WOLF BIERMANN
Letzte Variation über das alte Thema
Da mitten in Deutschland Steck ein! Steck tot!
Der Brüller Der Mörder Der Schnitter O Gott!
Ins Gas, mein Gott
Kein Mensch ist verlorn Seid milde im Urteil!
Seid milde! Seid milde, Bürger Christen!
Der Adolf Hitler hat seinen Hund geliebt
Der Adolf Eichmann liebte eine Jüdin, der Gute
Wer kappte Deutschlands Rosen die Köpfe nach 45?
Röslein Röslein Röslein rot
Daß du ewig denkst an mich.
Jetzt aber legen die Ruin-Generale
Die Ruinen-Generale
O Deutschland der bleichen Mutter
Einen Gürtel um die blutige Taille
Und ich wills nicht leiden
Und ich wills nicht leiden!
Alles und alles wird fehlen:
Die Suppe im Topf
Das Salz in den Tränen
Die Tränen im Auge
Das Auge im Kopf
Der Kopf am Rumpf
Und fehlen wird der Tod, ja
Selbst der Tod krepiert,
Da wird nichts zum Sterben mehr da sein
Des Todes Hoffnung ist dem Volk entrückt
Erbarmt euch des Todes
Menschen erbarmt euch
Rettet die Chance euch zu sterben
Zumindest1
Biermann wählt für seinen Text einen Titel, der dem Leser Fragen aufgibt: Was ist das alte Thema, das hier so selbstverständlich als bekannt vorausgesetzt wird? Ist es nicht ein Thema unter vielen möglichen, das dargestellt werden soll? Und weshalb wird hier eine Variation, d.h. die Abwandlung eines schon mehrfach abgehandelten Themas angekündigt? Schließlich: warum kann der Verfasser gar behaupten, es handle sich um die „letzte Variation über das alte Thema“?
Vorläufige Antworten lassen sich nur im Vorgriff auf den ganzen Text geben: Das Thema ist das alte, unbewältigte Thema:2 Faschismus in Deutschland, seine Verbrechen, der Massenmord an Millionen von Menschen (Strophe 1), seine historischen Folgen, die Teilung Deutschlands, die Wiederaufrüstung und der Kalte Krieg (Strophe 2), endlich das, was aus dieser neuen Gegenwart resultieren könnte: die totale Vernichtung (Strophe 3). Eine solche Zukunfts- und Endperspektive liefert zugleich die Begründung, warum es möglicherweise nur noch die letzte Variation des alten Themas gibt.
Eröffnet wird der Text mit einer demonstrativen Geste: „Da mitten in Deutschland“ (Z. 2). Das ist mehr als eine Lokalbestimmung, denn die unvermittelt sich anschließenden Imperative, die wie Ausrufe wirkenden „Norminative pendentes“ („Der Brüller Der Mörder Der Schnitter“), die Ausrufe („O Gott!“ „mein Gott“), die Verknappung des „Steck ein! Steck tot!“ (es komprimiert den Vorgang „steck die Menschen so lange hinein, bis sie tot sind“ in den Neologismus „Steck tot!“), schließlich die Lokalisierung und Aufforderung „Ins Gas“ markieren einen Bedeutungsraum von Rechtlosigkeit und Brutalität, der den Anfang („Da mitten in Deutschland“) als Reaktion ungläubigen Entsetzens kenntlich macht.
Trotz der örtlichen Fixierung wird es dem Leser in diesen ersten Zeilen aber schwer, sich zu orientieren und die Worte richtig zu beziehen. Wem gelten die abrupt einsetzenden Imperative „Steck ein! Steck tot!“, wer spricht und wer wird angesprochen, genauer: wer kommandiert und wer wird kommandiert? Was im Bedeutungszusammenhang mit „Ins Gas“ sich als nationalsozialistische Vergangenheit identifizieren läßt, wird im Mordbefehl „Steck tot!“ erneut Gegenwart. Denn im Ausruf aktualisiert der Text jene Pogromstimmung, die ihren ersten für alle damals sichtbaren Höhepunkt in der sogenannten Reichskristallnacht 1938 hatte, ihr nicht zu begreifendes und von vielen noch immer nicht wahrgenommenes Ende in dem bürokratisch organisierten Massenmord von Auschwitz. „Steck ein! Steck tot!“ gewinnt seine fürchterliche Bedeutung aus der assoziativ angespielten Kombination des „Stich tot!“ und aus dessen Steigerung durch das Bedeutungsfeld der bürokratischen Schreibtischverrichtung am Karteikasten „Steck ein!“. Daß viele dies bis heute nicht wahrhaben wollen, öffnet dem „Steck ein!“ eine zweite Bedeutungsmöglichkeit. Die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen ist zur Kenntnis zu nehmen, darf aus unserem Bewußtsein nicht verdrängt werden. Das „Steck ein!“ wäre also nicht nur Aufforderung der Täter, die Opfer ins Gas zu stecken (steck hinein!), sondern auch Anrede an die ehemaligen Anstifter und Mörder, die Wahrheit einzustecken, die damaligen Verbrechen als Schuld zu begreifen.
