Peter Burri (Hrsg.): Cendrars entdecken

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Burri (Hrsg.): Cendrars entdecken

Burri (Hrsg.)-Cendrars entdecken

ES BEGANN IN EINER BUCHHANDLUNG

– Der Autor und sein Verleger. –

Peter Burri: René Hilsum, zusammen mit dem Haus La Sirène war Ihr Verlag Au Sans-Pareil einer der ersten, der Cendrars publizierte. Wie haben Sie Cendrars kennengelernt?

René Hilsum: Bei Adrienne Monnier, glaube ich, in ihrer Buchhandlung an der Rue de l’Odéon, die in den zwanziger Jahren so etwas wie einen literarischen Salon darstellte. Dort sah man Paul Valéry, Valery Larbaud, Léon-Paul Fargue, aber auch die „Modernen“ wie Max Jacob, Guillaume Apollinaire, André Breton und Louis Aragon. Und Cendrars…

Burri: Hatte Cendrars in jener Zeit schon einen Ruf als Schriftsteller?

Hilsum: Oh ja, er war der Gruppe um Apollinaire und André Salmon sehr verbunden, also der literarischen Avantgarde aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Er kannte die Maler: Amedeo Modigliani, Fernand Léger, Robert und Sonja Delaunay; er war im Montparnasse ein vertrautes Gesicht, in der „Rotonde“. Er war „lanciert“ und arbeitete an den „Soirées de Paris“ mit.

Burri: Welches Buch von ihm haben Sie als erstes herausgebracht?

Hilsum: Die Dix-neuf poèmes élastiques (Neunzehn elastische Gedichte). Ich hatte den Verlag Au Sans-Pareil gegründet und als ersten Band Les mains de Jeanne-Marie von Rimbaud herausgegeben. Dann folgten Werke von Breton und Aragon, vielleicht auch schon Philippe Soupault, aber das war alles. Und ich glaube, es war wohl bei Adrienne Monnier, als Cendrars mir einen kleinen Gedichtband vorschlug, eben seine „elastischen Gedichte“. Das Buch erschien in der Reihe Littérature, die gleich hiess wie die Zeitschrift der Surrealisten.

Burri: Wieviele Bücher von Cendrars haben Sie verlegt?

Hilsum: Bis 1930 mindestens sechs oder sieben. Ich erinnere mich, dass ich dann auf den Rat von Fernand Divoire hin eine Kampagne startete, damit Cendrars der Prix Goncourt zugesprochen würde: für den Roman Le Plan de l’aiguille oder auch für Dan Yack. Aber der Preis ging an Marcel Arland für seinen Roman L’ordre.
Dann haben wir uns getrennt, denn Cendrars hatte mir jede Menge Bücher versprochen, von denen ich allerdings nur die Titel zu Gesicht bekam. Und Cendrars hatte schliesslich bei mir eine grosse Rechnung offen. Die Wirtschaftskrise setzte ein, und ich konnte ihm keine weiteren Vorschüsse mehr geben. Nun aber war er, wie man weiss, sehr locker im Geldausgeben… Ich erinnere mich sogar noch an zwei Phantom-Titel, die er mir vorgeschlagen hatte: „Mamanternelle“ und „Le Pain des Malheureux“. Gleichwohl haben wir uns über zehn Jahre gekannt und waren eng befreundet. Er war der Pate meiner beiden Kinder.

Burri: Hatten seine Bücher Erfolg?

Hilsum: Die Romane Le Plan de l’aiguille und Dan Yack haben es auf gute 30.000 Exemplare gebracht, was für jene Zeit gar nicht übel war. Von den Broschüren mit Kurzprosa und Gedichten gingen zwischen 1.000 und 15.000 Stück weg. Dennoch hatte ich dem Verlag La Sirene die Anthologie negre abgekauft, habe sie, wie man’s macht, neu ausgestattet und davon wohl gegen 4.000 Exemplare abgesetzt. Auch der illustrierte Band Petits contes nègres pour les enfants des blancs hat sich nicht schlecht verkauft, diese „Negergeschichten für die Kinder der Weissen“ wurden sogar in den USA übersetzt.

Burri: Eine Zeitlang waren Sie der Verleger der Surrealisten. Wie waren deren Beziehungen zu Cendrars?

Hilsum: Nicht eben gut. Und wenn ich mich mit Breton überworfen habe, so war es unter anderem auch deswegen. Die andern Surrealisten sind Breton nachgefolgt; er war von autoritärem, man könnte fast sagen totalitärem Temperament. An der Avenue Kleber hatte ich eine Buchhandlung eröffnet, die ebenfalls Au Sans-Pareil hiess. Damit sie überleben konnte, mussten natürlich noch andere Bücher als nur die aus meinem Verlag verkauft werden. Ich legte Bücher verschiedenster Art auf, aber der Akzent des Angebotes lag auf dem, was man damals die moderne Literatur nannte. Darunter gab es bestimmte Autoren, die meinem Freund und alten Kameraden Breton missfielen: zum Beispiel Cendrars, Max Jacob, André Salmon und Jean Cocteau. Breton wollte mir verbieten, Bücher von diesen Autoren zu verkaufen! Eine richtige Exkommunikation! Als ich ihm erklärte, dass ich selber, die Buchhandlung und der Verlag schliesslich durchkommen müssten, schlug er die Tür zu.
Cendrars hingegen war vollkommen unabhängig von literarischen Schulen und scherte sich nicht um die literarische Öffentlichkeit.

Aus Magazine littéraire, Nr. 203, 1984

 

