Paulus Böhmer: NO HOME

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Paulus Böhmer: NO HOME

Böhmer: NO HOME

LÖCHER IM LICHT

Feuer ist, aus der Ferne betrachtet,
eine unstete, eitle Erscheinung
– wie etwa die Hirnforschung, wie etwa
der ewig vor sich hinkränkelnde Schmorint,
ein Kokolores, ein Hysteriker, ein Vasall
ohne Auftrag und Namen,
wie die Erdbevölkerung, wie
das Verlangen nach Pulswärme und Weh
und Nicht-Sein.
Aus der Nähe betrachtet, ist Feuer
nichts anderes als ein Abzweig des Wassers,
dessen Anblick die Menschen bis zur Unerträglichkeit
traurig macht
– denkt nur an Renoirs späte, purpurne Akte,
aufgepumpt, an der eigenen Überblutung erstickend,
denkt nur
an die Telephonnummer, die ihr mehr als
ein halbes Leben lang,
mit euch herumgetragen und niemals benutzt habt,
denke daran:
Zum Wasser will alles
Wasser will weg.

In Sturzbächen fließt aus den Sterbenden
alles Leben, frühmorgens,
als wär’ die Erdbevölkerung schon ausgestorben,
frühmorgens,
als schlüg’ ein viel zu großes Herz im Embryo,
frühmorgens, als meine Mutter noch ein Kanister war,
undicht und eitel und abgeschabt,
und doch unterscheiden wir
zwischen den Tränen des Mannes und den Tränen
der Frau
und dem Grund der Tränen. (In Wahrheit
hat das eine mit dem anderen nichts zu tun.)
Zum Wasser, zum Wasser will alles.
In einem fernen Land hockt ein Mädchen im Staub,
fällt in Langsamkeit – Unlangsamkeit
zurück in Erde & Fett.
Ist nicht der einzige Beweis für Bewegung
Bewegung?
Mitten in der Nacht. Soldaten,
im Aberglauben, es gebe ein höchstes Wesen, stürzen
wie Wasser herein, behaupten, das höchste Wesen
sei eine Einheit wie Wasser und wie Wasser
vernichte es jedes „Vielleicht“.
Zwei Königskinder, die das Leben nur
aus Büchern kennengelernt haben, probieren
ein frühes Selbst:
Sie kriechen in Bienenkörbe.
Eine Königin lutscht des Königs Gürtel:
Ich bringe mich zehnmal mehr um als Du.
Ich denke an Kälberzungen,
an Sturzbäche, die mich verlassen,
an Bockfett, Glamrock, Erz,
an Kiemenäste, die mich umgeben.
In Flandern reitet der Tod.
Was buchstabieren die Schwalben?
„Ich werde einer gewesen sein“, singt Dylan, Bob.
„Bald bin ich.“ Mehr weiß er nicht.
Und dann wäre da noch ein kleines, ein schmutziges Rosa,
bald wird’s keines mehr sein.
„Jeder Halbsatz ist schon zuviel“,
sagt der blutjunge Leutnant und schießt.
Mick Jagger
hat das bei allen Vasallen übliche, hoch-
mütige Verhalten gegenüber dem einfallenden, sterbenden
Licht.

Als Wasserkopf die Schwerkraft entdeckte,
war ihm, als hätte er
zum ersten Mal eine Spur Gottes entdeckt.
In Flandern reitet der Tod.
Jeder Halbsatz ist nicht zuviel.
Frauen sind Löcher im Licht.

 

 

 

Editorische Notiz

Als Paulus Böhmer am 5. Dezember 2018 starb, hatte er die Arbeit an NO HOME weitgehend abgeschlossen. Er hatte in fast allen Kapiteln letzte Änderungen vorgenommen, bis auf „Hornhautabrupte, Kleinstzotten, Gleitkrum“, „Hirnmasse in Zwergform“ und „Fellgucker, Wärbel, Swimmel“, die seinen Notizen zufolge noch einmal überarbeitet werden sollten. Zudem lag „Ich nicht“ nur in einer ersten Form vor, deren einen Teil Paulus Böhmer aus einem anderen Kapitel ausgeschnitten und um eine neue Passage ergänzt hatte. Im vorliegenden Band sind diese vier Kapitel in der letzten vom Autor erstellten Fassung abgedruckt. Welche Kapitel in welcher Reihenfolge erscheinen sollten, hatte er jedoch abschließend festgelegt.
Nach dem Tod von Paulus Böhmer haben wir, Lydia und Daniel-Dylan Böhmer, gemeinsam mit Peter Engstler die letzten von Paulus Böhmer handschriftlich erhaltenen Änderungen umgesetzt. Unklarheiten haben wir diskutiert und gemeinsam die Lösung gesucht, die dem Willen Paulus Böhmers am besten entsprochen hätte. Jan Volker Röhnert hat uns beraten und das fertiggestellte Typoskript mehrmals sorgsam durchgesehen.