Die Ausrufe der dritten Zeile meinen wohl Hitler. „Der Brüller“, das ist der Demagoge, der Rattenfänger Hitler, der sich und seine Partei bis zur Machtergreifung redet, der auf diesem Wege auch den Mord („Der Mörder“) an den eigenen Genossen nicht scheut (Röhmputsch 1934 ), der freilich noch vergleichsweise human ist, weil ihm einzelne Personen zum Opfer fallen. Wo das Verbrecherische sich ins Nicht-mehr-Faßbare steigert, wechselt der Autor aus der konkreten in die übertragene, metaphorische Bedeutung „Der Schnitter“. Aber die Klimax „Der Schnitter Der Tod“ wird umgangen: zuviel Tröstliches enthält das christlich gefärbte Motiv vom Schnitter Tod. So wird dieses im poetischen Vorgang während der sich steigernden Anrede revidiert, weil plötzlich mit „Schnitter“ eine ganz andere Bedeutung des Wortes aktualisiert ist: der Massenmörder. Das „O Gott!“ macht als erschreckte Reaktion das Innewerden solch neuer Bedeutungskonsequenz gegenwärtig und leitet zugleich als Ausruf des Entsetzens die Klage ein über einen Vorgang, für den auch das Verstummen der vierten Zeile keine angemessene Darstellung sein kann, weil er sich jeder möglichen Darstellung entzieht.
Der Sprecher ändert danach Ton und Perspektive. Eine deutliche Zäsur markiert dies. Sie kommt vor allem im Wechsel des sprachlichen Rhythmus zum Ausdruck. Die Empörung, das Entsetzen des Beginns, die Gewalttätigkeit, die erneut zur sprachlichen Gegenwart wurde, waren gekennzeichnet durch das Ab- und Unterbrechen der Rede, ihren schnellen Adressatenwechsel, das Stakkato der Ausrufe und Imperative, die Kürze und Verknappung, die Unvollständigkeit und Inkohärenz der Redeteile, die aufeinander zu beziehen für den Leser bzw. den Hörer schwierig ist. Ab Zeile 5 redet die Stimme des Sprechers beruhigend auf ihn ein, erstmals in vollständigen Sätzen, die es in den beiden letzten Zeilen der Strophe auf fünf Hebungen, statt vorher vier, und damit auf eine gewisse sedative Länge bringen. Dennoch, die Beruhigung ist scheinhaft. Nicht erst die Unregelmäßigkeiten des Metrums in den Zeilen 7 und 8 machen die Fadenscheinigkeit der vorgebrachten Humanitätsfloskeln und die Verunsicherung dessen, der sich ihrer bedient, sinnfällig. Schon der ruhige Fluß des ersten vollständigen Satzes in Sentenzform „Kein Mensch ist verlorn“ (Z. 5) ist trügerisch, weil er in diesem Bedeutungszusammenhang ebenso ironischer Sarkasmus ist wie die beschwichtigenden Wiederholungen „Seid milde!“, die der Sprecher an Bürger und Christen richtet – Vokative und Imperative, die an Menschlichkeit, Nächstenliebe, brüderliche Tradition appellieren, also an das, was gerade vorher mit Füßen getreten wurde. Eine formelhaft vorgeprägte und verfestigte christliche Mitleidshaltung wird dort bemüht, wo menschliche Erklärung und Fassungskraft nicht ausreichen bzw. man die Verantwortung für das Geschehen gerne an die höheren Instanzen abschiebt. Die Flucht ins Phrasenhafte ist zugleich eine Flucht ins Private, ins Unpolitische. Sie charakterisiert jene politische Haltung, die in Deutschland so verbrecherische Politik gewähren und großwerden ließ. Daß für die Massenmörder Hitler und Eichmann Erklärungen und Rechtfertigungen in ihrem privaten Verhalten gesucht werden, ist daher nicht nur folgerichtig, sondern deckt auch die Fragwürdigkeit dieser Einstellung und der aus ihr resultierenden Argumentation auf. Diese führt sich selbst ad absurdum und wird nicht erst im Nachklapp („der Gute“) zur Provokation. Aber auch das kennzeichnet die schizophrene Haltung jener, die hier beschwichtigen: man faßt, obwohl man Belege scheinbarer Menschlichkeit anführt, diejenigen, die dadurch entlastet werden sollen, gleichsam mit spitzen Fingern an. Mit dem umgangssprachlich verwendeten bestimmten Artikel vor den Namen („Der Adolf Hitler“, „Der Adolf Eichmann“) hält man sie sich zumindest sprachlich im Nachhinein vom Leib. Rechtfertigung und Distanzierung geschehen in einem Satz und Atemzug, doch beide sind gleichermaßen Hohn auf die Opfer.
Wie subversiv und subtil Biermann vorgefundene Inhalte und Ausdrucksformen nutzt, wird an der Verwendung der verschiedenen Versatzstücke christlicher Herkunft deutlich. Das Heilsversprechen „Kein Mensch ist verlorn“, der Mitleids- und Gerechtigkeitsgestus „Seid milde im Urteil!“ (Z. 5) müssen in der Konfrontation mit den politischen Geschehnissen Farbe bekennen und erweisen sich angesichts der Millionen, die in Auschwitz und anderswo vergast oder auf andere Weise ermordet wurden, als gedankenlos dahergeredete, höchst unangemessene Formeln.
Freilich, so plakativ denunziatorisch und dabei selbst nicht ohne Überheblichkeit moralisierend verfährt der Autor nur an dieser Stelle. Häufiger setzt er auf die eher verborgene Bedeutung eines Motivs. Das Bild vom Schnitter Tod zum Beispiel begründet eine Sinnebene des Textes, die auf Anhieb in ihrer Differenzierung kaum zu erkennen ist. „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod, / Hat Gewalt vom höchsten Gott;“ lauten die beiden Eingangszeilen jenes katholischen Kirchenliedes mit dem Titel „Erntelied“, das Arnim und Brentano in ihre Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn aufgenommen haben.3 Diese erste Strophe endet:
Heut wetzt er das Messer,
Es schneidt schon viel besser,
Bald wird es dreinschneiden,
Wir müssen’s nur leiden.
