Peter Buhrmann: Zu Paul Celans Gedicht „À la pointe acérée“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „À la pointe acérée“ aus Paul Celan: Die Niemandsrose. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

À la pointe acérée

Es liegen die Erze bloß, die Kristalle,
die Drusen.Ungeschriebenes, zu
Sprache verhärtet, legt
einen Himmel frei.

(Nach oben verworfen, zutage,
überquer, so
liegen auch wir.

Tür du davor einst, Tafel
mit dem getöteten
Kreidestern drauf:
ihn
hat nun ein – lesendes? – Aug.)

Wege dorthin.
Waldstunde an
der blubbernden Radspur entlang.
Auf-
gelesene
kleine, klaffende
Buchecker: schwärzliches
Offen, von
Fingergedanken befragt
nach – –
wonach?

Nach
dem Unwiederholbaren, nach
ihm, nach
allem.
Blubbernde Wege dorthin.

Etwas, das gehen kann, grußlos
wie Herzgewordenes,
kommt.

 

Von „Ungeschriebenes“ zu „Herzgewordenes“

– Zur Dichtung Celans. –

In dem 1963 in der Sammlung Die Niemandsrose erschienenen Gedicht „À la pointe acérée“1 geht es um Begegnungen, um das Unwiederholbare, um Licht, Schatten und nicht zuletzt um den Leser. Im erweiterten Kontext geht es sogar um noch sehr viel mehr: 1960 bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises am 22. Oktober in Darmstadt hielt Celan die in der Forschung vielzitierte Rede „Der Meridian“. Am Ende dieser Rede glaubt der Dichter etwas gefunden zu haben:

ich finde etwas, das mich auch ein wenig darüber hinwegtröstet, in Ihrer Gegenwart diesen unmöglichen Weg, diesen Weg des Unmöglichen gegangen zu sein. Ich finde das Verbindende und wie das Gedicht zur Begegnung Führende. […] ich finde… einen Meridian.2

In diesem Zusammenhang geht es also um eine über den Meridian zustande gekommene Begegnung, die zugleich als Begegnung zwischen Gedicht und Leser verstanden werden kann. Auch diese Begegnung hat bei Celan eine Voraussetzung:

Das ist, glaube ich, wenn nicht die kongenitale, so doch wohl die der Dichtung um einer Begegnung willen aus einer – vielleicht selbstentworfenen – Ferne oder Fremde zugeordnete Dunkelheit.3

„Dunkelheit“ sollte demnach immer integraler Bestandteil des Gedichts sein und wir werden sehen, wie gerade im Gedicht „À la pointe acérée“ diese Dunkelheit „auf der gewetzten Spitze“4 in der Tat „selbstentworfen“ ist.
Über dieses Gedicht hinaus verfasste Celan in den Jahren zwischen 1963 und seinem allzu frühen Tod im Jahr 1970 Gedichte, die immer kürzer wurden. In seinem kleinen Buch Wer bin Ich und wer bist Du? will Hans-Georg Gadamer mit dem 1965 erschienenen Zyklus Atemkristall einen Höhepunkt Celan’scher Verse erkennen, wohingegen die späteren Gedichte sich, wie er sagt, „mehr und mehr der atemlosen Stille des Verstummens“5 nähern. Diese „atemlose Stille“ kommt für Gadamer einem Versinken ins „Unentzifferbare“6 gleich. Als programmatisches Beispiel für diese „stumme“ Dichtung könnte das kleine Gedicht „Wir lagen“7 gelesen werden, welches im Grunde die gleiche Poetik an- und ausspricht wie „À la pointe acérée“. Im etwas später entstandenen Gedicht wird allerdings die Funtion des Geheimnisses negiert und unter dem angekündigten „Lichtzwang“ ist keine Begegnung mehr möglich.

À LA POINTE ACÉRÉE

Es liegen die Erze bloß, die Kristalle,
die Drusen.Ungeschriebenes, zu
Sprache verhärtet, legt
einen Himmel frei.

(Nach oben verworfen, zutage,
überquer, so
liegen auch wir.