BLAISE CENDRARS

– Die Erinnerung eines Kollegen. –

Im Jahre 1917 erwartete Guillaume Apollinaire jeden Mittwoch gegen fünf Uhr abends seine Freunde im Café Flore, das in der Nähe seiner Wohnung lag. Blaise Cendrars fehlte nie.
Ich erinnere mich der Gesichter von Max Jacob, Raoul Dufy, Carco, André Breton und von einigen Phantomen, deren Namen man besser vergisst.
Das Café de Flore war zu jener Zeit nicht so berühmt wie heutzutage. Es liess sich dort atmen und sprechen, ohne zu schreien. Provinzatmosphäre. Remy de Gourmont las dort die Zeitungen.
Blaise Cendrars, mit zerbeultem Filzhut, Zigarettenstummel im Mund, schien nicht sehr zufrieden. Ich glaube sogar, dass er brummte. Er war – was überraschend erscheinen mag – schweigsam. Offenbar überreizt, schlug er mir vor, „das Lokal zu wechseln“. Ich war einverstanden. Wir kehrten der Kirche Saint-Germain-des-Prés den Rücken, die er ohne Zögern als die hässlichste Pariser Kirche bezeichnete (wie recht hatte er!), um uns Notre-Dame zuzuwenden, dieser Kathedrale, die ihn immer fasziniert hat, was mich wunderte.
Aber ich diskutierte nicht. Übrigens hatte mein neuer Freund von jetzt an zu sprechen begonnen oder vielmehr Geschichten zu erzählen, die mich lehrten, dass das Wahre nicht immer wahrscheinlich ist. Ich hörte Blaise mit offenem Munde zu. 1917 war er guter Laune. Dem kleinen Pariser in der Kavallerieuniform des Artilleristen offenbarte er Paris. Denn Blaise war – das darf man nicht vergessen – verliebt in Paris. Er war schon viel gereist (und er sollte noch mehr reisen), aber Paris war seine Lieblingsstadt. Er liebte alles darin: die Auswüchse und bösartigen Wucherungen, die Juwelen und besonders die Atmosphäre und das Farbenspiel.
Blaise Cendrars war für mich ein Beispiel an Mut. Obwohl Schweizer, hatte er sich der Fremdenlegion verpflichtet und an der Front seinen rechten Arm verloren. Er lernte, mit der linken Hand zu schreiben, ohne je darüber zu sprechen.
Zu jener Zeit wollte er immer im Schatten von Notre-Dame (und nicht im Schatten des Eiffelturms, wie ich mir vorgestellt hatte) seine Abende verbringen und beenden (sehr spät). Es ist glücklicherweise unmöglich, unsere Gesprächsinhalte zu ordnen. Welch ein herrliches Durcheinander: „tohu-bohu“, einer seiner beliebtesten Ausdrücke! Ich glaube, seiner und meiner Erinnerung treu zu sein, wenn ich bunt durcheinander („pêle-mêle“, noch einer seiner Lieblingsausdrücke) die Geschichten heraufbeschwöre, die er erzählte.
Wer war er im Jahre 1917? In Wirklichkeit war ich erstaunt, geblendet von diesem Dichter – einem wahren Dichter –, der unaufhörlich für mich allein redete und mir, wie in den Märchen, Perlen und Feuerwerk versprach. Und dann assen wir in einem unbekannten Café unweit der Rue Saint-Jacques zu Abend, wo er in einer mit Knoblauch eingeriebenen Salatschüssel mit ungewollt poetischen Worten Löwenzahnsalat anmachte und dabei ein Loblied auf die Pariser Küche sang.
Wer war er? Wahnsinnig lustig, wie seltsam dies auch erscheinen mag. Er war arm, einarmig, lernte mit einer Hand schreiben und seine ewige Zigarette anzünden. Ich wusste nicht, wohin gehen und wohin er ging. Zu jener Zeit war das „nirgends“. Es war die „heroische“ Zeit. Alle Gelegenheiten waren gut für ihn. So lehrte er mich – und ich habe es nie vergessen können –, dass man die Poesie leben müsse, bevor man sie schreibt. Schreiben, das ist überflüssig. Ich muss daran denken, dass Blaise Cendrars zu jener Zeit sein Genie auf die glänzendste Weise manifestierte.
Ich weiss, dass ich aus Freundschaft, aus Bewunderung ungerecht sein kann. Ich glaube jedoch, dass mein Freund Blaise zu jenen gehörte, die der sogenannten „modernen“ Poesie ihre ganze Kraft schenkten. Er war unwiderstehlich und im stärksten Sinne des Wortes unglaublich. Er war seiner sicher. Er schrieb damals wenig, kurze Gedichte und kurze Prosa: „J’ai tué“ und „Profond aujourd’hui“. In dieser Phase seiner Existenz schien er sich weniger für die Vergangenheit als für die Zukunft zu interessieren. Er machte mich mit Fernand Léger bekannt, mit dem er sich ausgezeichnet verstand, aber viel weniger gut mit Picasso, dessen Schlauheit und Verschlagenheit ihm peinlich war, mit Braque, der seines Erachtens zu schweigsam und unempfänglich war. Ich erinnere mich deutlich seiner Begeisterung fürs Kino. Charlie Chaplin natürlich! In seiner Begleitung sah ich diesen Film: Charlot soldat, den er zu recht für bewunderungswürdig hielt. Aber er wollte ein total anderes Kino. Bevor er es schrieb, hat er mir das aussergewöhnliche Drehbuch erzählt, das er einige Jahre später veröffentlichte.
Eines Tages führte er mich zu meinem Erstaunen in ein Zimmer – wenn ich es so nennen darf – der Rue de Savoie, wo er seine sogenannten Papiere angehäuft hatte. Alte Zeitungen, Notizblöcke mit Bemerkungen vollgeschrieben, Zeichnungen von Chagall, von denen er mir einige schenkte, die mir erlaubten, eine Gedichtsammlung mit dem Titel Rose des Vents zu illustrieren, alte Lumpen, Zeichnungen von Modigliani, Bilder, alte Standuhren, Gummireifen. Ein Gerümpel, in das er nie ein wenig Ordnung zu bringen gedachte. Von Zeit zu Zeit griff er nach einem Gegenstand oder einem Buch, und das war der Anfang einer Geschichte, die ich natürlich nicht zu unterbrechen suchte.
Eines Tages zeigte er mir einen Eisenbahnfahrplan der Vereinigten Staaten. Ich weiss nicht, warum diese Broschüre ihm eingab, mir die Geschichte seiner Onkel zu erzählen, das Gedicht von „Panama ou l’Aventure de mes sept oncles“, das seinen Geist beschäftigte. Als er dieses erstaunliche Gedicht veröffentlichte (es erscheint mir am meisten „Cendrars“ von allen seinen Gedichten), wollte er, dass Format und Ausstattung des Buches einem Eisenbahnfahrplan der Vereinigten Staaten glichen. Nebenbei bemerkt: Er interessierte sich sehr für Typographie und alles, was die Drucklegung betraf.
Er wohnte nur selten in seinem „Zimmer“ der Rue de Savoie und lebte lieber in Hotels, was ihm den Eindruck gab, in dieser Welt zu reisen, die für ihn Paris war.
Es gab Anlaufhäfen, unter denen er zweifellos den von Montparnasse vorzog. Im Café de la Rotonde, das sich seit 1917 sehr verändert hat, traf er jene, die er seine Kumpane nannte, eines seiner Lieblingsworte. Er verstand es, der herzlichste der Menschen zu sein, und sobald er erschien, wurde er mit Zurufen begrüsst, denn seine Popularität auf dem Montparnasse war enorm. Die Maler liebten ihn und brachten ihm grosses Vertrauen entgegen. Pascin, Soutine und besonders Modigliani fragten ihn um Rat, und er bemühte sich, ihnen Mut zuzusprechen, denn – man weiss es zwar, aber vergisst es – das materielle Leben dieser Maler war hart und mühevoll. Manchmal das nackte Elend. Oft zeigten sich sogar Leute, die sich für schlau hielten, verächtlich oder gleichgültig, besonders die Kritiker. Indem ich ihm zuhörte, wenn er mit diesen Malern sprach, lernte ich Cendrars’ hervorragendste Gabe kennen: Begeisterung.
Es war auch hellsichtig. Diese Hellsicht war zu jener Zeit besonders kostbar, als die äusserste Verwirrung herrschte, als das „höhere Gebot“ begann, seine Tyrannei auf alle Schriftsteller, Künstler und andere Erleuchtete auszuüben. Man wusste nicht mehr, woran man war. Es war „der Anfang des Kriegsendes“ 1914–1918.
Blaise Cendrars, mit weit offenen Augen, bemühte sich, die Umwälzungen, die kommen würden, zu verstehen. Schon erklärte er uns die gigantischen Folgen der Sowjetischen Revolution, indem er die Erinnerungen an seine Reise und seinen Aufenthalt in Russland schilderte.
Diese Lebensphase von Blaise Cendrars war sehr schöpferisch: Aber sie war kurz. Er wollte sie nicht, wie es scheint, verlängern. Ich empfand ihn unruhig, manchmal überreizt. Er hatte Lust, zu reisen und – eins hindert nicht das andere – sich zu isolieren.
Cendrars war kein Unbekannter mehr. Er wurde sogar berühmt. Der Erfolg, auf den er so lange gewartet hatte, veränderte ihn. Cendrars war nicht mehr der heitere und herzliche Kumpan, sondern entschied sich für die Angebote der Verleger. Er entfernte sich von seinen Freunden, die auch ihrerseits berühmt, aber zugleich Rivalen geworden waren.
Allmählich verbitterte Cendrars. Er schwärzte seine früheren Freunde an und besonders die Dichter, die jünger waren als er. Er wusste nicht zu altern. In einem Radiogespräch beschimpfte er – milde ausgedrückt – alle, die er gekannt hatte. Man kann sich nur mit Trauer dieser Flut von Verleumdungen und Bosheiten erinnern, die völlig aus der Luft gegriffen waren. Keiner seiner früheren Freunde wurde verschont. Ein Massaker…
Trotz der vorbildlichen Aufopferung seiner Frau Raymone und der treuen Freundschaft von Paul Gilson und Nino Frank wurde er immer aggressiver. Seine blinde und mitleidlose Grausamkeit lässt sich nur durch seine seelischen und besonders physischen Leiden erklären. Alle, die ihn früher gekannt hatten, bedauerten das Sterben seiner Freundschaften. Alle, die seine Freunde gewesen waren, haben diese traurige und jämmerliche „Metamorphose“ beklagt.