Hüte dich, schöns Blümelein!
„Und ich wills nicht leiden“ heißt es in Umkehrung der christlichen Ergebenheitshaltung am Ende der zweiten Strophe des Biermann-Textes (Z. 17), wo ebenfalls ein Volkslied mit blutiger Thematik zitiert wird, nämlich Goethes „Heidenröslein“.4 Ungleich vernichtender als der Goethesche Knabe wütet der Schnitter des Ernteliedes:
Viel hunderttausend ungezählt,
Was nur unter der Sichel fällt,
Ihr Rosen, ihr Lilien,
Euch wird er austilgen
Bezogen auf den neuen Kontext ist der Schnitter der Massenvertilger und Massenmörder, der die Menschen wie Blumen niedermäht, dennoch ein Euphemismus, der zum Himmel schreit. Denn im Gegensatz zur Beschwichtigungsphrase „Kein Mensch ist verlorn“ und zum Ende des Kirchenliedes, wo zugleich mit der christlichen Widerstands- und Überwindungshaltung („Trotz! Tod, komm her, ich Fürcht dich nicht“) die Zuversicht auf das jenseitige Leben im Paradies („Freu dich, du schönes Blümelein!“) verkündet wird, sind für Biermann alle verloren, die den Weg in die Gaskammern antreten mußten. Damit aber nicht genug: das Bild vom Schnitter und Massenmörder schafft auch den Übergang zur nächsten Strophe, die zugleich als Einschnitt den Beginn unserer jüngsten deutschen Geschichte markiert, welche – so legt es die Formulierung der 9. Zeile nahe – noch immer von denen bestimmt wird, die sich aufs Köpfekappen verstehen:
Wer kappte Deutschlands Rosen die Köpfe nach 45?5
Der Neubeginn ist offenbar von vornherein der Anfang des Endes alter Hoffnungen. Biermann formuliert diese Einsichten mit tradierten Formen und Versen, anspielungsreichen Bildern, Zitaten der deutschen Klassiker Goethe und Brecht. Sein Montageverfahren legt es dabei auf Widersprüche an: Heterogenes wird miteinander verbunden, in der Zeile 9 saloppe Wendungen wie „die Köpfe kappen“, „nach 45“ mit der metaphorisch eher aufwendigen Einkleidung der aufblühenden politischen Nachkriegshoffnungen ins Bild der Rosen. Auf eben dieser metaphorischen Ebene verbleibt das Gedicht, wenn es Goethes „Heidenröslein“ zitiert. Aber auch hier sind der angeschlagene naiv-idyllische Ton dieses kunstvollen Volksliedes, seine verniedlichenden Diminutiva nur die kontrastive Folie, vor der sich Gewalttätiges schärfer abhebt. Schon bei Goethe geht es ums Überleben, um wieviel mehr hier! Biermanns Kontraktion, welche die erste Refrainzeile „Röslein, Röslein, Röslein rot“ direkt mit der mittleren Zeile der zweiten Strophe des Goethe-Gedichts beantwortet, in der das Röslein seine Rachedrohung ausspricht („Daß du ewig denkst an mich“), läßt daran keinen Zweifel. Freilich ist damit die Verschärfung der Situation noch nicht hinreichend beschrieben und dargestellt. Die Antwort des Rösleins wird zur verknappten Protestgebärde, denn der Hauptsatz „Ich steche dich“ fehlt bzw. ist vom Leser zu ergänzen.
Die durch die Auslassung bewirkte Forcierung treibt das dargestellte Geschehen erneut in bedrängende Gegenwart: „Jetzt aber legen die Ruin-Generale…“ (Z. 12). Die Androhung, sich zur Wehr zu setzen, bleibt folgen- und wirkungslos. Diejenigen, die Deutschlands Rosen die Köpfe kappten, die blutrünstigen Knaben der deutschen Volkslied-Innerlichkeit, es sind die Gestrigen, die dem Vaterland den Ruin bescherten, es sind die Heutigen, die trotz Zusammenbruch im Trümmerdeutschland das Sagen haben. Das Wortspiel von den „Ruin-Generalen“, die als „Ruinen-Generale“ wiederauferstanden sind, behauptet das rhetorisch-plakativ. Was sie Deutschland antun, ist nur in einer großen pathetischen Metapher beklagbar („O Deutschland der bleichen Mutter“).6 Der Klageruf und das Bild, daß die Ruinen-Generale Deutschland, der bleichen Mutter, einen Gürtel um die blutige Taille legen, setzen auf starke emotionale Suggestion und bewirken diese unter anderem deshalb, weil ein breites semantisches Assoziationsfeld geöffnet wird, ohne daß einzelne Bedeutungen genau benannt werden: die Vorstellung des In-Ketten-Legens wird angespielt, ebenso Christi Passion. Zugleich aber drängt die allegorische Verschlüsselung auf die konkrete Auflösung der bildlichen Darstellung. Gemeint ist offenbar die deutsche Teilung, die „Stacheldrahtbarrieren“ und „Drahtverhaue“, die Deutschland halbieren, sichtbarste Folge der vorangegangenen politischen Katastrophe.7