Tür du davor einst, Tafel
mit dem getöteten
Kreidestern drauf:
ihn
hat nun ein – lesendes? – Aug.)

Wege dorthin.
Waldstunde an
der blubbernden Radspur entlang.
Auf-
gelesene
kleine, klaffende
Buchecker: schwärzliches
Offen, von
Fingergedanken befragt
nach – –
wonach?

Nach
dem Unwiederholbaren, nach
ihm, nach
allem.
Blubbernde Wege dorthin.

Etwas, das gehen kann, grußlos
wie Herzgewordenes,
kommt.

Gleich zweimal wird in diesem Gedicht der Begriff des „Lesens“ thematisiert; einmal geht es um das Erfassen von (Schrift- und Bild-)Zeichen als Akt des Auges und einmal um das Aufsammeln von (Baum- und Lese-)Früchten als Handlung:

Tür du davor einst, Tafel
mit dem getöteten
Kreidestern drauf:
ihn
hat nun ein – lesendes? – Aug

und

Auf-
gelesene
kleine, klaffende
Buchecker

Celan spielt hier also mit dem Homonym „Lesen“. Ein Kontrast ist ungewöhnlich offenbar: Celan gibt nur selten seine Inhalte so direkt auf. Das vielleicht lesende Auge erkennt den nicht mehr strahlenden, sondern „getöteten“ (Kreide-)Stern optisch. Die Buchecker, nomen est omen, wird dagegen mit den Fingern taktil und gedanklich wahrgenommen. Das „Lesen“ verknüpft und kontrastiert somit die unterschiedlichen Ebenen, Kreidestern und Buchecker. Diese zwei Formen des Lesens und die zwei erlesenen Gegenstände organisieren das Gedicht: Das Lesen wird als intelligibles Ereignis dargestellt und andererseits als Akt verstanden, der den Körper mit einbezieht. Der ganze Körpergeist der Rezipienten ist gefordert.
Celans Erwartungshaltung ist immer hoch: Gedichte kommen auf den Leser zu, die sich an der Grenze des Verständlichen und oftmals weit jenseits befinden. Jedes Gedicht Celans wiiI einmalig sein, ebenso wichtig wie fragil. So flüchtig sind die Sinngehalte, dass wenn sie allgemeinsprachlich zum Ausdruck gebracht werden, sie sich in ebendieser Allgemeinheit sofort und gänzlich auflösen würden. Hielte sich aber das Gedicht umgekehrt vor der Allgemeinheit zurück und bestünde es auf seiner absoluten Privatheit, so würde es genauso unverständlich sein. Zwischen dieser Skylla der Allgemeinheit und der Charybdis des Privaten balancieren die Gedichte und versuchen die Privatheit in und mit der Sprache zu vermitteln, weil kein anderes Medium zur Verfügung steht. Wie vermittelt man das Einmalige oder „Unwiederholbare“, wie es in „À la pointe acérée“ zum Ausdruck kommt, mit dem Medium der ständigen Wiederholung, nämlich der Sprache? Die kurze Antwort lautet: Das Gedicht verlässt sich auf den Leser. So erwarten die Gedichte, dass der Leser bereit ist, sich auf diese Einmaligkeit einzulassen. Ergebnis sollte im besten Fall sein, dass nicht nur das Gedicht selbst, sondern jeder Leseakt genauso einmalig ist wie das Gelesene selbst. Damit ist der Leser in seiner Individualität angesprochen, der Leser muss, wie von Celan hervorgehoben, als „ein Ich“8 lesen. Diese Individualität, diese unwiederholbare, einmalige Individualität, wird in „Der Meridian“ mit Vehemenz hervorgehoben und mehrfach zum Ausdruck gebracht.

Es liegen die Erze bloß, die Kristalle,
die Drusen.
Ungeschriebenes, zu
Sprache verhärtet, legt
einen Himmel frei.

Die ersten beiden Verse des Gedichts lassen die ansonsten verborgenen oder eingelagerten Erze, Kristalle und Drusen „bloß“ liegen, und diese Offenheit, das innere wird zur Schau bzw. bloßgestellt, fällt mit der Gedichteröffnung zusammen. Raum-zeitliche Koordinaten der vertrauten Art sind abwesend und es bleibt offen, wo sich der Leser zu welchem Zeitpunkt befindet.