Philippe Soupault, 1963, aus Philippe Soupault: Begegnungen, Das Wunderhorn, 1986

 

 

 

Inhalt

– Peter Burri: Auf den Spuren von Blaise Cendrars. Wegmarken zu diesem Buch

– François Bondy: Die Hefe einer Generation. B. C. wird in der deutschen Schweiz wiederentdeckt

– Jürg Federspiel: Der grosse Dichter und sein Freund. B.C. hat in der deutschen Schweiz einen literarischen Anwalt

– Dieter Steland: Antipoetische Poesie. Der Poet B. C. wird in Deutschland entdeckt

– Gespräch mit René Hilsum: Es begann in einer Buchhandlung… Der Autor und sein Verleger

– Philippe Soupault: Blaise Cendrars. Die Erinnerung eines Kollegen

– F.-J. Temple: Blaise, für die Zukunft beschworen. Eine prägende Begegnung

– Claude Leroy: Sieben Fragmente zum Septett der Légers bei Cendrars. B. C. und die Maler

– Gérald Froidevaux: Faszination der Verwirrung. Die Schwierigkeit, B. C. zu lesen

– Yvette Bozon-Scalzitti: Schwarzweiss. Schreiben gegen das Irrewerden

– Jean-Carlo Flückiger: Musik ist eine Himmelsmacht. Der Text „L’Eubage“ und sein Hintergrund

– Peter Burri: Seine Bühne war der Schreibtisch. B. C. auf der Bühne (I)

– Jean-Claude Blanc: Vom Theater der Welt zur Welt des Theaters. B. C. auf der Bühne (II)

– Hugo Loetscher: Cendrars im brasilianischen „Utopialândia“. B. C. in Übersee (I)

– Monique Chefdor: Postmoderne Perspektiven. B.C. in Übersee (II)

– Hughes Richard: Eine Jugend aus dem Koffer. Der Nachlass kommt zum Vorschein

– Miriam Cendrars im Gespräch mit Peter Burri: „Ich bin eine Bewunderin seines Werkes“. Die Tochter macht sich an die Arbeit

– Blaise Cendrars: Der Roman, den ich nie schreiben werde. Was B.C. zu alledem meinte

Blaise Cendrars: Daten
Blaise Cendrars: Adressen
Quellen
Bildnachweise
Die Autorinnen und Autoren

 

 

Viertes Gespräch

Michel Manoll: Blaise Cendrars, ich möchte Ihnen gleich zu Beginn eine Frage stellen, auf die Sie mir wahrscheinlich nicht antworten werden. Trotzdem, ich versuch’s…

Blaise Cendrars: Mein lieber Michel Manoll, heute bin ich besonders guter Laune. Nur los, Sie können alles fragen, was Sie wollen. Und wissen Sie, warum ich guter Laune bin? Weil ich am Flugbusbahnhof, am Gare des Invalides, auf einen Freund gewartet habe. Und weil der Freund nicht kam, bin ich zwei Stunden dort geblieben und habe zwei Stunden lang Menschen aus allen Erdteilen ankommen und wieder in alle Richtungen abreisen sehen, derweil mein lieber kleiner Wagon-Lit neben mir döste! Also habe ich ihn mit einem Tritt in den Hintern geweckt und habe zu ihm gesagt: „Hör mal, Alter, wenn du schon einmal Gelegenheit hast, deinen Geruchssinn einzusetzen, lauf herum und schnüffle und präge dir die vielen verschiedenartigen Gerüche der Welt ein!“

Manoll: Gerüche spielen eine grosse Rolle in Ihrem Werk. Das Mittelmeer zum Beispiel…

Cendrars: Das hängt ganz davon ab; es kann zum Beispiel gut nach Wäscheschränken duften; es war Rouveret, Freund Rouveret, mein Illustrator, der das behauptete, und er fügte hinzu: „Solche Dinge gravieren sich im Mund eines Seemannes ein, weil sie ihn gänzlich durchdringen!“ Er war ein alter Matrose, Rouveret. Doch es stimmt. Doch das Mittelmeer kann ebenso nach Marmelade riechen. In der Strasse von Messina…

Manoll: Was bedeutet für Sie der Geruch in den Flugbusbahnhöfen?

Cendrars: Ich kann es nicht genau sagen, weil es vorhin etwas allzusehr nach Benzin und den Abgasen der Autobusse stank, doch mein Hund, der Glückspilz, der an den Beinen der aus- und einsteigenden Menschen herumschnüffeln konnte, hat bestimmt etwas gerochen, ein Bukett… das Bukett der Welt. Die Passagiere des Fluges aus Brazzaville oder aus Nairobi bringen zweifellos einen anderen Geruch mit als die aus der Schweiz oder aus England. Ich werde in Zukunft öfter zum Air-France-Busbahnhof gehen, ja mich sogar bis nach Orly und Le Bourget wagen, um Menschen aus aller Welt abfliegen zu sehen. Bis wann die erste Reise zum Mond?

Manoll: Hätten Sie Lust auf eine grosse Reise?

Cendrars: Nein, ich brenne nicht unbedingt darauf, aber ich werde bestimmt wieder eine grosse Reise unternehmen…

Manoll: Sind Sie bloss auf der Durchreise?

Cendrars: Ich hatte vor, erst in ein paar Jahren wieder auf Reisen zu gehen.

Manoll: In den Indischen Ozean?

Cendrars: Zu meinem siebzigsten Geburtstag. Ich hätte bei Cook gebucht; ich hätte einen schönen Elefanten reservieren lassen, einen sehr friedlichen und sehr artigen; ich hätte die Wunder Indiens besucht, die Tempel und Benares… wie ein alter Gentleman, der im Rollstuhl von einer hübschen diplomierten Krankenschwester mit straffem Busen und strenger Tracht spazierengeführt wird, und die mich nicht aus den Augen gelassen hätte, damit dem alten Herrn, den man ihrer Obhut anvertraut hat, nichts zustösst; und eines Tages hätte ich ihr einen Streich gespielt und wäre verschwunden und hätte mich, als Pilger verkleidet, unter die einheimische Bevölkerung gemischt. He goes native! hätte meine patentierte Krankenschwester anstelle eines Gebetes gesagt.