Deutschlands Teilung ist ein, ja vielleicht das Thema, das Biermann bis heute nicht nur literarisch bewegt hat: „Ich hab / Die Mauer mitgemauert / Die Falle aus Beton und Draht / Ist lang und eine Sünde / Ich hab in sie mit reingebaut / Zorn, Träume und viel Gründe“ endet Kapitel 4 von „Deutschland. Ein Wintermärchen“.8 „Der Stacheldraht wächst langsam ein / Tief in die Haut, in Brust und Bein / ins Hirn, in graue Zelln / Umgürtet mit dem Drahtverband / Ist unser Land ein Inselland umbrandet von bleiernen Welln“ dichtet Biermann in der „Ballade vom preußischen Ikarus“ zehn Jahre später über Preußens Adler an der Weidendammer Brücke in Berlin-Ost.9 Noch spielt der von den eigenen Genossen Kaltgestellte wie der von ihm besungene „große Bruder Franz Villon“ zumindest nächtlich „auf dem Stacheldraht / Aus Jux die große Harfe“ („Die Grenzer schießen Rhythmus zu / Verschieden nach Bedarfe“).10 „Und als ich von Deutschland nach Deutschland / gekommen bin in das Exil“, hat ihn per Politbüro-Beschluß über Nacht die andere deutsche Wirklichkeit, wo „jede rote Rose für Zweifünfzig schreit mit ihrem Rot, nach einer besseren Gesellschaft ohne Markt“, wo er dem „wohlfeilen Mitleid“ ausgesetzt ist, „das allen sicher ist, die im Osten so dekorativ eine Stacheldrahtkrone auf dem Haupte tragen“, wo er die Kehrseite der deutschen Misere erfährt, wenn er spürt, daß „die Kette, mit der ich mich selbst an dieses doppelte Land gebunden“ hatte, „viel zu fest und viel zu kurz“ ist. So bleibt als vorläufige gegenwärtige „Ost-West-Bilanz“ zu konstatieren:
Die deutsche Einheit macht schlimme Fortschritte. Die beiden deutschen Staaten lernen voneinander. In der DDR zersetzen Inter-Shop-Metastasen den zerschundenen Körper der Gesellschaft. Westdeutschland marschiert mit forschem Schritt in den modernen Polizeistaat.11
Dieser knappe Ausgriff ins Werk und die Biographie Biermanns zeigt nicht nur, daß „das alte Thema“, daß die alten Themen akut geblieben sind, er belegt zugleich, wie Biermann diese bei aller Veränderung der politischen Verhältnisse trotz variierender Darstellung bildlich zusammenhält und umkreist: die Sünde der Schändung an der bleichen Mutter Deutschland durch den Mauerbau, ihre Umgürtung mit dem „Drahtverband“, der Protest und das „Trotz alledem“ des Dichters, sich darauf seinen eigenen (auch manchmal juxenden) Reim zu machen, der erzwungene Wechsel der Perspektive, aus der man direkt vor Augen hat, daß die alten Hoffnungen noch mehr in die Defensive geraten sind, der Protest ohnmächtig und symbolisch bleibt gegen den alles dominierenden Markt, schließlich die Leid- und Krankheitssymptome, die dieses geteilte Land noch immer an seinem Körper trägt: der fehlende Mut zu einem qualitativ anderen Sozialismus, der mögliche Rückfall in die schlimme Vergangenheit durch einen latenten Faschismus.
An dessen Machtergreifung erinnert der Text an dieser Stelle (Z. 14) nachdrücklich. Denn Biermann läßt sich hier von Brecht soufflieren.12 „O Deutschland, bleiche Mutter!“ ist die Anfangszeile der 1933 zu Hitlers Machtergreifung verfaßten Elegie „Deutschland“.13 Deutschlands mißratene Söhne haben die bleiche Mutter zum Schandbild gemacht:
Wie haben deine Söhne dich zugerichtet
Daß du unter den Völkern sitzest
Ein Gespött oder eine Furcht!
Biermann kommt es bei dieser Übernahme aber wohl nicht nur auf die antifaschistische Tradition an, die Brechts Text repräsentiert. Brechts „Elegie“ hat durch die politische Entwicklung im Nachkriegsdeutschland neue prophetische Bedeutung erlangt, denn ihr Thema ist der Brudermord. Ihre Anwendung auf die deutsche Teilung liegt also nahe. Aber nicht nur thematisch knüpft Biermann bei Brecht an. Auch bei Brecht verhüllt das poetische Vokabular einer religiösen Vorstellungswelt eher die gemeinten gegenwärtigen politischen Ereignisse.
Wie sitzest du besudelt
Unter den Völkern.
Unter den Befleckten Fällst du auf.
Von deinen Söhnen der ärmste
Liegt erschlagen.
Als sein Hunger groß war
Haben deine anderen Söhne
Die Hand gegen ihn erhoben.
