dieses Anliegen kann man Böhmers bedrückend großem, wortschweren Gedicht nicht absprechen. Nur, wohin mit solchen Zeilen:
Kaddish den Verzögerungen im Blutstrom,
den Zwängen der Onanie, den Romanmomenten des Selbstmords.
Kaddish
dem Erbrechen der Nymphomanin und den Gewißheiten der Kosmologie
[…]
Kaddish dem Abscheu
vor den Schwarzen Löchern im Universum.
Und und und. Immerhin über dreihundert Seiten lang.
Meckel hat Recht: Böhmers Wortschatz ist ungemein. Nicht zu übertreffen. Kaddish auch für diesen Wortschatz? Jahre habe es gebraucht, diese zehn Trauergesänge zu schreiben, teilt der Verlag auf Anfrage mit. Was heißt zu schreiben? Komponiert sind diese Gesänge wie Musikstücke oder postsymphonische Sätze, wie man sie allenfalls noch von Hans Werner Henze erwarten kann. Böhmer über Böhmer aus einer der vom Verlag beigegebenen Musterrezensionen:
Meine Gedichte sind nach musikähnlichen Vorgaben konstruiert, mit Hauptthemen, Nebenthemen, Fallenlassen und Wiederaufnehmen, Variationen, Auffächerungen, Auflösungen. Bewusst sind retardierende Momente eingearbeitet, stille Stellen, Aufzählungen, Reihungen, Songs, kleine Liedstellen, Reime.
Ist Böhmer unbedingt zu glauben und stimmt aufs Wort. Aber: diese Sprachkaskaden, der immense Wortaufwand – sie verschütten das, was bewegen soll.
Es ist so lange noch nicht her, dass der Große Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk von Jizchak Katzenelson in einer Übertragung von Wolf Biermann erschien (1994). Ein Kaddish ohnegleichen. Mein damaliges Urteil wiederhole ich unverändert: eine der größten Elegien des 20. Jahrhunderts. Und warum? Weil in diesem Gesang das Leiden am Schweigen und Sprechen Worte fand. Weil bei Katzenelson das Herz dichtete. Im Kaddish Böhmers führte dagegen allzusehr das Wörterbuch Regie.
Nach intensiver Böhmer-Lektüre sprach ich leise das mir wichstigste Kleinstgedicht des 20. Jahrhunderts vor: Ungarettis „M’illumino / d’immenso“. Die Übersetzung dieses Gedichtes bleibt weiterhin eine große Aufgabe.
Rüdiger Görner, in Rüdiger Görner: Wortspuren ins Offene. Lyrische Selbstbestimmungen, Universitätsverlag WINTER, 2016
Gottseidank
Es gibt solche Bücher noch
Die dich in ihrer Sprache fesseln
Dich tragen durch die Wirrniss der Gedanken
Geleiten auf dem Strom der Wortereignisse
Und siehe die Spuren im Sand sind Buchstabenspuren
Sie führen dich zum Ozean der für unmöglich gehaltenen Möglichkeiten
Und siehe die Spuren sie wärmen dich
Und siehe die Buchstabenspuren sind gut
Gottseidank
Es gibt solche Bücher noch
Gottseidank
Es gibt Paulus Böhmer
Kaddish I – X
Die fette Marga, amazon.de, 13.3.2012
Enno Stahl: Paul Böhmer: Kaddish I–X
satt.org, Juli 2003
Eine neue Schaffensperiode begann für Böhmer, als er 1983 zum Leiter des Hessischen Literaturbüros in Frankfurt am Main berufen wurde, eine Tätigkeit, die er zwanzig Jahre lang, bis 2003, ausübte. Sie war nicht nur mit der Organisierung von Veranstaltungen, Lesungen, Diskussionen und Ausstellungen verbunden, sondern auch (bis 1994) mit der Redaktion der zeitgleich gegründeten, vom Literaturbüro in Verbindung mit dem Ministerium für Wissenschaft und Kunst herausgegebenen Zeitschrift Hessischer Literatur Bote (heute: Der Literatur Bote). In der ersten Nummer der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift zeichneten für die Redaktion neben Böhmer (speziell für die „Lyrikredaktion“) Adam Seide (verantwortlich), Petra Kunik, Harry Oberländer, Alban Nikolai Herbst und Hermann Dieter Betz. Von 1992 bis 1994 übernahm Böhmer die verantwortliche Redaktion. Neben einem regionalen Teil mit Texten aus dem Jungen Literaturforum Hessen (u.a. mit frühen Arbeiten von Thomas Hettche) sowie Schwerpunktthemen etwa zu Borghes, Büchner, Goethe oder Auschwitz brachte die Zeitschrift in ihren ersten Nummern auch belletristische und kritische Originalbeiträge von Autoren wie Rolf Haufs, Ingeborg Drewitz, Ursula