Manoll: Ihr Reisefieber, Ihr unstillbares Reisefieber ist etwas absolut Unheilbares.

Cendrars: Ich glaube, es ist unheilbar.

Manoll: Sie haben es wohl von Ihren Vorfahren geerbt, alles Menschen, die es in die weite Welt zog, von Ihren sieben Onkeln, von denen Sie in Ihrem Gedicht Le Panama erzählen.

Cendrars: Vielleicht, aber ich habe noch andere Vorfahren, Menschen, die nicht durch die Welt gezogen sind, Vorfahren, von denen niemand spricht und die einfache Bauern waren.

Manoll: Wie? Sie haben noch andere Vorfahren?

Cendrars: Aber natürlich, und zwar eine ganze Menge. In einem kleinen Schweizer Dorf, aus dem meine Familie stammt, und das ich voriges Jahr zum erstenmal besucht habe, um dort zu heiraten; es war Raymone, die die Idee gehabt hat, mit mir zusammen meine Heimat zu besuchen. Ich habe bei der Gelegenheit in den Archiven forschen lassen und habe Ahnen im 15., im 16. Jahrhundert gefunden; auf dem ältesten erhaltenen Dokument der Gemeinde, welches das Datum des 30. Juli 1347 trägt, ist tatsächlich mein Name aufgeführt. Alles brave Leute, Bauern, Winzer, Gemeinderäte, Richter, Notare, Lehrer, Gerichtsschreiber, die ihr Bergdorf im Berner Oberland nie verlassen haben, eine der bestverwalteten Gegenden der Welt, wo jeder – abgesehen von den offiziellen und offiziösen Ämtern, die ihm übertragen werden – vor allem Bauer, Hirte, Käser ist und es sein ganzes Leben bleibt. Der erste meiner Vorfahren, der auswanderte – 1765, und zwar wegen der Phylloxera, die die Weinberge zerstörte –, liess sich in der französischen Schweiz nieder, in Bôle, einem kleinen Winzerdorf im Kanton Neuchâtel. Ich muss wohl eines Tages hingehen, um in Erfahrung zu bringen, wer jener Mann war; mein Vater hat mir nie von ihm erzählt. Ich sagte dem Berner Bürgermeister, der mich in der Chronik und in den alten Standesregistern meiner Heimatgemeinde blättern liess und mir half, die oft uneinheitliche und eigenwillige Schreibweise der Eigennamen zu entziffern: „Ordnung ist eine löbliche Sache. Doch, sagen Sie, gibt es unter all diesen Leuten, von denen ich abstamme, keinen, keinen einzigen, der krumme Wege ging, im Gefängnis sass oder am Pranger endete? Ich wüsste dann wenigstens, nach wem ich geraten bin.“
„Nein“, antwortete der Bürgermeister, „ausser vielleicht unseren berühmtesten Gerichtsschreiber, der von seinen Zeitgenossen Talleyrand genannt wurde, weil er von Napoleon bis 1851, seinem Todesjahr, sämtlichen Regimen treu gedient hatte; er war ein lebenslustiger Kerl, ein Saufbold, ein Fresssack, ein Dickwanst, der mit seiner Frau im Zank lebte, die ihrerseits soff; er sass sogar eine Woche wegen Amtspflichtverletzung im Gefängnis. Von diesem einzigen Vergehen abgesehen, haben wir ihm nichts vorzuwerfen und zitieren ihn immer als Vorbild. Schauen Sie sich doch seine Register an, wie sauber sie geführt sind… und seine Orthographie… und seine Kalligraphie! Besser kann man’s gar nicht machen. Er bewahrte seinen Papierkram in einer alten Trommel auf, die er den Herren von Bern bei einem Scharmützel abgenommen hatte. Er war ein richtiger Haudegen.“

Manoll: Haben Sie auf Ihren Reisen die Spur Ihrer sieben Onkel gefunden?

Cendrars: Ja-ja-ja-ja. Aber ich wusste ja mehr oder weniger, wo ich sie finden konnte. Sie sind die Brüder meiner Mutter.

Manoll: Sie haben vom siebten erzählt, weil er Ihnen glich. Und die anderen?

Cendrars: Die anderen? Ich trug sie seit meiner Kindheit im Herzen, und wenn Mama einen Brief von ihren Brüdern erhielt – einen jener Briefe, die ich in meinem Gedicht beschreibe –, war ich ganz aufgeregt.

Ich spielte unterm Tisch
Ich sezierte die Fliegen
Meine Mutter erzählte mir die Abenteuer ihrer sieben Brüder
Meiner sieben Onkel
Und wenn sie einen Brief bekam
Fabelhaft!
Die schönen exotischen Briefmarken mit einem Vers von Rimbaud als Inschrift
Sie erzählte mir nichts an solchen Tagen
Und traurig sass ich unter meinem Tisch

Einmal hat ein Notar der Familie mir liebenswürdigerweise Einsicht in ein oder zwei Akten gewährt, die den einen oder anderen meiner Onkel betrafen. Hätte ich früher von diesen Dokumenten gewusst, wäre Le Panama nicht ein dünnes Bändchen geworden, sondern ein dicker Roman. Jeder meiner Onkel hat ein aussergewöhnliches Schicksal gehabt.

Manoll: Unter welchen Umständen und nach wie langer Inkubation haben Sie Panama geschrieben? Liegen immer zehn lange Jahre zwischen Ihrem erlebten Abenteuer und dem Moment des Niederschreibens?