Nach oben verworfen, zutage,
überquer, so
liegen auch wir.

Ein Dreieck in den Strophen 1 und 2 aus den Verben „liegen“ (Vers 1), „legen“ (Vers 4) und „liegen“ (Vers 8) verlagert den aktiven Druck des Gedichts auf das Ungeschriebene, welches einen Himmel freilegt. Passiv dagegen liegen die Erze, Kristalle, Drusen und das Wir in Vers 8. Das nach oben verworfene und mit Kristallen verglichene „Wir“ ist tot und leblos. Es zeichnet sich in diesem Kontext das Bild eines Massengrabs ab, in dem die Leichen von Erde unbedeckt in Kristallstrukturen zufällig kreuz und quer liegen. Über dem Massengrab tut sich ein Himmel auf der aber betont unbeschrieben ist. Am Himmel, an dem sich das Göttliche vielleicht hätte mitteilen können, herrscht hier also nur Leere und Schweigen. Mit dem Hinweis „zu / Sprache verhärtet“ wird die Sprache des leergefegten Himmels darüber hinaus mit den leblosen Kristallen unten verglichen. Es wird das Bild einer anorganischen Welt gezeichnet, in der die letzte Metamorphose offenbar längst stattgefunden hat.

Tür du davor einst, Tafel
mit dem getöteten
Kreidestern drauf:
ihn
hat nun ein – lesendes? – Aug.

Zu vermuten ist, dass der Kreidestern die Tür, die einmal da war, in eine Tafel verwandelt. Zum Funktionsfeld einer Tafel gehört eben nicht, dass sie wie eine Tür geöffnet werden und Durchgang erlauben kann. Die Tafel verbindet eben nicht ein Du und ein Ich. Die Nazis haben Türen als Anklage- und Verfolgungstafeln genutzt, indem sie sie mit einem Judenstern versehen und dadurch den Sinn des Sterns radikal verändert haben: Der Jude hinter der Tür wurde gebrandmarkt und musste sterben. Und wofür steht das Fragezeichen? Das Gedicht hofft, dass der Leser weiß oder versteht, was das Unheil verkündende Zeichen bedeutet. Gewissheit gibt es nicht, sondern nur die Hoffnung, dass der Leser den Ernst der Lage erkennt. Mit anderen Worten: Das Gedicht befasst sich mit dem Zeichengebrauch: Der Judenstern besteht bekanntlich aus zwei ineinander geschobenen Dreiecken, welche die Verbindung zwischen Himmel und Erde, Jenseits- und Diesseits, oben und unten darstellen sollen. Doch in diesem Kontext wurde offensichtlich ein Zeichenmord vollzogen: „Der getötete Kreidestern“ steht nicht für das Leben, sondern für den Tod, nicht für Erlösung, sondern für die ewig mit dem Wort „Endlösung“ verbundenen Verbrechen.
Die Kreide gehört zum Reich der Mineralien und leitmotivisch baut das Gedicht damit eine Brücke zwischen der ersten und der dritten Strophe. Kreide und Tafel gehören seit jeher zu den Utensilien des Lernerlebnisses von Schulkindern. Hier aber wird diese Assoziation nicht nur missachtet, sie wird geradezu pervertiert. Das Fragezeichen ist vor diesem Hintergrund vielleicht auch ein Sarkasmus, der sich gegen denjenigen wendet, der die Kunst des Lesens eben nicht beherrscht – vermutlich wird nicht zuletzt derjenige aufs Korn genommen, der den Kreidestern als Ausgrenzungssymbol an der Tür verewigte. In und mit der kurzen Zeitangabe „nun“ will das Gedicht zur Aufmerksamkeit zwingen. Als ob es sagen würde: Jetzt wird die Tür eingetreten, jetzt ist der Moment des gewaltsamen Verbrechens gekommen. Aber Celans Gedichte scheuen den Krawall, sie setzen auf Reduktion und Reflexion.