Krechel, Peter Kurzeck, Gert Loschütz oder Klaus Reichert. In der letzten von Böhmer redigierten Nummer 36 vom Dezember 1994 erschien Prosa und Lyrik von Inga Buhmann, Mechthild Curtius, Susanne Geiger, Alban Nikolai Herbst und Peter Kurzeck. Anschließend übernahm Harry Oberländer die Redaktionsleitung. Böhmer selbst veröffentlichte in der Zeitschrift von 1986 bis 2010 neben Editorials ein gutes Dutzend Beiträge; neben Rezensionen und Nachrufen auch eigene Langgedichte (teilweise in Auszügen), sowie vereinzelte Collagen.1 Außerdem publizierte er einige kleinere Beiträgen in anderen Zeitschriften und Sammelwerken, darunter einen Wort-Bild-Beitrag für den ersten Band des von Claudia Gehrke und Uve Schmidt herausgegebenen Jahrbuchs Mein heimliches Auge.2 Insgesamt aber trat nun, möglicherweise auch bewirkt durch die Tätigkeit im Frankfurter Literaturbüro, Böhmers bildkünstlerische Arbeit weitgehend zurück hinter der literarischen, die sich dabei zugleich zu öffnen und zu erweitern begann; das Fortschreiben bewährter Techniken und Themen vermischte sich mit einem Ausprobieren neuer lyrischer Formen und Sujets. Dieser allmähliche Umorientierungs- und Übergangs-Prozeß in Böhmers Lyrik vollzog sich von Mitte der 80er bis Ende der 90er Jahre. Er läßt sich an der Entwicklung der vier Gedichtbände verfolgen, die Böhmer in diesem Zeitraum veröffentlichte und in denen er seine Produktion jeweils unter Angabe der Entstehungsjahre gleichsam in lückenloser Chronologie präsentierte.3
Der erste dieser vier Bände, unter dem Titel Da sagte Einstein 1990 im Gießener Anabas-Verlag erschienen, versammelt noch fast ausschließlich (ein gutes Dutzend) Langgedichte, die nun jedoch, wie das über 350 Zeilen lange Titelgedicht und das ähnlich umfangreiche „Mein erster Tod“, zunehmend durch nummerierte Zwischenüberschriften oder, wie das Gedicht „Lazarus in den Häusern“, durch den in Klammern gesetzten Untertitel „17 Grotesken über das Schlachten“ in sich gegliedert werden. Diese Tendenz zur Unterbrechung und Strukturierung des geschlossenen Assoziationsstroms in langstrophenartige Sequenzen, gelegentlich auch durch kursivierte Passagen oder eingefügte Kurzgedichte, verstärkt sich im Folgenden immer mehr.
Weniger homogen wirkt der zweite, 1993 ebenfalls bei Anabas erschienene Band Dein schwarzgekacheltes Blut. Dein Blut. Darin finden sich neben drei Langgedichten acht zum Teil sehr kurze, apercu-artige Gedichte, die jedoch ebenfalls in der achsenzentrierten Weise der Langgedichte gesetzt sind. Die Titel der drei Sechszeiler „Priatu“, „Aggius“ und „Telti“ sind nicht etwa, wie man vermuten könnte, der Wortspielphantasie des Verfassers geschuldet, sondern reale Namen kleiner Ortschaften auf Sizilien (die Böhmer möglicherweise besucht hat). Mehr Rätsel gibt das an den Schluß des Bandes gesetzte Gedicht auf:
RE
In Gerüchen erscheint
die Wiedergeburt, die grenzenlose
Traurigkeit des Bruders.
Flieg, Krähe, sagte sie, als
sie über ihm war,
eine Marderin
auf der Spur,
nackt bis auf die Pumps.
Müde, so müde.
Flieg, graue Krähe, zu ihr:
Die Augen gingen ihm über,
tät keine Worte mehr.4
Der Titel, als das lateinische „zurück“ verstanden, intoniert, verbunden mit der „Wiedergeburt“, eine Stimmung der unwillkürlichen Erinnerung, möglicherweise an den Bruder, dem, wie der König von Thule, den Gretchen in Goethes Ballade besingt, sterbend die Augen übergingen. In diese schwermütig-balladeske Reminiszenz hinein aber schießt zerreißend-kalt das collagierte Bild aus Krähe, weiblichem Marder und Damenschuh, das die sich einstellende Reminiszenz, wie der Titel auch sagen könnte, zurücknimmt im Sinne von dementiert, am Ende nur resignierendes Verstummen erlaubend. Es ist ein neuer Versuch, über das zu sprechen, was schon in den Langgedichten ein beständiges Thema Böhmers war und was sich ihm später in immer neuer Gestaltung aufdrängen wird: der Tod.