Cendrars: Eine sehr lange Inkubation, während der ein unbewusster Entwicklungsprozess stattfindet. Im allgemeinen beginnt die Arbeit mit dem Titel. Ich suche zuerst den Titel. Ich finde im allgemeinen ziemlich gute Titel, um die man mich sogar beneidet. Man beneidet mich nicht nur darum: Eine ganze Menge Schriftsteller, ja sogar Ausländer suchen mich auf, um mich um einen Titel zu bitten. Ich könnte Namen nennen… „Hör, alter Freund“, drucksen sie herum, „ich habe eben dieses oder jenes oder sonst etwas fertig geschrieben, einen Roman, und ich finde keinen Titel, ein Theaterstück, und ich finde keinen Titel, gib mir doch einen.“ Ich denke jedesmal: Das ist doch nicht möglich. Und finde einen Titel für sie. Wenn ich also meinen Titel habe, beginne ich, meine Gedanken schweifen zu lassen. Die Dinge setzen sich. Um den Titel herum bildet sich eine bewusste, unbewusste Kristallisation; ich schreibe jedoch nichts Handfestes, solange ich nicht alle meine Gestalten vom Tag ihrer Geburt an bis zum Tag ihres Todes kenne und ich sie, je nach ihrem Charakter und ihren Verhältnissen fiktiv oder real sich in allen möglichen und vorstellbaren Situationen entfalten lassen kann. Das kann Jahre dauern. Ich mache mir Notizen. Auf diese Weise fülle ich ganze Ordner mit Notizen und Skizzen. Mit Imaginärem, nicht mit Dokumentarischem. Das Dokumentarische hemmt mich. Nehmen wir zum Beispiel General Johann August Suter [sic!], eine historische Gestalt. Ich habe L’Or geschrieben, ohne in den amerikanischen Archiven zu forschen, deshalb habe ich meiner Geschichte den Untertitel La Merveilleuse histoire du Général Johann August Suter gegeben. Wäre ich in die Washingtoner Archive getaucht, die jede Menge sehr aufschlussreicher Dokumente enthalten, hätte ich ein weniger synthetisches Buch geschrieben, ein wesentlich historischeres, in dem es wimmelt von pittoresken Anekdoten, die für die damalige Zeit typisch waren. In einer der jüngsten Ausgaben von L’Or habe ich ein kurzes Kapitel hinzugefügt, weil die erste Fassung weder eine Frauen- noch eine Liebesgeschichte enthielt – ich hatte im Hinblick auf die Verfilmung meines Buches in Amerika bewusst darauf verzichtet, weil die Filmgesellschaften, mit denen ich bereits in Verhandlungen stand, Experten und Spezialisten beschäftigen, die es verstehen, harmlose Spässchen, lustige Einlagen oder dramatische Situationen richtig zu dosieren und in den Film einfügen –, ich habe also ein kurzes Kapitel hinzugefügt, das ich in einer alten Ausgabe von Tour du monde, année 1862 gefunden hatte, in der die Namen von Goldsucherinnen zitiert werden, von Frauen, die dort drüben lebten, Französinnen, die zur Goldmine von Sacramento hinaufstiegen, die sich wie Männer aufführten, sich mit den Mannsbildern prügelten und verbissen ihre Tugend verteidigten: die eine Jeanne d’Arc genannt, weil sie eines Nachts Mexikaner mit Revolverschüssen umgelegt hatte, eine andere Nini-Pantalon, weil sie sich nichts gefallen liess und die Kerle knockout boxte, eine dritte Marie-couche-toi-là, die Pfeife rauchte und einen sehr ergiebigen placer abbaute, sie war die grimmigste von allen und terrorisierte die Camps der Abenteurer, sie fürchtete sich vor niemanden, daher ihr Spottname. Doch wo wäre ich gelandet, wenn ich allen Dokumenten Rechnung getragen hätte? Übrigens verleitete mich ein mir vorliegendes Originaldokument zu einem monumentalen geographischen Fehler, einem unverzeihlichen Fehler, weil ich die Umgebung von Sacramento bestens kenne, schliesslich war ich dort auf Bärenjagd. Stellen Sie sich vor, ich würde die Bateaux Mouches am Place du Tertre am Montmartre vorbeiführen. Ein starkes Stück, oder? Also, warum ist mir dieser berühmte Schnitzer unterlaufen, auf den die amerikanische Literaturkritik natürlich hingewiesen hat und den ich seither korrigiert habe? Dieser monumentale Fehler ist mir genau deswegen unterlaufen, weil ich ein zeitgenössisches Dokument vorliegen hatte, einen Originalbrief aus der Feder des alten Martin Birmann, des einzigen Baslers, der den Briefwechsel mit Suter aufrechterhalten hatte, des Vormunds von Suters Kindern und später sein Testamentsvollstrecker. In jenem Brief beging der brave Mann den besagten topographischen Fehler; aber ich war so glücklich, das kostbare Dokument, einen rührenden, in seiner Art einmaligen Brief, wiederzugeben, dass ich den monumentalen geographischen Fehler übersah. Ein Fehler, der mir übrigens zehn oder fünfzehn Jahre später von grossem Nutzen sein würde, als nämlich die Deutschen einen Film nach meinem Buch drehten, ohne meine Ermächtigung einzuholen und ohne Rechte zu bezahlen. Da ich mit einem Prozess und einer Schadenersatzforderung von fünf Millionen drohte, berief sich Luis Trenker – er gilt zu Recht oder zu Unrecht als Autor der nicht authentischen Erinnerungen Eva Brauns, Hitlers Frau –, Luis Trenker, der Regisseur des deutschen Films, der in Paris unter dem Titel L’Empereur de Californie lief, berief sich also auf die historische Tatsache des Goldrauschs. „General Suter gehört nicht Ihnen“, argumentierte er, „die Geschichte Kaliforniens gehört nicht Ihnen, wir haben von Ihrem Buch keinerlei Kenntnis gehabt.“ Worauf ich antwortete: „Wenn Sie keine Kenntnis von meinem Buch gehabt haben, wie kommt es dann, dass Sie den gleichen Fehler begehen wie ich? Erklären Sie es mir doch bitte. Sie begehen den gleichen geographischen und topographischen Fehler, den ich in einer späteren Ausgabe berichtigt habe; Sie aber verkaufen an den Kinokassen eine ältere, unberichtigte Ausgabe meines Buches L’Or. Was ich durch einen Gerichtsvollzieher habe bestätigen und beurkunden lassen.“ Damit machte ich ihn mundtot. Aber der Prozess fand nie statt, verständlich in Anbetracht des Einmarsches der Deutschen in Paris, der Besetzung und des Eifers, den die Boches an den Tag legten und sich um jeden Preis um meine Angelegenheiten kümmern wollten. Schliesslich stellten Sie mich als Juden kalt, was die Höhe war! Und ich wurde auf die Liste „Otto“ gesetzt.

Manoll: Wenn schon die Rede von geographischen Fehlern ist: Sie haben auf einen von Victor Hugo in einem seiner Gedichte begangenen geographischen Fehler hingewiesen…

Cendrars: … den mir ein brasilianischer Freund nach einem guten Mittagessen schallend lachend zitierte. Er wischte sich den Mund ab und rezitierte mit Emphase Victor Hugos Gedicht über Pernambuco, in dem der grosse Romantiker Pernambuco und seine blauen Berge besingt, wo es sich doch in Wirklichkeit um eine eher flache Gegend handelt und sich weit und breit am Horizont kein Berg erhebt.

Manoll: Sie haben im übrigen eine andere Etymologie Pernambucos entdeckt…

Cendrars: Eine indianische, ja, in einem Tupi-Wörterbuch; und eine zweite, die mir das Schauspiel eines verzweifelt vor den Haien fliehenden Ziegenbocks unentgeltlich lieferte: prendre ses pattes à son cou.

Manoll: Ich wollte gleich darauf zu reden kommen. Sie haben offenbar einen Ziegenbock mit aufs Schiff genommen, um ihn den Haien vorzuwerfen. Was eindeutig im Widerspruch zu dem steht, was Sie mir einmal bezüglich der Tigerjagd gesagt haben: „Sie glauben doch nicht, dass ich ein herrliches Tier, das wie ein artiges Hündchen in meiner Schusslinie auf seinem Hintern sitzt und sich die Flöhe hinter dem Ohr kratzt, in einen Bettvorleger verwandle? Ich bin doch nicht wegen eines Bettvorlegers, den man sich in einem Basar besorgen kann, so weit gereist…“ Trotzdem haben Sie den Haien einen Ziegenbock zum Frass vorgeworfen.

