– Zu Gottfried Benns Gedicht „Jena“ aus Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. –
GOTTFRIED BENN
Jena
„Jena vor uns im lieblichen Tale“
schrieb meine Mutter von einer Tour
auf einer Karte vom Ufer der Saale,
sie war in Kösen im Sommer zur Kur;
nun längst vergessen, erloschen die Ahne,
selbst ihre Handschrift, Graphologie,
Jahre des Werdens, Jahre der Wahne,
nur diese Worte vergesse ich nie.
Es war kein berühmtes Bild, keine Klasse,
für lieblich sah man wenig blühn,
schlechtes Papier, keine holzfreie Masse,
auch waren die Berge nicht rebengrün,
doch kam man vom Lande, von kleinen Hütten,
so waren die Täler wohl lieblich und schön,
man brauchte nicht Farbdruck, man brauchte nicht Bütten,
man glaubte, auch andere würden es sehn.
Es war wohl ein Wort von hoher Warte,
ein Ausruf hatte die Hand geführt,
sie bat den Kellner um eine Karte,
so hatte die Landschaft sie berührt,
und doch – wie oben – erlosch die Ahne
und das gilt allen und auch für den,
die – Jahre des Werdens, Jahre der Wahne –
heute die Stadt im Tale sehn.
Kunst als moderne metaphysische Instanz. Steigerung, Entgrenzung, rauschhaftes Erleben des Schönen, reine Kunst. Das klingt mindestens uncool: nach sperriger Spätzeit, nicht nach moralisierender Innovativästhetik. Gottfried Benn ist in seiner lyrischen Radikalität immer inkommensurabel, und niemand muss diese einsamen Gedichte lesen. Ein Kausalitätsverweigerer, ein tiefpessimistischer Stilist dichtet an gegen die Zerstörung des Geistes durch den Materialismus, durch die Geschichte. Zunächst als sezierender Expressionist, am Ende als universaler Nihilist, immer als ein Eigenwilliger. 1955, ein Jahr vor seinem Tod, immer wieder Opposition gegen das politpoetische Decorum des Massenzeitalters:
Das Wesen der Dichtung ist unendliche Zurückhaltung, zertrümmernd ihr Kern, aber schmal ihre Peripherie, sie berührt nicht viel, das aber glühend. Alle Dinge wenden sich um, alle Begriffe und Kategorien verändern ihren Charakter in dem Augenblick, wo sie unter Kunst betrachtet werden […]. Das Wesen der Dichtung ist Vollendung und Faszination.
„Jena“ erscheint im Herbst 1926 in der Zeitschrift Der Querschnitt. Im November fragt Gottfried Benn seine Freundin Gertrud Zenzes:
Lasen Sie im Oktober-Querschnitt meine 2 miesen Poeme?
Gemeint sind „Annonce“ – und „Jena“. Benn kokettiert mit seiner Melancholie und seinem halluzinativen Egoismus, aber der 40-jährige Dr. med. befindet sich tatsächlich in einer Krise, beschreibt seine Konstitution als „körperlich u. seelisch äußerst apathisch u. abgekämpft, von geradezu krankhafter Menschen-, Unterhaltungs- u. Eindrucksflucht“. Die Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin zehrt ihn auf und wirft wenig ab. Benn, den das Feuilleton Mitte der 20er unter den „fünf größten Lyrikern Europas“ sieht, den Klaus Mann zu den „stärksten Sprachschöpfern Deutschlands“ zählt, ist existentiell wie intellektuell indisponiert:
Ich schreibe nichts mehr, gar nichts. Seit Monaten nichts. Wozu auch?
Die Chronologie seiner Werke weist für 1926 bloß vier Gedichte aus.
Und doch ist „Jena“ mehr als ein schwacher Übergang. Nach dem expressiven Kahlschlag der Morgue (1912) findet der Verächter der Empirie seinen lyrischen „Fanatismus zur Transzendenz“. Die Poesie rettet einen solitären Standpunkt, der historisch sinnhaft ist, tiefe Erfahrung und letzte Erinnerung birgt. Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein gerechtfertigt: Frühe Romantik, Nietzsche… – Jena. Gottfried Benn zeigt sich selbst in seinen „miesen“ Poemen als Dichter höchsten Ranges.
Peter D. Krause, aus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018
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