Für ihre Hilfe sind wir allen Beteiligten sehr dankbar.

Lydia und Daniel-Dylan Böhmer 13. Februar 2019

 

Beitrag zu diesem Buch:

Jan Kuhlbrodt: Zu Paulus Böhmer: No Home
signaturen-magazin.de

 

Jedes Stilleben Lüge

– Kleine Anmerkung zur Dichtung Paulus Böhmers. –

Raymond Queneau hat eine Kosmogonie geschrieben. Begeistert von Arithmetik und Poesie, geht er auf Distanz und stopft das Universum in knapp siebzig Taschenbuchseiten.

Die Erde zeigt sich bleich und teigig sie schreit auf
sie destilliert den Grus der in der Röhre gluckst
worin der Rindenwuchs der Nacht sich eingesaugt
Mikrobentropfen in den tauben Schacht getaucht
die Erde zeigt sich bleich und teigig saugt sich voll

Auch Paulus Böhmer schreibt eine Kosmogonie. Er aber geht nicht auf Distanz. So wird eine Bibliothek daraus, enzyklopädische Lyrik. „Wahre Ironie“, heißt es bei Waldo Frank, „stellt das Leben in Frage, ohne es zu verletzen“. Der Dichter Böhmer will verletzen, er hat keinen Raum, sich zu schützen. Ironie empört ihn. Er grollt. – Gleichwohl ist die Verwandtschaft mit dem anderen eng. Queneau und Böhmer nähern sich nur je verschieden der Welt. Beide haben das Universum im Sinn, der eine mathematisch, der andre romantisch. Wer über solche Dichter arbeiten will, bekommt es mit der Evolution zu tun. Böhmer klebt, kittet, verbindet, synkretisiert, assoziiert: auf der Suche nach einer besseren Schöpfung, die doch nur die alte, die grausam-wundervolle zeigt. Zumal den Menschenweg gegen sie, formale Logik, lehnt er ab. Philosophische Systeme findet er absurd. Und stellt lyrische dagegen. Lesen Sie nur hin. Ein jeder Text Organismus, durchzogen von einer zu Adern und Venen mutierten Spezies kommunizierender Röhren. In fahlen, manchmal aquarellen schimmernden Farben durchlaufen und durchnetzen sie die Verse, formen Vulven und Vulkane. Regenbogen winden sich zu leuchtenden Häuten, zu Häutchen zusammen. Man muß schon sehr dicht an diese Lyrik heran. Wer’s tut, den saugt der Taschenkosmos ein. „Wenn das Wort Kieselstein vorkommt“, schreibt Bense, „kommt gewöhnlich auch das Wort Universum vor“.
Böhmer hat die astrophysikalische Erkenntnis  p e r s ö n l i c h  beleidigt, es werde das Weltall in fünf Milliarden Jahren in sich zusammenstürzen.
Aus diesem zutiefst Persönlichen, das das Gegenteil des Privaten ist, beziehen die Texte ihre Allgemeingültigkeit. Sie haben keine Botschaft, keine „Mission“. Insofern gibt es kein Lyrisches Subjekt, das Persönliche ist allgemeiner Strom, Inbrunst zwar, nicht aber Verklärung. Jeder Apotheose wird der Prozeß gemacht. Da bleibt dem schönen Kitsch kein Raum.