Cendrars: Ich wollte sehen, wie die Haie sich anstellen und ob sie sich wirklich wegen ihres Unterkiefermauls auf den Rücken kehren und Bauch nach oben fressen müssen. Und weil das Schiff bereits unter Dampf stand und mein Ziegenbock verzweifelt versuchte, schwimmend ans Ufer zu gelangen, konnte ich den Festschmaus der Haie nicht beobachten – wenn der Festschmaus überhaupt stattgefunden hat. Haie habe ich allerdings anderswo in aller Ruhe und ganz aus der Nähe betrachten können: in Uruguay, am Ausfluss der Abwasserkanäle der Bovril Co, der berühmten Gefrierfleischmarke. Es wimmelte nur so von Haien. Sie planschen dort zu Tausenden in den blutigen Wässern, die, mit Abfällen und Eingeweiden vermischt, Tag und Nacht aus den Schlachthäusern fliessen. Es waren Monster mit drei Zahnreihen – in jedem Kiefer des whale shark genannten Hais stecken sechstausend Zähne! –, und wir gingen jeden Morgen mit der Tochter des Schlachthausbesitzers, einer Anglo-Uruguayerin, dem schönsten Typus Südamerikanerin, mit langen Bambusstangen den Pilotfisch kitzeln, den die Haie am linken Maulwinkel haben, und wenn wir es schafften, einen zu vertreiben, wusste der riesige belemmerte Hai nicht weiter, weil sein Pilot weg war, er war ganz verloren und ratlos und wusste nicht, was tun – ein zu Tränen rührendes Tier; man hätte den lieben armen Kerl umarmen können, ihn betätscheln und aus dem Wasser ziehen, wäre das Monster nicht so schwer gewesen. Es war zum Sichkugeln vor Lachen. Mensch, was haben wir uns amüsiert mit der feurigen jungen Dame.

Manoll: Sie haben sich auch mit der Krokodiljagd versucht. Allerdings weniger erfolgreich, oder?

Cendrars: Wissen Sie, ich bin von Natur aus kein Jäger; ich habe ein Grauen davor.

Manoll: Soviel ich weiss, handelte es sich um ein schreckliches, gefährliches Krokodil?

Cendrars: Ich interessiere mich sehr für das Leben der Tiere. Ich habe Filme gedreht, Dokumentarfilme über die Tiere. Wenn mir daher von einem gefährlichen, schrecklichen Krokodil berichtet wird wie jenem, auf das Sie anspielen, bin ich jederzeit sofort bereit, es mir anzuschauen. Es war am Ufer eines märchenhaften Sees in einer der schönsten Gegenden Brasiliens. Es soll sich um einen gewaltigen Brillenkaiman gehandelt haben, sowohl was seine Grösse als auch sein Alter anging. Ich habe ihn allerdings nicht gesehen…

Manoll: Und trotzdem sind Sie nur knapp mit heiler Haut davongekommen…

Cendrars: Übertreiben wir nicht! Ich hatte mein Gewehr dabei. Ich sprang in ein kleines Boot, das am Ufer festgebunden war. Der Kahn war bis obenauf voller Wasser, auf dem eine alte Seifendose schwamm. Ich nahm die Dose, um sie als Wasserschöpfer zu benützen. O Schreck! In der Dose wimmelte es von Bienen, von Tausenden Bienen, die sich wütend auf mich stürzten. Man hatte mich immer wieder vor den Stichen dieser Bienen gewarnt, die kaum grösser sind als Mücken und die überall eindringen, in die Nasenlöcher, in den Hals, in die Ohren. Man hatte mir gesagt: „Wenn Sie von wilden Bienen angegriffen werden, müssen Sie es machen wie die Esel, Sie legen sich hin und stellen sich tot.“ Ich stürzte mich kopfüber ins Wasser und glaubte, so den Bienen zu entkommen. Als ich Grund unter mir spürte, kam mir das Kroko in den Sinn, also kletterte ich schleunigst ans Ufer, spielte den Esel, legte mich ins Gras und stellte mich tot. Nach ein paar Minuten liessen die Bienen von mir ab. Die Stiche der wilden Bienen sollen tödlich sein. Die Eingeborenen betrachteten mich aus sicherer Entfernung und hielten sich den Bauch vor Lachen. Man hat sich wahrscheinlich noch lange an mich erinnert, mit meiner nutzlosen Flinte und der traurigen Figur, die ich abgegeben habe.

Manoll: Wie interpretieren Sie die Prophezeiung jener Zigeunerin – es handelte sich nicht um ein Horoskop, die Ihnen gesagt hat, ein Gefängnis sei Ihnen bestimmt, ein freiwilliges Gefängnis?

Cendrars: In einem geistigen Sinn. Ich habe mein freiwilliges Gefängnis erst kürzlich verlassen, um nach Paris zurückzukehren. Handelt es sich in Wirklichkeit um das Gefängnis des Schreibens? Ich weiss nicht. Es ist jedenfalls ein geistiges Gefängnis. Im übrigen, alle Dichter, die zu einem gegebenen Zeitpunkt ihres Lebens von den Strahlen eines ganz besonderen Sterns getroffen werden, des Sterns der Melancholie auf Dürers berühmtem Kupferstich, verfallen der Kontemplation; einer Kontemplation, die sich in abgrundtiefe tödliche Verzweiflung verwandeln kann, die zum Suizid oder zu Wahnsinn führt, wie dies bei Gérard de Nerval der Fall war; oder auch zu seltsamen Krankheiten, denen die Ärzte ratlos gegenüberstehen. Die Kontemplation kann aber auch zu grosser Erfüllung führen, was mir widerfahren ist, glaube ich. Ich möchte es dabei bewenden lassen, denn man sollte nicht über diese Dinge reden, toi, toi, toi. Ich bin sehr abergläubisch.

Manoll: Sie? Sie sind abergläubisch, Cendrars?

Cendrars: Mein Lieber, ob man will oder nicht: Von einer Urwaldexpedition kehrt jeder abergläubisch zurück. Was die geistigen Kräfte angeht, sind die Indianer aussergewöhnliche Menschen. Sie lesen in deinem Hirn. Unnötig, ihnen einen Bären aufbinden zu wollen oder ihnen Märchen zu erzählen. Sie durchbohren einen. Das Scheitern so vieler Expeditionen, die versucht haben, bis zu den geheimnisvollen, sagenumwobenen Städten im tiefsten Innern Amazoniens oder des Mato Grosso vorzudringen, schreibe ich einerseits der bornierten Mentalität der Forscher zu – ich erinnere an das traurige Schicksal des glücklosen Fawcett –, und andrerseits der… wie soll ich es ausdrücken… der ganz besonderen Fähigkeit der Indianer… ihrer Gabe des Zweiten Gesichts.

Manoll: Das erinnert mich an etwas sehr Geheimnisvolles, von dem Sie in einem Ihrer Bücher berichten. Ich weiss nicht, ob man Ihre seltsame Geschichte für bare Münze nehmen soll. Sie erzählen von einer magischen Pflanze, die man ibadou nennt.

Cendrars: Ja, die Pflanze der Levitation. Ich glaube, ich bin der einzige Weisse, der je ein Zweiglein davon gepflückt hat. Ja, eigenhändig.

Manoll: Und Sie haben sie probiert, um die Wirkung zu testen?

Cendrars: Man kaut sie, wie eine Prise Kautabak. Nein, ich habe sie nicht probiert, mein Abscheu vor Drogen ist zu gross. In China habe ich nie Opium geraucht, nicht einmal eine einfache Pfeife, nicht einmal aus Neugierde.

Manoll: Sie erzählen, es gebe bellende und pfeifende Pflanzen.