Wege dorthin.
Waldstunde an
der blubbernden Radspur entlang.
Auf-
gelesene
kleine, klaffende
Buchecker: schwärzliches
Offen, von
Fingergedanken befragt
nach – –
wonach?

Die vierte Strophe setzt mit dem kurzen Vers „Wege dorthin“ ein. Dabei ist unklar, wohin diese Wege führen, ob zu den Erzen, Drusen, Kristallen der ersten Strophen oder in die lebendige Landschaft, die in den vier letzten Strophen beschrieben wird. Jedenfalls begibt sich das Gedicht in ein völlig anderes semantisches Feld; organisches Material tritt auf den Plan. An der „blubbernden Radspur“ entlang verlaufen die Wege, welche weich und modrig sind – nicht hart wie Kristall oder zerklüftetes Felsgestein. Es blubbert, weil Luft freigegeben wird, damit geatmet werden kann und neue Metamorphosen stattfinden können. Die Wege verlaufen durch Buchenwälder (die vermutlich an das KZ Buchenwald gemahnen) und auf der Strecke sammelt der Dichter eine dunkle Buchecker auf.9 Der Modus des Aufsammelns wird als Versbruch hervorgehoben und die schwarzbraune, auf dem Waldboden liegende Frucht ist nicht heil, sondern sie ist aufgeplatzt, sie ist offen, vielleicht sprießt sie schon. Und dieses Lebenszeichen erlaubt sich das Gedicht mit der Alliteration „kleine, klaffende“ zu zelebrieren, erinnert dadurch aber zugleich an eine „klaffende Wunde“ (etwa an die Herzwunde Jesu?). Bucheckern sind dreikantige, dunkle Früchte, die den Dichter darüber hinaus an den aus zwei Dreiecken zusammengesetzten (nicht mehr gelben, sondern „getöteten“) Judenstern erinnert haben könnten. Sie knüpfen jedenfalls semantisch an das Feld des Lesens an und evozieren Gedanken an Bücher und Buchstaben. In der Buchecker verbirgt sich demnach der Grundstoff des Lesens, der Schrift und der Dichtung. Vermutlich erinnert die Buchecker auch an das Buchenland, die Bukowina, wo Celan herkam. Fest steht, diese Frucht wird hier „von / Fingergedanken befragt“. Wonach gefragt wird, fragt sich das Gedicht nach einem Zögern auch selbst. Das Zögern mag daher rühren, dass die Antwort so gewaltig ist:

Nach
dem Unwiederholbaren, nach
ihm, nach
allem.

Das Gedicht fragt zum einen nach dem Unwiederholbaren, es muss sich also eine Begebenheit ereignet haben, die universale Einmaligkeit für sich reklamieren kann. Dieses Unwiederholbare bestimmt auch die Zeitrechnung des Gedichts: „nach ihm, nach allem“. Neben der zeitlichen Ebene steht die räumliche. Die Buchecker schlüpft so in die Rolle einer Karte oder eines Wegweisers, wobei durch die fünffache Wiederholung des Wörtchens „nach“ auch der Fragemodus selbst sprachlich betont wird. Wonach suchen wir? Das Gedicht stellt somit auf verschiedenen Wegen eine große Frage, die so universal ist wie das Unwiederholbare selbst. Das Gedicht fragt nach, es fragt „nach / allem“.
Ob das Unwiederholbare Celans Bezeichnung für das furchtbare Verbrechen ist, das wir, die Nachwelt, mit Auschwitz verbinden, bleibt letztendlich offen. Der Kontext des Gedichts und andere Gedichte des Autors aber machen diese Deutung plausibel, ohne dem Text damit sein Geheimnis zu nehmen. Wer sich angeschickt hat, einen Leserbegriff zu eruieren, kann im Begriff des Unwiederholbaren vielleicht eher einen Kreuzweg sehen: Hier begegnen sich die Einmaligkeit des Gedichts und die Wiederholungen der Sprache. Der Leser ist dem Gedicht durch anorganische Härtezonen sowie fruchtbare Waldstunden gefolgt; es waren die Wege dorthin. In der Meridian-Rede beschreibt Celan diesen Weg und sein Ziel wie folgt:

geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.10

Der aufmerksame Leser geht mit dem Gedicht, er muss sich am Ende aber wieder vom Gedicht und von der eigens dort entwickelten Sprache befreien. Das Unwiederholbare ist somit weniger das Gedicht als der Leser selbst. Es geht bei Celan demnach immer um die Individuation: Er will dazu anregen, dass der Leser sich dem Unwiederholbaren stellt. So bekämpft auch dieses Gedicht nicht nur das Vergessen – der Leser soll die Erinnerung an Auschwitz bewahren –, sondern es sucht die Klischees, die Informationen, „die tausend Finsternisse totbringender Rede“11 über den Zivilisationsbruch sondergleichen zu durchbrechen. Deshalb ist die Sprache Celans oft dunkel, un-leicht, neologisch und einmalig. „Blubbernde Wege“ führen „dorthin“, an einen unbenannten, aber bestimmten Zielort.

Etwas, das gehen kann, grußlos
wie Herzgewordenes,
kommt.

In der letzten Strophe eröffnet das Gedicht einen neuen Horizont, etwas kommt, wieder kein Erlöser, vielmehr etwas „Herzgewordenes“, ein fünfsilbiges, substantiviertes Adjektiv genau wie „Ungeschriebenes“ am Gedichteingang. Mit dem Gedichtende sind die eingangs erwähnten „Erze“ zu „Herz“ geworden. Der Weg dorthin führte über den „Kreidestern“, die „Buchecker“ und die Leerzeile zwischen der dritten und vierten Strophe. Der Stern, der Judenstern, bezeichnete eine ganze Religionsgemeinschaft. In Auschwitz aber wurde auch dieses Zeichen stellvertretend ermordet. Welche Zeichen können nach dieser universalen Menschheitskatastrophe noch bestehen? Vielleicht das Bild der Buchecker, ein neues, noch unbesetztes Zeichen, das, „von Gedankenfingern befragt“, eine haptische Qualität ins Zentrum des Gedichts stellt? Nachzulesen ist, dass auch der verletzte, aber noch nicht ganz zerstörte Körper in den Lektüreprozess einbezogen wird. Und vermutlich ist es im besten Fall ein im Leser stattfindendes, ein emotionales Ereignis, wenn etwas gefühlt zum „Herz“ wird. Vom Auge über die Finger zum Herzen. Vielleicht sind die unmöglichen „Wege dorthin“ eben der hier vorgeschlagene Weg. Das „Herzgewordene“ wäre demnach „grußlos“, weil es ein verinnerlichtes, ein sich im Innern des Menschen abspielendes Gefühlsereignis ist.
Die Leerzeile in der Mitte des Gedichts ist wie eine Falte, eine Grenze, welche die Wende vom einen zum anderen markiert. Sie ist Sprache und Sprachlosigkeit zugleich, eine vielsagende Leerstelle. Es gibt also zwischen der dritten und vierten Strophe, zwischen der anorganischen Härte und der atmend-organischen Waldwirklichkeit, keine plausible Erklärung für den Übergang. Er bleibt das von Celan angesprochene Geheimnis. Es gibt dort eben kein rein rationales Verstehen, keine eindeutige Sprache, sondern ausschließlich das Herzwerden und das ist Sache jedes einzelnen Lesers.

Wir lagen
schon tief in der Macchia, als du
endlich herankrochst.
Doch konnten wir nicht
hinüberdunkeln zu dir:
es herrschte
Lichtzwang.