Langsam gleitet die Erde über uns hinweg.
Widdewitt.
Manchmal spielen
Kostüme, manchmal jüdische Häute die Hauptrolle, – – –

Ohne Sekundanten im Literaturbetrieb sammelt Paulus Böhmer, grollend, seine Weltstückchen zusammen: biologische, physiologische, psychologische Skandale. Und setzt sie zweiter, besserer Hand in Bewegung. Das ist kein korrektes Benehmen. Man nimmt’s ihm auch übel. Er ist nicht grundlos auf eine so nachdrückliche Weise unbekannt: Man kann von ihr den Eindruck gewinnen, sie sei ein Vergessen. Doch darf nicht korrekt sein, wer sich nach dem ästhetisch Weggeworfenen bückt, aufs Getretene schaut, den Medienschmutz von Clay bis Porno, und die Menschen, also auch die Frauen, so sehr bei ihren Schwänzen nimmt. Eben das können Menschen, also auch die Männer, nicht leiden. Und daß das Persönliche kontextual ist.
In seinem ewigen Gedicht „Kaddish“ – ewig, denn es wird irgendwann abbrechen, niemals aber fertig werden – im Kaddish also strudeln private Erinnerungen ungewertet neben dem öffentlichen Erinnern dahin: Hans Henny Jahnn zu Ingeborg Haberkorn, Emmy Möller bei Arthur Schopenhauer, Buschi Niebergall mit Timothy Baldwin. Bereits die Massierung der Namen schwemmt die Individuen in einen kollektiven übrigens nicht Toten-, sondern Lebensamazonas. Denn das ist auch etwas erstaunliches an Böhmers Klagegesängen, daß sie immer zugleich ein Hymnus sind: Sie feiern, was sie betrauern. Er hat ja nicht von ungefähr den Begriff „Kaddish“, das Preislied Gottes, gewählt, das zum Teil des jüdischen Begräbniskults wurde. Wie jeder Gesang, so destilliert Böhmers Lyrik aus seinen Schmerzen Lust. In der Ästhetik ist aber Lust Schönheit genannt. Alle böhmerschen Gedichte sind ein einziger massiv strömend-schöner Gesang. Das hat etwas von der unzeitgemäßen Sinfonik Allan Petterssons, den Böhmer nicht kennt. Böhmer nämlich meint Rock ’n’ Roll:

klingen schlitzen Schwellkörper auf, Para-
siten saugen sich fest, Urvögel schreien,
oh alfreso-fuck zwischen
Parkplätzen, Büschen, Schluckauf,
Sternwinde rauschen und die Endlosigkeiten
der Ozeane und die Strömungen der Passionen und
die Explosion deines Atems,
Zungengöttin, Granatapfelgöttin, Ishtar:

Ohne es eigentlich zu wissen, geschweige zu wollen, tut er, was seit je die Wissenschaft tat: Er seziert, doch nicht das vorgebliche Original, sondern das Abbild, die Illustrierten, Gebrauchsanleitungen, Beate-Uhse-Magazine, die botanischen Lehrbücher, Stadtpläne, Wahlplakate, Konversationslexika. Queneau schuf, patakantisch, Modelle, Böhmer ist Synkretist und dichtet zusammen. Da er aber zugleich ein realistischer, kein ironischer Künstler ist, verstehen die Leute das nicht und sind entsetzt. Viele reden von Gewalttätig- oder Beliebigkeit. Im besten Fall finden sie Böhmers Arbeiten unanständig. Daran ist unerquicklich, daß sie weder merken, wie sehr sie sich wiederholen, noch, wen sie eigentlich meinen. Während einer Frankfurtmainer Ausstellung blätterte vor Jahren eine junge Frau in einem Band mit Böhmerscher Lyrik und Böhmerschen Bildern und wandte sich schließlich in jenem feministisch-prüden Ekel ab, der ein Zeichen des patriarchalen Sieges ist. Der Höheren Kunsttochter mußte völlig entgehen, wie keusch dieser Dichter eigentlich ist, wie sehr zurückgenommen gerade in seinem Exhibitionismus, worin auseinandergefaltete Schamlippen, zuckende Schwänze und das ganze übrige Sexualarsenal (!) physiologischer Fetzen und Fratzen der Schöpfungsgeschichte auf andere Weise rocken, als das Capras und Joachim E. Behrendts Tanzender Weltallskitsch lieb sein kann. Das Publikum aber bejubelt deren gestikulare Mystik, Stechschritt des Geplärrs und Harmonie der Verblendung. Wenn Böhmer hingegen „Rock ’n’ Roll“ sagt, meinte er Ekstase, nicht Veranstaltung. Kein Moment des Einhaltens kommt. Jedes Stilleben Lüge. Wer versteckt, ist niemals keusch. Er erniedrigt. Böhmer hingegen öffnet, und plötzlich leuchtet dem Leser etwas Fremdes aus den Zeilen, Furchtbar-Schönes, rätselhaft, ein Sternensystem mit Iltiskopf.