Cendrars: In den Tropen haben solche Erscheinungen nichts Erstaunliches an sich. An der Côte d’Azur zum Beispiel wächst die Mimose, die auch eine Sinnpflanze ist, eine Pflanze also, die sich zusammenzieht, wenn man sie berührt. Die bellende Pflanze ist eine Orchidee mit grossen Blüten; die Indianer züchten sie auf einem Stück morschem Ast und hängen sie über dem Eingang ihrer Hütten auf. Wenn man sich zu einer bestimmten Tageszeit nähert, braucht sich bloss der Schatten auf die in der Sonne entfaltete Blüte zu legen… und sie schliesst sich wie unsere Wunderblume, sie zieht sich mit einem Geräusch zusammen, das vom Kastagnettenklappern bis zum Hundebellen oder einem Flüstern, einem Seufzer reicht.

Manoll: Wie haben die Indianer diese geheimnisvollen Pflanzen entdeckt, und wie haben sie die besonderen Wirkungen herausgefunden?

Cendrars: Und ich frage Sie, Manoll, wie ist ein griechischer Hirte auf den Gedanken gekommen, eine Artischocke abzuzupfen, um den unter stachligen Schuppenblättern versteckten Boden zu probieren? Und wie ist in unseren Breitengraden ein Bauer dazu gekommen, Spargel in der Ackerkrume zu pflanzen, um die fleischige Stange mit der zarten Zirbelknospe zu züchten? In allen Ländern der Welt und zu allen Zeiten hat die menschliche Gattung es verstanden, ihren Erfindergeist auf die Vegetation zu richten, um sowohl Nahrung als auch Gifte daraus zu gewinnen; eine breite Flora, die es nur zu ernten galt, von der Alraunwurzel bis zum Peyote und der Chinarinde, von den fiebersenkenden Mitteln bis zu den stärkehaltigen Pflanzen.Und wer war der Mensch, der das erste Getreide gezogen hat? Man weiss es nicht. Es gibt Millionen und Abermillionen von Gräserarten, doch bis heute hat noch kein Botaniker unter den vielen Wildgräsern das Muttergras identifizieren können, dem wir das Getreide verdanken.
Und jetzt, mein Freund, was für eine Frage wollten Sie mir gleich am Anfang dieses Gesprächs stellen? Haben Sie sie vergessen?

Manoll: Keineswegs. Also, Cendrars: Wenn Sie beteuern: „Ich liebe das Leben“ – und Ihr Werk ist nichts anderes als der bildhafte Ausdruck dieser triumphierenden Freude –, schliessen Sie damit aus, was eine bestimmte Literaturgattung für sich als das Erbteil des Schöpfergeistes beansprucht?

Cendrars: Ich glaube, es gibt eine Art von punktueller Monomanie, die gewisse Menschen zur Erforschung sogenannter „unbekannter“ Domänen treibt.

Manoll: Baudelaires Drang, in die Tiefe des Unbekannten zu dringen, um Neues zu entdecken, bedeutet das für Sie nicht – umgekehrt –, in die Tiefe des Bekannten und Alltäglichen zu dringen, um Neues zu entdecken?

Cendrars: Aber gesteht Baudelaire nicht auch: „Als ich noch Kind war, spürte ich in meinem Herzen zwei gegensätzliche Gefühle: das Grauen des Lebens und die Ekstase des Lebens“? Das Unbekannte, das Neue… Für den, der das geistige Leben entdeckt, ist alles neu. Man kann ein erstes Mal geboren werden, man kann, ein zweites Mal, wiedergeboren werden, man kann ein zehntes Mal im gleichen Haus wiedergeboren werden, in einem immer gleichen Haus, wo man hinter jeder Ecke Neues entdeckt. Der Schriftsteller, der wie ich wiederholt und immer wieder zu sich selbst zurückkehre, steigt nie die gleiche Treppe hinauf, steigt nie in den gleichen Keller hinunter, besteigt nie den gleichen Turm; er entdeckt ständig immer wieder Neues. Alles hängt vom Klima ab, von der Tageszeit, vom Moment, von der Laune, der Inspiration, der Heiligung, der Ermüdung, der Erschöpfung.

Ô saisons, ô châteaux!
O Zeiten, Schlösser ihr!

Ich möchte Rimbauds Aufschrei mit dem der heiligen Theresia von Ávila in ihrem Buch El castillo interior vergleichen, in dem sie von der Rückkehr der Seele schreibt und von ihrer Ernüchterung in der Siebten Wohnung, über ihre Erstarrung nach dem Charisma der Levitation oder der Verzückung: „Es wundert mich wirklich, dass alle Verzückungen ein Ende nehmen, wenn die Seele zu dieser Stufe gelangt ist (dieses Aufhören der Verzückungen ist nur von dem Sichverlieren der Sinne zu verstehen). Kommen sie zuweilen auch noch vor, so sind es doch nicht jene Entrückungen und Geistesflüge (wovon früher die Rede war). Diese finden hier nur sehr selten und fast nie mehr öffentlich statt, wie es ehedem ganz gewöhnlich der Fall war.“ Ich zitiere aus dem Gedächtnis. Dem möchte ich gern Noche oscura del alma gegenüberstellen, den schönen geistigen Lobgesang von Johannes vom Kreuz. Doch ich kenne nur den spanischen Text…

Manoll: Sie haben oft und immer wieder Schopenhauers Aphorismus „Die Welt ist meine Vorstellung“ zitiert, was in keinem Widerspruch – ganz im Gegenteil, oder? – zu jenem anderen, ernüchterten Satz steht, den wir ebenfalls in vielen Ihrer Bücher finden: „Schreiben bedeutet vielleicht aufgeben.“

Cendrars: Schreiben bedeutet nicht wirklich leben. Schreiben ist schlicht nicht das Leben. Zu sagen, es sei geistiges Leben, macht noch kein geistiges Leben aus. Das geistige Leben ist die Betrachtung. Schreiben ist für uns Schriftsteller – und je länger, je mehr – ein Broterwerb, leider! Und weder der spassigste noch der einträglichste, noch der raffinierteste; es gibt viel amüsantere Hochstapeleien! Es ist also ein Laster oder eine schlechte Gewohnheit, deshalb widert mich das Schreiben in neun von zehn Fällen an. Ich bin im übrigen nicht der einzige Schriftsteller, der das sagt. Madame Colette soll sich ebenfalls darüber beklagen, sie sei gezwungen, pausenlos zu schreiben, und müsse sich sehr anstrengen, um gut zu schreiben.

Manoll: Das haben Sie oft behauptet. Doch wenn man die Anzahl Ihrer veröffentlichten Werke betrachtet, stellt man immerhin fest, dass es sich um eine beträchtliche Anzahl Bücher handelt.

Cendrars: Es sind an die vierzig, fünfzig, ich weiss nicht genau, die aber eher das Resultat meiner Trägheit als meines Arbeitseifers sind. Ich bin nie ein distinguierter Herr gewesen, der in seinem Stübchen so und so viele Stunden täglich schreibt wie ein Beamter. Ich habe es in den vergangenen paar Jahren versucht, um die während der Besetzung verlorene Zeit nachzuholen. Und was ist passiert? Nach dem dritten, dem vierten, dem fünften Buch – ich glaube, es sind fünf – hatte ich die Nase voll; ich wollte nur noch eins: aufhören.