Das letzte Wort des für das Spätwerk Celans typischen Gedichts „Wir lagen“ lautet „Lichtzwang“, ein offenbar ebenso wegweisender wie zentraler Begriff, der zugleich als Titel für den 1970 veröffentlichten Gedichtband ausgewählt wurde. Somit könnte man auch hier von einem programmatischen poetologischen Text sprechen. Und in der Tat wirkt das sehr einfach strukturierte Gedicht fast wie ein Postulat oder gar ein Epitaph.
Das „Wir“, das dem Leser in diesem Poem begegnet, „liegt“ wie im Gedicht „À la pointe acérée“, aber nicht „nach oben“ verworfen zutage, sondern tief verborgen in der Macchia und evoziert dadurch möglicherweise neben Assoziationen im Spannungsfeld von Eros und Thanatos auch ganz reale italienisch-südeuropäische Buschwaldgebiete, einen unübersichtlichen und nur schwer zugänglichen Landschaftsfleck, der insbesondere den Widerstandsbewegungen in mehreren Kriegen als Versteck diente. Der Ausgangspunkt dieses Gedichts repräsentiert demnach das Gegenteil zur Konstellation des Gedichts „À la pointe acérée“. „Wir“ lagen schon in der Macchia, als das „du“ endlich kommt. Als hätte das Gedicht schon lange darauf gewartet, als wäre das „Geheimnis der Begegnung“ schon längst vorbereitet. Das offenbar abgesprochene, zumindest ersehnte Treffen, der dunkle, Schutz bietende Wald und die (aus Angst davor, entdeckt und getötet zu werden) über den Boden kriechenden Widerstandskämpfer. Vorstellbar ist aber auch, dass es hier erneut zugleich um den Modus des Lesens gehen könnte, er würde dann als das langsame Heranpirschen an ein Ziel beschrieben bzw. verstanden.
„Doch“ – der Einspruch gegen die viel versprechende Möglichkeit (des glücklichen Aufeinandertreffen& der neuen Erkenntnis) wird im zweiten Teil des Gedichts sprachlich deutlich als Absetzbewegung markiert. Die mit positiven Gefühlen verbundene Begegnung wird dementsprechend unterbrochen und es kommt zu keinem „Hinüberdunkeln“. Eine Kraft, offenbar stärker als die geschätzte Dunkelheit, nämlich die des gleißenden Lichts, setzt sich durch. Die Macchia bietet nicht länger den erhofften Schutz, und „wir“ und „du“ finden nicht zueinander.
Das kleine Gedicht ist konsequenterweise im Präteritum gehalten. Denn Hoffnung auf das „Herzgewordene“, der im erhabenen Präsens Ausdruck verliehen werden könnte,12 stellt sich in diesem Kontext nicht ein. Es ist, als ob das Gedicht an Spannung verloren hat, als hätte das lyrische „wir“ im Voraus schon die Flinte ins Korn geworfen. Das Gedicht „À la pointe acérée“ hat vermocht, die Herausforderung der Sprache anzunehmen und konnte über den Weg des geheimnisvollen Unwiederholbaren das Herzgewordene zum Ausdruck bringen. Aber gegen Lebensende scheint Celan vor dem allgegenwärtigen „Lichtzwang“ zu kapitulieren, es fehlt seinen letzten Texten oft das anregende Geheimnis oder sie erscheinen „zu / Sprache verhärtet“. Womöglich ist es diese traurige Konsequenz, die Hans-Georg Gadamer mit dem Attribut „unentzifferbar“ umschreibt. Unüberlesbar ist jedenfalls am Ende von Celans Schaffen eine Skepsis der eigenen Praxis gegenüber, mehr noch, der Skeptizismus schlägt womöglich in „negative Gewissheit“13 über die „Sinnlosigkeit der Dichtung“14 um. Es ist, als ob Celan selbst nicht mehr daran geglaubt hat, dass das Unwiederholbare in der Tat auch künftig unwiederholbar bleibt. Der Leser von heute muss diese „negative Gewissheit“ selbstverständlich nicht teilen. Es lohnt sich mehr denn je, sich intensiv auf Gedichte, denen die Mahnung gegen das Vergessen der Vergangenheit eingeschrieben bleibt, einzulassen, d.h. mit offenen Sinnen zu lesen und im Idealfall das „Herzgewordene“ für sich zu entdecken.

Peter Buhrmann, aus Volker Neuhaus, Per Øhrgaard, Jörg-Philipp Thomsa (Hrsg.): Freipass. Paul Celan – Streitkultur – Deutsche Einheit, Ch. Links Verlag, 2020

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