Das ist ruchbar geworden. 14
Die bildliche Transponierung der politischen Realität bringt zwar Verlust an konkreter Wirklichkeit; sie schafft aber auch Erweiterung auf der Ebene der Bedeutungen. Klaus Schuhmann hat auf den etymologischen Werdegang einiger Zentralbegriffe des Gedichtes hingewiesen, auf die Luther-Verdolmetschung der Kains-Tat die Wörter wie „sudeln“ oder „ruchbar werden“ verwendet. Die biblischen Anklänge sind gewollt und rücken die Schändung an der Mutter und am Bruder auf die Ebene großer exemplarischer Freveltaten nach dem Sündenfall der Menschheit. Dadurch erhält das verbrecherische Tun im Jahre 1933 räumlich und zeitlich Dimensionen, die das Fassungsvermögen eines Zeitgedichtes weit übersteigen. Der Lyriker belastet die mordenden „anderen Söhne“ mit dem Fluch einer legendären Vorzeit des Menschengeschlechts.15
Aufs Exemplarische der Geschehnisse scheint auch Biermann mit seinem poetischen Verfahren des Zitierens und der allegorisierenden Überhöhung abzuzielen. Das politische Gedicht soll offenbar nicht in seiner zeitgeschichtlichen Gegenwart aufgehen. Deshalb bezieht sein Verfasser Tradiertes und Vergangenes im poetischen Prozeß semantischer Abwandlung – eben der letzten Variation über das alte Thema – auf Gegenwärtiges, ja, das Vergangene wird in Form des mit Erinnerungen und Emotionen besetzten Zitats zum verstärkten Protest gegen eine schlechte Gegenwart: „Und ich wills nicht leiden“ (Z. 17). Daß hier zum ersten und einzigen Male innerhalb des Textes das Ich des Autors sich zur Geltung bringt, wird durch den Zitatcharakter der Widerstandsgebärde nicht beeinträchtigt, im Gegenteil: die Verdoppelung des Zitats, die „ich“ und „nicht“ durch das Druckbild besonders hervorhebt, will unmißverständlich klären, daß der Verfasser sich damit nicht abfinden wird. Ob der Widerstand allerdings etwas auszurichten vermag, ist durch die Wiederholung, die sich des hervorhebenden Kursivdrucks als Stütze bedienen muß, um die Stärke des Aufbegehrens deutlich zu machen, eher in Frage gestellt. Ja, man könnte wie einige Kritiker Biermanns noch einen Schritt weitergehen und behaupten, die Wiederholung am Strophenende mache aus dem beabsichtigten Protest eine nur rhetorische Geste. Widerstand werde zwar signalisiert, doch sichtbar werde vor allem das leere Pathos des Theatralikers Biermann, dessen „bewährte Gesten des Schmerzes“ selbst zur Anmaßung werden,16 weil er privatistisch moralisierend seine Historiographie schreibe und dabei sich gefährlich jener Haltung eines in verlogener Weise moralisierenden Bürgertums nähere, die er in der ersten Strophe (Z. 5–8) denunziert.
Die dritte Strophe markiert wiederum eine deutliche Zäsur und zugleich die wichtigste Tempuswende des Gedichtes. Der Rückblick der ersten Strophe war ohne zeitliche Festlegung, blieb also, obwohl Vergangenheit, den Sprecher betreffend, erschütternde Gegenwart und damit unbewältigte Vergangenheit. Die Gegenwart der zweiten Strophe („Jetzt legen die Ruin-Generale…“) ist mit der Eingangsfrage im Präteritum („Wer kappte…“) schon durch Vergangenheit entschieden. Die dritte Strophe nun betreibt futurisch die Prophetie der Hoffnungslosigkeit: „Alles und alles wird fehlen“ (Z. 18). Das nicht mehr zu steigernde „alles“, weil es das Ganze ist, wird noch einmal um das Ganze verdoppelt, so aussichtslos stellt sich die Zukunft dar. Mit einem Sprachspiel, das an einen fröhlich leiernden Kindervers erinnert, wird dieser Zukunft die Zukunft entzogen. Trostlosigkeit entsteht aus heiteren Aufzählversen. Wie da die Bestimmung in der nächsten Zeile jeweils zum Subjekt wird („in den Tränen / Die Tränen im Auge / Das Auge im Kopf“), um die Misere zu steigern, wie es vom Materiellen („Suppe im Topf“) aufwärts geht zur Emotion („Tränen im Auge“), zur Wahrnehmung und Erkenntnis („Auge im Kopf“), bis schließlich die äußerste Negation erreicht ist, daß selbst der Tod krepiert, das ist Klimax und Antiklimax zugleich: die Steigerung des möglichen künftigen Elends und die Reduzierung der Zukunftsaussichten auf den absoluten Nullpunkt. Daß „der Kopf am Rumpf“ fehlen wird, verklammert auch diese Strophe mit dem Zentralmotiv des gesamten Textes, Tod und Massenmord, und führt diesen – noch einmal anspielend auf deren andere reale und metaphorische Ausformungen („Der Mörder Der Schnitter“… „Wer kappte Deutschlands Rosen die Köpfe nach 45“) – zu einer letzten Konsequenz: „Und fehlen wird der Tod, ja / Selbst der Tod krepiert“ (Z. 24f.). Die gedankliche Zuspitzung, daß selbst der Tod krepiere, wird am Strophenende (Z. 27) überführt in eine Ton- und Sprechart verklärender Feierlichkeit. Die hohe Stilisierung des vorangestellten Genetivus objectivus („Des Todes Hoffnung“) und das gewählte „entrückt“ kollidieren allerdings mit dem umgangssprachlichen „krepieren“ und der Zeile „Da wird nichts zum Sterben mehr da sein“ (Z. 26). Widersprüchlich und deutungsbedürftig ist dieser Strophenschluß nicht nur, was die sprachlichen Ausdrucksformen, sondern vor allem, was seine Denkfigur betrifft. Biermann hat diese in „Hetzlieder gegen den Krieg und Lobpreisung des Friedens“ variiert. In „Die Legende vom Soldaten im 3. Weltkrieg“ heißt es in der 1. Strophe:
Atomraketenhagel fiel
Vom Himmel blau und klar
Die meisten Bomben kamen zu spät
War nichts mehr zum Sterben da17
Diese Zeilen konkretisieren, was in unserem Text noch als allgemeine Apokalypse erscheint. Gemeint ist hier die atomare Vernichtung, die in der Tat die letzte Variation über das alte Thema wäre.