Manoll: Viele Ihrer Bücher sind „wahre Geschichten“, die drei zuletzt erschienenen, L’Homme foudroyé, Bourlinguer, Le Lotissement du ciel

Cendrars: Le Lotissement du ciel, Bourlinguer, L’Homme foudroyé, La Main coupée, es sind vier…

Manoll: … sind…

Cendrars: Ich finde, das reicht. Um so mehr, als man allen Ernstes glaubt, ich hätte eine Schreibtechnik gefunden und würde sie bis zu meinem Tod anwenden. Die Verleger selbst bitten mich, um Himmels willen ja nichts zu ändern; doch mich ödet’s an. Ich habe jetzt das Bedürfnis, etwas anderes zu machen.

Manoll: Lieber Blaise Cendrars, jetzt müssen wir wohl oder übel zu Ihrer Lebensgeschichte übergehen.

Cendrars: Wozu? Ich sehe die Notwendigkeit nicht. Ich habe doch schon alles erzählt, was es zu erzählen gab, und ich bin noch nicht fertig, ich habe andere Bücher in Vorbereitung.

Manoll: Ja, natürlich, Sie kündigen die Titel an. Warum 33?

Cendrars: Die Liste der 33 Bücher, die ich seit über dreissig Jahren ankündige, ist weder exklusiv noch limitativ, noch prohibitiv, die Ziffer 33 ist die Schlüsselzahl der Aktivität, des Lebens. Es handelt sich also nicht um eine schwarze Liste. Auch wenn sie einen Index enthält, bedeutet das nicht, dass ich sie auf den Index gesetzt habe. Die Titel der Romane, die ich nie schreiben werde, sind im übrigen nicht darin enthalten. Vor ein paar Tagen habe ich zu meinem Erstaunen darauf La Main coupée entdeckt, ein Buch, das ich erst 1948 veröffentlicht habe und das seit 1919 auf der Liste stand. Ich hatte es total vergessen! Es sind zudem Romane aufgeführt, die ich kürzlich wieder in Arbeit genommen habe und die in den nächsten Jahren erscheinen werden. Immer noch aufgeführt sind die zehn Bände von Notre pain quotidien, die zwar geschrieben sind, die ich aber im Laufe meiner vielen Reisen in den Tresoren südamerikanischer Banken deponiert habe und die man, so Gott will, eines Tages per Zufall entdecken wird. Die Manuskripte sind nicht gezeichnet und sind unter einem falschen Namen hinterlegt. Auf der Liste sind überdies eine ganze Menge Gedichte, die mir teurer sind als mein Augapfel, aber ich kann mich nicht entschliessen, sie zu veröffentlichen, nicht etwa aus Scheu oder aus Hochmut, sondern aus Liebe. Dann sind da noch die Bücher, die schon fertig geschrieben waren und zur Veröffentlichung bereit und die ich zum grossen Entsetzen meiner Verleger verbrannt habe. La Vie et la mort du Soldat Inconnu in fünf Bänden zum Beispiel. Und schliesslich die Missgeburten, die Windeier und Kümmerlinge, die ich wahrscheinlich nie schreiben werde. Um welche handelt es sich? Wie sie bezeichnen? Ich weiche aber nicht etwa entsetzt zurück, wenn ich mich über dieses innere Gewimmel beuge, nein, ich schöpfe daraus Kräfte für neue und immer wieder neue Werke. 33 ist die Schlüsselzahl der Schöpfung, des Lebens. Ein Atommeiler. Nennen wir ihn provisorisch und im voraus auf die Resultate hoffend – wie beim anderen der Fall – den Meiler Zoé: Zoé 33.

Manoll: Trotzdem: Sie sind ein fabelhafter Arbeiter!

Cendrars: Nein, ich bin ein fabelhafter Träumer. Ich sehe mir alle Grillen nach, selbst die des Schreibens.

Manoll: Es bleiben uns noch ein paar Minuten. Möchten Sie nicht eines Ihrer Gedichte am Mikrofon lesen, den Anfang der Transsibirischen vielleicht?

Cendrars: Verlangen Sie das nie von mir, Manoll! Ich habe einen Horror vordem Rezitieren von Versen. Die von anderen, das mag zur Not noch gehen, aber meine…!

Manoll: Ich bin sicher, dass Sie unseren Hörern eine riesige Freude machen…

Cendrars: Bestehen Sie nicht darauf! Lächerlich…

Manoll: Aber…

Cendrars: Lesen Sie doch den Anfang? Sie haben eine schöne Stimme. Und beeilen Sie sich, Sie haben noch zwei Minuten, glaub’ ich. Es reicht gerade…

(Michel Manoll liest)

Damals wuchs ich heran
War kaum sechzehn und hatte schon die Erinnerung an meine Kindheit verloren
Ich war 16.000 Meilen vom Ort meiner Geburt entfernt
War in Moskau, in der Stadt der tausendunddrei Kirchtürme und der sieben Bahnhöfe
Und sie waren mir nicht genug, die sieben Bahnhöfe und die tausendunddrei Türme
Denn meine Jugend war damals so leidenschaftlich und so verrückt
Dass mein Herz abwechselnd brannte wie der Tempel von Ephesus oder der Rote Platz von Moskau
Wenn die Sonne untergeht
Und meine Augen leuchteten alte Wege aus
Und ich war schon damals ein schlechter Dichter
Der es nicht schaffte, aufs Ganze zu gehen.

Der Kreml glich einer gewaltigen Tatarentorte
Goldüberkrustet
Mit den grossen Mandeln der schneeweissen Kathedralen
Und dem honigsüssen Gold der Glocken…
Ein alter Mönch las mir die Legende von Nowgorod
Ich hatte Durst
Und ich entzifferte Keilschrift
Dann flogen plötzlich die Tauben des Heiligen Geistes über den Platz davon –
Und auch meine Hände flogen davon, rauschend wie Albatrosse
Und dies waren die letzten Bilder des letzten Tages
Der allerletzten Reise
Und des Meeres.

Dennoch war ich ein sehr schlechter Dichter
Der es nicht schaffte, aufs Ganze zu gehen
Ich hatte Hunger
Und all die Tage und all die Frauen in den Cafés und all die Gläser
Ich hatte sie am liebsten ausgetrunken und zerbrochen
Und all die Schaufenster und all die Strassen
Und all die Häuser und all die Leben
Und die Räder all der Droschken, die im Wirbel über das schlechte Pflaster rollten
Ich hätte sie am liebsten in den Schmelzofen einer Waffenschmiede getaucht
Hätte am liebsten all die Knochen zermalmt
Und all die Zungen herausgerissen
Und eingeschmolzen all die stattlichen Leiber, fremd und nackt unter den Kleidern, die mich verwirrten, mich betörten…
Ich ahnte sie voraus, die Ankunft des grossen roten Christus der russischen Revolution…
Und die Sonne war eine hässliche Wunde
Die aufbrach wie Feuersglut.

Aus Blaise Cendrars: Am Mikrofon. Gespräche mit Michel Manoll, Lenos Verlag, 1999

 

Hans-Jürgen Heinrichs: Die Signatur des Feuers

Forian Vetsch: Pionier Rückwärts auf dem Zeitstrahl

Jay: Blaise Cendrars

Jan Volker Röhnert: Das Fahrrad von Blaise Cendrars

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Archiv

 

Zum 100. Geburtstag von Blaise Cendrars:

Hugo Dittberner: Die Lokomotive des Schreibens
Frankfurter Rundschau, 1.10.1986

Fakten und Vermutungen zu Blaise Cendrars + Instagram + Archiv +
Internet Archive

 

Blaise Cendrars (1887–1961). Dokumentarfilm aus dem Jahr 1999 in der Reihe Un siècle d’écrivains.

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