Ähnlich gebaute kurze Gedichte finden sich, eingestreut zwischen Langgedichten, auch in dem 1996 nun im Frankfurter Dielmann-Verlag erschienenen Band Säugerleid. Davon tragen zwei den Titel „Nature morte“, das bildkünstlerische Genre zitierend und damit sogleich die ins Literarische übertragene Machart anzeigend. Eines lautet folgendermaßen:
NATURE MORTE
Staub,
in dem sich der Bussard gewälzt hat.
Die Haarflut der Maria von allen.
Die aasigen Hosentaschen des Vaters.
Die Geschichte des Fischers,
dem Hornissen das Brustfleisch
zu Brei zerkauten.
Die Flüssigkeit der Frau.
Der Morgen ist grau von Tau.5
Hier wird nicht mehr, wie in dem Gedicht „Re“, in syntaktischer Fügung ein Ereignis erzählend erinnert, sondern es werden, wie in den kubistischen Stillleben Picassos oder, radikaler noch, den Collagen der Surrealisten, tote Gegenstände und Requisiten beziehungslos nebeneinander gestellt – doch das gilt nur für die erste und die dritte Strophe. Denn die mittlere löst sich aus dem monostichisch-beschreibenden Rahmen und berichtet im erzählenden Präteritum einen stattgehabten Vorgang, der nun allerdings in sich widersinnig ist und so auf andere Weise das Prinzip der Konstellation des Heterogenen realisiert. Denn der dem Element des Wassers zugeordnete Fischer wird von den an das Element der Luft gebundenen Insekten befallen, die ihn jedoch nicht, wie es ihre Natur wäre, stechen und aussaugen, sondern ihn, was sie nicht können, zu Brei zerfressen und auf ihre Weise die „nature morte“ herstellen.
Der vierte dieser Übergangs-Bände schließlich, 1999 ebenfalls bei Dielmann erschienen unter dem Titel Palais d’Amorph, versammelt eher Persönliches und Autobiographisches in unterschiedlicher Form und Länge. Erneut abgedruckt werden die zuvor im Separatdruck erschienenen Langgedichte „Die Ohm“ und „Eben noch, vor langer Zeit, jetzt“.6 Hinzu kommen Widmungsgedichte an den Frankfurter Freundes- und Kollegen-Kreis, an Katharina Hacker, Werner Söllner, Peter Kurzeck und Alban Nikolai Herbst.7
Das Vorausweisende der ersten drei dieser vier Gedichtbände des Übergangs aber bestand darin, daß Böhmer in ihnen die ersten Langgedichte mit dem Titel Kaddish publizierte, die eine neue, bis zum Abschluß im Jahre 2007 reichende Phase seines Schaffens markieren. Das erste Gedicht dieses Titels stand bereits am Ende des Bandes Da sagte Einstein; ein weiteres, nun als „Zweiter Teil“ eines „work in progress“ bezeichnetes eröffnete den Band Dein schwarzgekacheltes Blut. Dein Blut. Der Band Säugerleid schließlich, der schon den Untertitel „Kaddish & andere Gedichte“ führte, enthielt neben den beiden ersten, nun „stark überarbeiteten“, zwei weitere Teile dieses Werkes, das schließlich auf 21 Stücke anwuchs und 2002 bzw. 2007 in zwei großformatigen, repräsentativ in Leinen gebundenen Bänden im Frankfurter Schöffling-Verlag erschien.8 In der Entstehungsgeschichte, der Form und in manchen thematischen Ambitionen erinnert dieses opus magnum Böhmers wie eine Differenz-Parallele an das vergleichbare „work in progress“ von Arno Holz, dessen Haupt- und Lebenswerk Phantasus zuerst 1898 und 1899 in zwei dünnen unpaginierten Heften erschien, dann bis 1924 auf drei Bände anwuchs und in der neueren Nachlaß-Werkausgabe wiederum drei Bände mit abermals erweiterten über 1.500 Seiten umfaßt.9
Martin Rector, aus Martin Rector: Paulus Böhmer. Malerpoet und Lyriker des Großformats (1936–2018), Wehrhahn Verlag, 2019
Alban Nikolai Herbst: Ein Tusch für Paulus Böhmer ODER Junge Frauen trinken Gifte. Das Feierjournal von Dienstag auf Mittwoch, nämlich des 21. auf den 22. September 2011 und nämlich nämlich aus Frankfurt.
Filmgespräch – Gunter Deller im Gespräch mit Lydia Böhmer über den Film INSELN VON DUNKELHEIT, INSELN VON LICHT – DER DICHTER PAULUS BÖHMER
Steffen Popp: Ein Werk wie ein Wal
Welt, 20.9.2016
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haus-fuer-poesie.org, 12.10.2016
Hessisches Literaturforum im Mousonturm
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Christoph Schröder: Radikal ausufernd
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Michael Braun: Ein Rhapsode der Schöpfung
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Harry Oberländer: No home
faustkultur.de, 10.12.2018
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In Erinnerung an Paulus Böhmer: Gespräch des Monats Mai 2019 im Haus für Poesie
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