Im dort unmittelbar folgenden Text „Kleines Lied vom Tod auch des Todes“ muß selbst der Schnitter Tod zugrunde gehen, die Massenvernichtung hat ihm den Garaus gemacht.
Und bleibt nichts mehr zum Sterben
Und steht kein Korn zum Mähn
Verliert der Tod sein Arbeit
Muß selbst zugrunde gehn
Das ist der schwarze Tod
Das ist der weiße Tod
Das ist der rote Tod
meine liebe Liebe18
Die Dialektik von Leben und Tod ist nicht mehr aufgehoben in der Reife und Erfüllung der Ernte. An die Stelle des alten tröstlichen Todes sind die abstrakten Tode getreten, die in Millionenziffern gezählt werden. Dieser Zusammenhang hilft, das Ende unseres Textes zu begreifen. In dem durch Kursivdruck stark herausgehobenen appellativen Schlußteil (Z. 28ff.) tritt der Autor nochmals deutlich hervor, indem er sein Publikum imperativ beschwört:
Erbarmt euch des Todes
Menschen erbarmt euch
Rettet die Chance euch zu sterben
Zumindest
Der Aufruf an die Menschen, sich zumindest die Chance des Sterbens zu retten, fordert Widerspruch heraus als Abschluß des Textes, in dem es ums Leben und Überleben geht. Dieser Appell ist nicht allein mit der provokativen List des Verfassers erklärt, der den Leser bzw. Hörer damit zum Nachdenken bringen will. Erst im Kontext der oben zitierten anderen Textstellen und der Entwicklung innerhalb unseres Gedichtes ergeben sich Bedeutung und Sinn dieses Schlusses: die mögliche Zukunft wird begriffen als konsequente Steigerung und Vergangenheit, als ihre futurische Projektion.19
Aber wie wir leben in all dem Sterben
[…]
Tag für Tag entreißen wir Schwachen
Dem Großen Tod einen langen Tag
Ein kurzes Jahr, ein kleines Jahrhundert
In all der Vergänglichkeit loben wir lauthals
Die (die vielen vergangen ist) die Zukunft
(in: Nachlaß 1 [ wie Anm. 1], S. 303f.), ferner aus „Nachricht“:
[…] die Erde ist also noch immer bevölkert
Den Radiomeldungen über die neuesten Fortschritte
der kleineren Kriege kann ich beruhigt entnehmen:
Noch dauert an die Existenz der Gattung Mensch
(ebd. S. 308) und aus „Die Lebenden und die Toten“ (ebd. S. 437):
Was vorbei ist, ist nicht vorbei
Was wir hinter uns haben, steht uns bevor Es ist die paradoxe Übersteigerung aus dem, was war (Strophe 1), und dem, was ist (Strophe 2). In der letzten Variation wird die Sorge um den Tod zur Sorge um die Möglichkeit des Lebens überhaupt. Im Zeitalter der Massenvernichtung wird die Minimalforderung, sich die Chance zu sterben zu retten „zumindest“, zur humanen Utopie, wird der individuelle Tod zum Inbegriff des Lebens, ist Ausdruck einer menschenwürdigeren Existenz.
Dieses Fazit mag manchem als Finalaussage eines politischen Gedichtes zu allgemein und wenig konkret erscheinen. Die Frage nach dem, was ein Text bewirkt bzw. bewirken kann, wird ja immer dort besonders heftig diskutiert, wo man den politischen Anspruch seines Verfassers gegen die Wirkung seines eigenen Produkts ausspielen zu können glaubt. Wie unterschiedlich diese Einschätzung 1m Falle Biermanns ist, können die folgenden Zitate belegen, die am 11.6.1980 in der Frankfurter Rundschau unter der Rubrik „Aufgespießt“ abgedruckt waren.
Wir wolln es nicht verschweigen
In dieser Schweigezeit:
Das Grün bricht aus den Zweigen,
Wir woll’n es allen zeigen,
Dann wissen sie Bescheid.