Schamlippen wuchern schwestermörderisch auf, Mutter-
kuchenzotten mit längsgeriffelten Strukturen, sorg-
fältig ausgetüftelte Pfählungen, Automaten aus hohlem Holz,
Türme verfeindeter Sippen, fette Halb-
schatten jadegrüner, smaragdgrüner, resedagrüner Jahr-
tausende, aufgefaltete Bodies wie die Erlösungsformeln
der Orphiten, gewürzt mit Ingwer und Pfeffer, der un-
ergründlichen Vergiftung der Ekstase, dem trockenen
Rascheln der Minerale.

Böhmers Texte räumen mit der Vorstellung eines Autonomen auf. Schon insofern kann es das Lyrische Subjekt hier nicht geben. Je hemmungsloser etwa der Akt zur Schau gestellt wird, um so nachdrücklicher verschlüsselt er sich, bis er – in der größten Entblößung – fast mystisch wird. Böhmer nimmt aber so etwas noch jedesmal nüchtern, ja frozzelnd wieder hinweg. Auf den Gestus

Kalt und starr und sehr alleine
liegt Max Morlock unter uns, fünf Fuß.
Bis ans Ende aller Zeiten. Keiner weine.

folgt säkularisierend albern

In der Erde wird Max Morlock jetzt zu Mus.

Man kann auch sagen: wird Pflanze.

–, –, Immer
haben Menschen andere Menschen in ihrer Lunge

Das ist poetisches Programm. Die Gedichte zeugen, gebären einander. Eine Lyrik der Evolutionen, sowohl in ihrer Mikro-, wie Makrostruktur. Wörter paaren sich zu Worten, werfen Sätze, die werden Familienverbände, Sippen, Völkerschaften. Absätze sind Sozialsysteme, seltsam physikalisch gefaßt. Tod als Verwandlung. Und weil Böhmer dem Individuum wie Individuellen in seiner Dichtung allenfalls bescheidene Plätze zuweisen mag, ist hier das Sterben mehr als bei irgendwem sonst eine Durchgangsstation: nicht Läuterungsberg in himmlisches, sondern Mischmaschine für weiteres irdisches Leben. Der Trost in dieser Dichtung besteht nicht darin, daß ein Jenseits sei nach dem Tod, sondern darin, es sei  k e i n e s. Nämlich daß aufs neue gevögelt wird, gegessen, gesoffen, getötet, geliebt: Wenn ich dereinst sterben werde, heißt es im Kaddish-Zyklus, sah ich Vogelschwärme. – Und ist doch um die Herkunft traurig:

Als ich Dein Grab öffnete, Vater, fand ich nur
einen Brei aus Zitaten.

Alban Nikolai Herbst, Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 1, Februar 1998

 

Alban Nikolai Herbst: Ein Tusch für Paulus Böhmer ODER Junge Frauen trinken Gifte. Das Feierjournal von Dienstag auf Mittwoch, nämlich des 21. auf den 22. September 2011 und nämlich nämlich aus Frankfurt.

 

 

Filmgespräch – Gunter Deller im Gespräch mit Lydia Böhmer über den Film INSELN VON DUNKELHEIT, INSELN VON LICHT – DER DICHTER PAULUS BÖHMER

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Steffen Popp: Ein Werk wie ein Wal
Welt, 20.9.2016

Paulus Böhmer mit Monika Rinck und Orsolya Kalász
haus-fuer-poesie.org, 12.10.2016

Fakten und Vermutungen zum Autor + ÖM + KLG + Kalliope +
Peter Huchel Preis 1 & 2
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne SchleyerKeystone-SDA +
Brigitte Friedrich AutorenfotosGalerie Foto Gezett
shi 詩 yan 言 kou 口

Nachrufe auf Paulus Böhmer:

Hessisches Literaturforum im Mousonturm
facebook.com, 7.12.2018

Christoph Schröder: Radikal ausufernd
Journal Frankfurt, 7.12.2018

Beate Tröger: Das Universum in uns
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.12.2018

Michael Braun: Ein Rhapsode der Schöpfung
Badische Zeitung, 10.12.2018

Harry Oberländer: No home
faustkultur.de, 10.12.2018

Alban Nikolai Herbst: Ein Unbeugsamer
Die Dschungel.Anderswelt, 7.12.2018

In Erinnerung an Paulus Böhmer: Gespräch des Monats Mai 2019 im Haus für Poesie

 

 

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