– Zu Alfred Lichtensteins Gedicht „Der Morgen“ aus Alfred Lichtenstein: Dichtungen. –
ALFRED LICHTENSTEIN
Der Morgen
… Und alle Straßen liegen glatt und glänzend da.
Nur selten hastet über sie ein fester Mann.
Ein fesches Mädchen haut sich heftig mit Papa.
Ein Bäcker sieht sich mal den schönen Himmel an.
Die tote Sonne hängt an Häusern, breit und dick.
Vier fette Weiber quietschen spitz vor einer Bar.
Ein Droschkenkutscher fällt und bricht sich das Genick.
Und alles ist langweilig hell, gesund und klar.
Ein Herr mit weisen Augen schwebt verrückt, voll Nacht,
Ein siecher Gott… in diesem Bild, das er vergaß,
Vielleicht nicht merkte – Murmelt manches. Stirbt. Und lacht.
Träumt von Gehirnschlag, Paralyse, Knochenfraß.
Er sah aus wie ein Berliner Marlon Brando, liebte es, Gedichte in der Rolle eines buckligen Poeten namens Kuno Kohn zu verfassen, und im Gedicht „Der Morgen“ tut er so, als schreibe er wie seine Zeit- und Altersgenossen. Alfred Lichtenstein war aber ein zynisch lyrischer Verwandlungskünstler, mit einem Faible für Parodie, Tingeltangel und Eschatologie: je vorsichtiger man ihn liest, desto besser.
Lichtenstein arbeitete gerne mit metrischen Auftakten; sein merkwürdiges „Und“ betont die (trügerische) Alltäglichkeit, in der die einzelnen Menschenfiguren, oder Marionetten, ihr Leben in einer einzigen Bewegung und in einem einzigen Verbum erschöpfen. Ich las also, so glaubte ich zunächst, eines jener kalten und komischen Gedichte, die in den letzten Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges das grotesk Wuchernde in den Dschungeln der Städte entdeckten und es zu frühexpressionistischer Gleichzeitigkeit zusammenzupressen suchten.
In Berlin geschah vieles auf einmal, aber das Gedicht mußte sich doch mit einer Reihe von aufeinanderfolgenden Sätzen zufriedengeben. „Selten“, nach der ermüdenden Nacht, „ein fesches Mädchen“, zu spät nach Hause gekommen, im Ohrfeigen-Familienzwist (im Manuskript: Mama), und die „Weiber“, die (noch immer) vor der mondänen Bar „quietschen“. „Vier“ müssen es sein, um des langen lautmalenden Vokales willen, der noch einmal gekürzt in „spitz“ widerhallt; und der Droschkenkutscher, der sich zu Tode stürzt, entstammt dem Personal eines berühmten Gedichtes des Poeten van Hoddis (seine Dachdecker fallen von den Firsten), reine Parodie, die konkurrieren will.
Johannes R. Becher, ein Kollege Lichtensteins, klagte später darüber, daß die jungen Leute, zu denen er damals selber zählte, Großstadt-Gedichte nach einer einzigen Formel schrieben – grotesk und simultan. Die Frage ist nicht unberechtigt, ob Lichtenstein die Formel akzeptierte oder, wie sooft in seinen Gedichten, als Sprungbrett erprobte. Auffällig jedenfalls, daß sich die letzten Verse der ersten und zweiten Strophe mehr oder minder gegen die Richtung des Gedichtes stellen und die dritte Strophe die Alltäglichkeit des Morgens chaotisch, wenn nicht geradezu apokalyptisch, verneint.
Ein Bäcker erhofft sich, nach einer Nacht an den Öfen, Tröstliches vom Himmel (bei Lichtenstein immer eine dumme Hoffnung) und starrt in eine „tote Sonne“; und eine löbliche Leserschaft, die bereit wäre, am Schicksal der Frauen und des Droschkenkutschers Anteil zu nehmen, wird kühl darüber belehrt, das alles sei „langweilig hell, gesund, und klar“.
Metrisch und syntaktisch gehen Gedanken und Bilder der letzten Strophe unlösbar durcheinander, und es ist besser, einer produktiven Verwirrung anheimzufallen, als die Montage von Bericht und Vision pedantisch zu vereinfachen. Ludwig Meidner, der Lichtenstein kannte, hätte diese Strophe (diese Kata-Strophe) malen sollen; das Schlingern der Agonie, in welcher ein „siecher Gott“ quer durch die Häuserwände und nicht mehr auf den „glänzenden“ Straßen hinschwebt – dem Ende so nahe, daß er die Szenerie der Stadt nicht mehr merkt oder gar „vergaß“.
Was für ein Morgen! „Ein Herr mit weisen Augen“, „verrückt“, sterbend, aufrührerisch „lachend“ und noch immer „voll Nacht“. Undeutlich, ob sein Traum von „Gehirnschlag, Paralyse, Knochenfraß“ nicht, in einem entsetzlichen Umschlag, den Weltaußenraum der Menschen konstituiert und verschlingt. Deshalb also im Gedichttitel der und nicht „ein“ Morgen; es ist der letzte, und ihm werden keine anderen mehr folgen. Alfred Lichtenstein, Sohn eines jüdischen Textilkaufmanns, fiel als Soldat eines bayrischen Regiments an der Westfront im September 1914, ungefähr drei bis vier Jahre, nachdem er dieses Gedicht geschrieben hatte.
Peter Demenz, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtzehnter Band, Insel Verlag, 1995
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