Lied des aus der DDR ausgewiesenen Liedermachers Wolf Biermann das der Eutiner Pfarrer Lutz Tamchina gerade wegen des Fehlens „aggressiver politischer Aussagen“ im Konfirmandenunterricht zur Diskussion stellte.“
„Biermann der sonst keine Gelegenheit ausläßt, seine politische Überzeugung mitzuteilen, wird dadurch nur noch gefährlicher.“ Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident und Pastorensohn Gerhard Stoltenberg in einem Protestschreiben an die evangelische Landeskirche.20
Fehlende „aggressive politische Aussage“ als Defizit oder als besondere Gefahr – die divergierenden Ansichten über den Effekt Biermannscher Texte führen zu Fragen, die wir am Ende dieser Interpretation stellen, aber nicht abschließend beantworten wollen. In der Tat kann, ja, muß man sich fragen, warum Biermann die politischen Sachverhalte und seine Reaktion auf diese nicht direkter benennt. Massenmord in Auschwitz, westdeutscher Antikommunismus, KPD-Verbot, Wiederaufrüstung in West und Ost, deutsche Teilung, Mauerbau sind die in unserem Text angesprochenen politischen Realitäten. Wie wir gesehen haben, begegnen sie uns verschlüsselt, eingekleidet in Bilder, die der Deutung bedürfen, verkürzt in Redeweisen, die indirekt auf sie Bezug nehmen, beantwortet mit Hilfe von Zitaten und ihren umfunktionierten Bedeutungen, welche die Position des Verfassers eher mittelbar als direkt kenntlich machen. Der tradierte Kanon poetischer Verfahrensweisen von der Klassik bis zur Moderne, Ausdruckskomprimierung und -nuancierung durch Syntax und Rhythmus, Sinn-Verdunkelung und Bedeutungsdifferenzierung, stehen sie nicht der rationalen Aufarbeitung des alten Themas im Wege? Aber geht es dem Verfasser dieses Textes überhaupt um Aufklärung und um Protest? Ist es nicht vielmehr so, daß der Text in seinem Fortschreiten immer mehr die konkrete politische Wirklichkeit als Bezugspunkt verliert, politisch folgenlos bleiben muß, weil er sich zunehmend mehr artistisch in sich selbst vergafft? Und macht diese Dominanz des Poetischen den Leser nicht unsicher, von welcher Realität hier eigentlich die Rede ist, drängt Biermanns poetisches Verfahren ihn nicht ins nur literarische Wohlgefallen an so kunstvoll gehandhabtem Sprach- und Zitatenspiel, das vorgeblich eine tödliche politische Wirklichkeit dingfest machen will? Freilich, man könnte auch anders fragen: Sind nicht eben dies die Indizien dafür, daß der Leser gefordert, seine Aktivität beansprucht wird beim Rezipieren eines Textes, der sich schneller Konsumierbarkeit verweigert, welcher der Deutungsanstrengung und -lust seines Interpreten bedarf? Ist das vielleicht eine tiefer führende und nachhaltigere Art politischer Aufklärung, dem Medium des Gedichtes angemessener, wenn in seinem poetischen Prozeß sprachlich fixierte Vergangenheit aufgenommen, verwandelt und reflektiert wird? Aber welche Adressaten visiert der Verfasser dann an? Beschränkt er nicht von vornherein den Kreis der Leser auf jene, die im Besitz jenes ästhetisch-kulturellen Codes sind, den der Text benutzt und voraussetzt?
Gewiß darf man Biermann nicht unterstellen, er treibe leichtfertig mit dem Entsetzen seine nur poetischen Scherze. Dafür ist er von der im Gedicht abgehandelten politischen Realität in seiner eigenen Biographie zu direkt betroffen: der Vater vergast in Auschwitz, er selbst über zehn Jahre in literarischer Schweigehaft in jenem Teil Deutschlands, den er nach wie vor für den gesellschaftlich fortschrittlicheren hält. Fragen wir überpointiert: Hätte dieser Text etwa besser nicht geschrieben werden sollen, weil nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sich angeblich verbietet, auch über Auschwitz nur Texte entstehen können, die der Gefahr ästhetischer Verharmlosung ausgesetzt sind? Biermann verneint dies nicht nur mit „Die letzte Variation über das alte Thema“, obwohl er weiß, wie eitel Worte sind. Er stellt die Gegenfrage:
Worte sind eitel? Aber eitler sind jene Taten!21
Das mit Worten zu benennen, was uns gesellschaftlich und politisch betrifft, ist schwierig geworden.
Was da über uns kam, wie Kinder nennen wir es
Drache: wir reden wieder in alten Bildern
die neuen Worte zerschellen an den neueren Apparaten
und die haltbaren Worte sind längst verbraucht22
Doch solche Einsicht führt bei Biermann weder ins Verstummen noch in jene immer wieder thematisierte ominöse Stille, die die bundesrepublikanische Lyrik der 50er und 60er Jahre zu einem Signet ihrer Dichterideologie erkoren hat.
Worte bezeichnen nur Worte und
von Sinnen ist der Sinn. Das Namenlose
längst ist es beim Namen genannt, aber
Mund hat keine Mündung
Kanonen haben keine Ohren, und
Bleistift verschießt kein Blei:
Wortspiele. Die Worte spielen
wie Kinder noch in der Gaskammer
Die deutliche Sprache der Gewehre
verstehen immer nur die Erschossenen23
Hajo Kurzenberger
Dem sprunghaft gestiegenen Interesse an lyrischer Produktion, wie es sich in den zahlreichen Publikationen der letzten Jahre zeigt, steht häufig die Ratlosigkeit des Lesers gegenüber, wie die lyrischen Produkte zu verstehen sind. Von dieser Ratlosigkeit selbst betroffen und zugleich angereizt, meinten die Verfasser, es sei keine müßige literaturwissenschaftliche Anstrengung, sich im wenig gesicherten Terrain der Gegenwartsliteratur zu versuchen und um das Verständnis von Texten zu bemühen, die weder durch zeitlichen Abstand und Kanonisierung noch durch Auslegungstradition in die Klassikerdistanz gerückt sind. Daß fixe Einordnungen fehlen, schien uns zugleich eine günstige Voraussetzung dafür, anleitende Hilfe denen zu geben, die beim Umgang mit moderner Literatur mangelnde Erfahrung mit keineswegs unproduktivem Spekulieren wettzumachen suchen. Für Schüler und Studenten, die moderne Texte zur Beschäftigung verlocken und die das dialogische Angebot, das eine Interpretation macht, auf- und annehmen möchten, ist dieser Band gedacht.
Dialogisch war auch die Art und Weise, wie die verschiedenen Interpretationen zustande kamen. Der Vorgabe, die der jeweilige Verfasser mit seinem Auslegungsvorschlag zu Beginn machte, folgte der gemeinsame, sich wechselseitig kontrollierende Diskurs, welcher der jeweiligen Interpretation nicht ihren subjektiven Anteil nehmen, aber den allgemein verbindlichen vergrößern wollte. Dies sollte nicht nur im Hinblick auf den anvisierten Leserkreis, auch in Diktion und Darstellung zum Ausdruck kommen: Allgemeinverständlichkeit wurde angestrebt, nicht aus Ressentiment gegenüber den in den letzten Jahren neu entwickelten Ansätzen und Begriffen der Lyrikanalyse, sondern in der Überzeugung, daß diese auch dann deutliche Spuren hinterlassen haben, wenn sie nicht expressis verbis die Darstellung bestimmen und ihre Kenntnis beim Leser vorausgesetzt werden müßte. Gefördert werden sollte damit ein sich fortsetzender Dialog, zu dem auch der Materialteil einlädt. Und zugleich ist damit signalisiert: die vorliegenden Interpretationen wollen nicht als endgültige Fixierungen verstanden sein, die vorgeben, den jeweiligen Text „auszuschöpfen“. Sie sind vielmehr zu begreifen als Zwischenstufen eines Gesprächs über einen Text, als Versuch, fortschreitend genauer zu lesen, das meint, intersubjektiv überprüfbar, sich über einen und in einem Text zu verstehen.
Bei aller Zufälligkeit der Textauswahl (die nicht unbedingt an Qualitätskriterien orientierte Neigung der einzelnen Verfasser zum gewählten Autor braucht dabei keineswegs unterschlagen zu werden) sollten an den Einzelbeispielen auch Tendenzen der deutschen Gegenwartslyrik sichtbar werden, wobei allerdings die jeweils spezifische Realisationsform nicht das Belegmaterial abgeben mußte für vorliegende Etikettierungen wie „konkrete“, „hermetische“, „politische Lyrik“, „Poesie des Alltags“, „der neuen Sensibilität“ usw. Die Einmaligkeit des Textes war uns wichtig, aber auch, daß er möglicherweise als Kristallisationspunkt einer Entwicklung gelten kann. Wenn literarische Vaterfiguren wie Brecht, Enzensberger oder Grass vertreten sind, mag dies darauf hinweisen, daß literarische Produktion sich nie ohne Vorbilder vollzieht und der fruchtbare Einfluß den folgenden Entwicklungen nicht ihre Eigenständigkeit nehmen muß. Freilich, nicht nur quantitativ liegt der Schwerpunkt des Bandes auf der Lyrik der 70er Jahre: sie steht an zur Diskussion, nicht nur weil sie unsere jüngste literarische Vergangenheit ist, sondern weil sie im Gedicht zu begreifen sucht, was unsere Gegenwart ausmacht.
Die Herausgeber
– Vorwort
– WOLF BIERMANN: Letzte Variation über das alte Thema (Hajo Kurzenberger)
– BERTOLT BRECHT: Schwierige Zeiten (Peter Bekes)
– ROLF DIETER BRINKMANN: Die Orangensaftmaschine (Hans-Otto Hügel)
– HANS MAGNUS ENZENSBERGER: Bildzeitung (Peter Bekes)
– ERICH FRIED: Neue Naturdichtung (Wilhelm Große)
– GÜNTER GRASS: Schulpause (Peter Bekes)
– PETER HANDKE: Die neuen Erfahrungen (Hajo Kurzenberger)
– SARAH KIRSCH: Die Nacht streckt ihre Finger aus (Georg Guntermann, Hajo Kurzenberger)
– ERNST MEISTER: Die Erzählung… (Peter Bekes, Wilhelm Große)
– FRANZ MON: panoptikum (Peter Bekes, Wilhelm Große)
– CHRISTA REINIG: Die ballade vom blutigen Bomme (Wilhelm Große)
– PETER RÜHMKORF: Selbstporträt (Peter Bekes)
– RALF THENIOR: Die Fastfrau (Georg Guntermann)
– WOLF WONDRATSCHEK: In den Autos (Hans-Otto Hügel)
– PETER-PAUL ZAHL: innenwelt (Georg Guntermann)
– Bibliographie
von Biermann, Brecht, Brinkmann, Enzensberger, Fried, Grass, Handke, Kirsch, Meister, Mon, Reinig, Rühmkorf, Thenior, Wondratschek und Zahl lassen dem spontanen Leseeindruck sein Recht, ohne auf literaturwissenschaftliche Methodik und Begrifflichkeit zu verzichten. Gedichte genau lesen, um sich von ihnen etwas sagen zu lassen: dann sind ihre Leistungen festzuhalten, zu beschreiben und zu vermitteln. Die vorliegenden Interpretationen entstanden aus Diskussionen mit Kollegen und Studenten und wollen wieder zu Gesprächen zurückführen. Sie sind zu begreifen als Annäherung, geben keine endgültige Fixierung. Jeder Interpretation sind biobibliographische Angaben und ein Materialteil nachgestellt, der teils erläuternd, teils kontrastierend Anregungen für die weitere Arbeit mit den Gedichten gibt.
Wilhelm Fink Verlag, Klappentext, 1982
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